Rezension: Ferdinand von Schirach „Schuld“ WDR5, Scala, 9.8.2010

Ferdinand von Schirach: „Schuld“, Piper, 2010, 17,95 Euro, ISBN 978-3-492-054225

Buchbesprechung

Sprecher: Die Kleinstadt feierte ihr sechshundertjähriges  Bestehen, es roch nach gebrannten Mandeln und Zuckerwatte, und der Bratdunst von fettigem Fleisch setzte sich in den Haaren fest.

Autorin: Harmloser geht es kaum noch. Die Musiker der Blaskapelle

Sprecher: waren ordentliche Männer mit ordentlichen Berufen: Versicherungsvertreter, Autohausbesitzer, Handwerker. Fast alle waren verheiratet, sie hatten Kinder, bezahlten ihre Steuern und Kredite und sahen abends die Tagesschau.

Autorin: Wie gesagt, harmloser geht es kaum noch. Doch dann passieren gleich mehrere Dinge auf einmal: Einer der Blasmusiker winkt der 17jährigen Kellnerin.  Das Mädchen versteht, sie bringt ein Tablett mit Biergläsern hinter den Vorhang der Bühne. Dorthin, wo all diese lustig aussehenden Männer warten, mit ihren Perücken und den weißgeschminkten Gesichtern. Wäre sie nicht ausgerutscht, wäre möglicherweise alles gut gegangen.

Sprecher: Aber das Bier ergoss sich über sie. Das T-Shirt wurde durchsichtig, sie trug keinen BH. Weil es ihr peinlich war, lachte sie, und dann sah sie die Männer an, die plötzlich stumm wurden und sie anstarrten. Der Erste streckte die Hand nach ihr aus, und alles begann.

Autorin: Mit dieser zunächst unverfänglich daherkommenden  Geschichte beginnt der Berliner Strafverteidiger Ferdinand von Schirach seinen zweiten Erzählband. Wieder geht es ihm um die Frage, was ist eigentlich Schuld und kann Justiz sie überhaupt zufriedenstellend definieren. „Die meisten Menschen“, sagte er kürzlich in einem Interview, „die meisten Menschen können sich nicht vorstellen, dass sie einmal in die Gefahr kommen, eine Straftat zu begehen, obwohl das manchmal rasend schnell geht. Sie glauben, so etwas geschieht nur anderen.“

Genau um diesen schmalen Grad zwischen Normalität und Straftat dreht sich alles in seinen zugespitzt gezeichneten Lebenswegen. Stichwortartige Kurzeinblenden in Alltagsszenerien, die so harmlos beginnen, wie der Kirmesabend mit der Blaskapelle –  und die Gott-weiß-wo enden. Zumindest irgendwann bei von Schirach, dem Berliner Prominenten-Anwalt, der sich mit seinen beiden Büchern  nun endgültig einreiht in die Tradition der Pitaval-Erzähler. Somit der Autoren, die Justizalltag und Strafrechtsfälle zur Grundlage ihrer spannenden Kriminalgeschichten machen.

Schon immer hat das Abwägen zwischen Gut und Böse Edelfedern fasziniert.  Egon-Erwin Kisch hat den Prager Gerichtsalltag mit ein wenig Fantasie angereichert.  Paul Felix Schlesinger, genannt Sling, Moabiter Streitfälle der Weimarer Zeit festgehalten. Peggy Parnass erlauschte das Leben der Angeklagten nach den 68ern. Vieles hiervon war weitaus mehr als nur schlichte Gerichtsreportage. So wie „Verbrechen“ und „Schuld“ von Ferdinand von Schirach sprachlich durchaus an Georges Simenon heranreichen. Dem Schriftsteller, der wie kein anderer mit nur wenigen Worten das Leben der Gestrauchelten plastisch skizzierte. Eine Fähigkeit, die Ferdinand von Schirach virtuos beherrscht.

Sprecher: Als Henry sechs Jahre alt war, wurde er eingeschult und die Dinge begannen schiefzulaufen.

Autorin: Beginnt von Schirach verheißungsvoll einer seiner Erzählungen in „Schuld“, die damit endet, dass ein Kümmerling und Außenseiter beinahe erhängt wird und eine Frau stirbt. Alles so ganz nebenbei, dabei so spannungsvoll und dynamisch, so zwangsläufig auf das dramatische Ende hinsteuernd, dass der Leser einfach nicht loslassen kann.

Sprecher: Die Dinge hätten gut gehen können. Aber dann war die Sache in der Hotelsauna passiert und hatte alles verändert.

Autorin. Einen Cliffhänger nennt man derartig vielversprechend daherkommende Andeutungen. Durch die angekündigt wird, passt auf ihr Leser, da kommt noch Unerwartetes! Auf Cliffhänger versteht sich Ferdinand von Schirach, wie kaum ein Anderer. Sie schleichen sich in all seine Erzählungen, in denen Menschen versuchen, irgendwie durchs Leben zu kommen. Was eine zeit lang auch gut geht, doch dann passiert irgendetwas, und schon springt das schwerfällige Räderwerk der Justiz an. Wie zunächst im Falle der Bläser, die die Kellnerin fast umbringen. Und die dennoch nicht als Täter identifiziert werden können.

Sprecher: Die Männer wurden entlassen. Sie gingen durch einen Hinterausgang, sie gingen zurück zu ihren Frauen und Kindern und ihrem Leben. Nur die Kapelle wurde aufgelöst. Ein Prozess fand nie statt.

Autorin: Das genau ist das Faszinierende an seinen so lakonisch daher geplauderten Geschichten. Hier geht es nicht um Gerechtigkeit. Das kapiert der Leser bald. Hier geht es darum, dass vor Gericht Recht gesprochen wird, mehr nicht, so unrecht das manchmal auch sein mag. Und Ferdinand von Schirach zeichnet dies auf, dokumentiert dies in bewährter Pitaval-Tradition. Mit wenigen aber umso eindringlicheren Sätzen. Bewegend, faszinierend, erschütternd.