Das Dilemma vergewaltigter Frauen, SWR2, 25 Minuten

Ein Essay über das Dilemma vergewaltigter Frauen, gelesen von Claudia Mischke, Redaktion Nadja Odeh.

Essay zum Thema Vergewaltigung für SWR2, Redaktion Leben

Von Ingrid Müller-Münch

 

 

Viele Jahre meines Lebens habe ich mich für  unverletzlich gehalten. Habe geglaubt, mir tue schon  keiner was. Mich würde niemals ein Mann vergewaltigen. Denn ich sei, so meine Illusion, einfach nicht der Opfer-Typ:  Ich trage keine hochhackigen Stöckelschuhe. Gebärde mich nie wie eine hilflose  Kindfrau. Gehe im Dunkeln hörbar festen Schrittes nach Hause, in schlecht beleuchteten Straßen mitten auf dem Fahrweg. Spreche laut und deutlich. Würde mich nicht scheuen, notfalls kräftig los zu schreien. Und zuschlagen würde ich auch, wenn es denn drauf ankäme. Mithilfe meines Schlüsselbundes, den ich griffbereit des nachts  in der Hand halte.

Nein, was sollte mir schon groß passieren!

 

Dieses Gefühl,  einem  Aggressor stand halten zu können, brach in sich zusammen, als ich vor Jahren mit zunehmender Fassungslosigkeit im Nachrichtenmagazin „Spiegel“ die Geschichte einer Kollegin las. Offenbar eine Frau, die genauso wie ich davon ausgegangen war, ihr würde kein Mann jemals etwas tun. Die Kollegin hatte in einem bewegenden Essay beschrieben, wie  sie in ihrer Parterrewohnung bei offenem Fenster eingeschlafen und  dadurch wach geworden war, dass neben ihr im Bett ein fremder Mann lag.  Ihr Selbstbild zerbrach in der Nacht, in der sie der fremde Mann in ihrem Bett verletzte, demütigte und ihr Gewalt antat. Mit einem Schlag war sie nichts weiter als ein missbrauchtes, hilfloses Opfer.

 

Ihr Erfahrungsbericht über jene Nacht und das mühselige Zusammenflicken  ihrer zerbrochenen Identität in der Zeit danach, hat mich tief erschüttert. Und mir klar gemacht, dass wir Beide, diese Frau und ich, mit unserer Selbsteinschätzung einem sogenannten Vergewaltigungsmythos aufgesessen waren. Dem Mythos – oder wie ich es lieber bezeichnen würde – dem Vorurteil, wonach eine Vergewaltigung nach einem bestimmten Muster abzulaufen habe. Und dass so Frauen wie sie oder ich davor gefeit seien.

 

Vergewaltigungsmythen  spuken in unser aller Köpfen herum und waren das Hauptthema auf dem Kongress des Bundesverbandes der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe, der Anfang September im Roten Rathaus in Berlin stattfand. Einen Tag lang moderierte ich diese Veranstaltung zum Thema: „Streitsache Sexualdelikte / Frauen in der Gerechtigkeitsfalle“.  Eigentlich war diese  Tagung mehr als Insider-Treffen der Fachberaterinnen, als Gedankenaustausch zwischen Fachkräften aus Politik, Polizei, Justiz, Anwaltschaft, Forschung und Gleichstellungsstellen gedacht darüber, warum seit einigen Jahren immer weniger Frauen bereit sind, ihre Vergewaltiger anzuzeigen.  Warum in den 80er Jahren 20 % der vor Gericht stehenden mutmaßlichen Täter verurteilt wurden, inzwischen nur noch 13 %. Und das, obwohl sich die Gesetzeslage durchaus zugunsten der Opfer gewandelt hat. 1997 war unter heftigem Protest aus Bevölkerung und Politik der  § 177 des Strafgesetzbuches erweitert worden und stellt seitdem nicht nur Vergewaltigung an sich, sondern auch Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe. Der Täter hat in einem besonders schweren Fall mit mindestens zwei Jahren, höchstens 15 Jahren Haft zu rechnen.

 

Die  Suche nach Gründen und Lösungen für den Rückgang von Anzeigebereitschaft  und Täterverurteilungen beschäftigt die Beratungsstellen seit langem schon. Doch die Forschung hält sich hier zurück. Bundesweit, so monierten die Veranstalterinnen, richten  kaum noch Wissenschaftler ihr Augenmerk auf sexuelle Gewalt gegen erwachsene Frauen. Deshalb hätten sie  zunächst ihre liebe Not gehabt, die Referentenliste für ihren Kongress zusammenzustellen.  Doch dann schob sich in die Vorbereitungen die sogenannte Kachelmann-Affäre – und plötzlich stand die Tagung im Fokus der Medien, Fernsehteams meldeten sich an, Interviewanfragen häuften sich.

Die Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe nahmen dies mit gemischten Gefühlen wahr. Einerseits waren sie froh, dass ihr Anliegen in der Presse plötzlich auf Interesse stieß. Andererseits hatte die Vorberichterstattung zu dem am 6. September in Mannheim begonnenen Strafverfahren gegen den Wettermoderator Jörg Kachelmann dazu geführt, dass sie es mehr und mehr mit verunsicherten Frauen zu tun bekamen. Vergewaltigungsopfer, die entrüstet aus der Presse intime Details über das Opfer erfuhren und mitbekamen, wie seriöse Medien die Frau als Lügnerin abstempelten. Und das alles schon vor der eigentlichen Hauptverhandlung. „Es wird Jahre dauern, bis Frauen hier wieder Vertrauen in die Justiz fassen. Uns steht eine endlos lange Überzeugungsarbeit bevor“, gestand mir eine der Veranstalterinnen.

 

Aber auch ohne die Affäre „Kachelmann“  gäbe es genug Gründe für Vergewaltigungsopfer, einen Prozess gegen den Täter zu scheuen. Das machte der Berliner Kongress allzu deutlich. Vor allem die sogenannten Vergewaltigungsmythen scheinen in den Köpfen der Juristen bei der Urteilsfindung eine entscheidende Rolle zu spielen. Von ihnen wird  beeinflusst,  wem Richter und Ankläger  vor Gericht eher glauben, wen sie eher verurteilen. Dies ergaben  Forschungsergebnisse der Potsdamer Wissenschaftlerin und Psychologin Barbara Krahé. Nach  Auswertung von Ermittlungsakten und Interviews mit Ermittlern kommt sie zu dem Ergebnis: Fälle, die dem Stereotyp der „echten“ Vergewaltigung entsprechen, kommen eher zur Anklage, eher zur Verurteilung des Täters. Eine sogenannte „echte“ Vergewaltigung sieht demnach so aus: ein fremder Mann springt  nachts im Freien aus dem Gebüsch und vergewaltigt unter Einsatz von Gewalt bei heftiger Gegenwehr seines Opfers eine ihm fremde Frau. Die geht dann sofort zur Polizei, wo Tatspuren und Verletzungen dokumentiert werden.  

 

Eine solche Klischeevorstellung entspricht zwar dem Vergewaltigungsmythos – nicht aber der Wirklichkeit. Nach einer Untersuchung des Bundesfamilienministeriums kennen lediglich 15 % der Opfer ihre Peiniger nicht. Etwa siebzig Prozent der vergewaltigten Frauen erleiden ihr Martyrium in der eigenen Wohnung oder einer vertrauten Umgebung durch eine ihnen bekannte Person. Eine Art von Vergewaltigung, die somit eher den Impuls hervorruft: Das ist doch halb so wild! Die beiden hatten doch vorher schon Sex! Eine zugegenermaßen plumpe Denkweise, doch laut Barbara Krahés Studie offenbar äußerst weit verbreitet.

 

Dabei ist für eine Frau, die zum Beispiel von ihrem Ex-Partner, einem Verwandten  oder ihrem Lebensgefährten vergewaltigt wird, das Geschehene  psychisch viel belastender, als wenn es der Sittenstrolch hinter dem Busch tut, behauptet jedenfalls der Kriminologe Christian Pfeiffer.  Seine Forschungen ergaben, dass Frauen bei einer Vergewaltigung durch einen  Fremden zwar auch massiv leiden, aber psychisch damit besser fertig werden, als wenn es der Mensch getan hat, dem sie sich anvertraut haben. Und der sie plötzlich so massiv enttäuscht. Nach einem Gewaltakt durch eine Person des Vertrauens läuft das Opfer mit Schuldgefühlen herum, fragt sich verzweifelt, was habe ich falsch gemacht, dass er so böse geworden ist. Die Folgen der innerfamiliären Vergewaltigung, so der Kriminologe, sind drastischer, länger andauernd, viel schlimmer, als die, die ohnehin schon schwer genug sind, dann nämlich, wenn  ein  fremder Mensch im Park die Frau sexuell missbraucht.

 

Hinzu kommt noch, dass auch im Kopf des Opfers der Vergewaltigungsmythos die nun folgenden Schritte bremst. Denn die von einer ihr vertrauten Person missbrauchte Frau weiß nicht so recht, ob sie Anzeige erstatten soll. Wird man ihr überhaupt glauben? Wird man sie nicht auslachen und sagen, Mädchen, Du kennst ihn doch, lebst schon so lange mit ihm. Da sind ihm einfach mal die Pferde durchgegangen! Daraus musst Du doch nicht gleich so ein Theater machen!

 

Wie gesagt, eine sich offenbar hartnäckig haltende  Variante aus der Klischeeschublade des sogenannten Vergewaltigungsmythos.

 

 

Weil Frauen diese Reaktion befürchten, werden Vergewaltigungen, die im häuslichen Bereich stattfinden, eher selten angezeigt. Und nicht wenige derjenigen, die dann doch einen Prozess durchgestanden haben, sagen den Fachberaterinnen anschließend, dass sie sich auf so etwas nie mehr einlassen würden. Hätten sie vorher gewusst, was da auf sie zukommt, sie hätten niemals Anzeige erstattet.

 

Eine Position, die  kürzlich auch von Hansjürgen Karge vertreten wurde. Der ehemalige Berliner Generalstaatsanwalt hatte am 1. August 2010 in der ARD-Talkrunde bei Anne Will gesagt, er würde seiner Tochter, wenn er denn eine hätte, nach einer Vergewaltigung davon abraten, zur Polizei zu gehen. In einem späteren Interview begründete er seine Haltung mit den Worten: „Weil es eine Tortur ist.“ Er erläuterte dies damit, dass die mutmaßlichen Opfer in Vernehmungen und der Hauptverhandlung nochmal in die Mangel genommen würden. Erklärte, dass Gutachter und Gerichte sie nicht schonen könnten. Immerhin stünde für den Angeklagten zuviel auf dem Spiel. Die  Sexualpraktiken des Opfers würden öffentlich breit getreten. Und allein das Gefühl, dass man ihnen nicht glaube, überfordere Kräfte und Nerven vieler Frauen. Vor allem wenn sie  den absichtlich unverschämten Fragen eines Verteidigers nicht gewachsen seien, führe das nicht selten zum Freispruch der Täter. „Es ist ernüchternd, sicher“, war Karges Fazit. „Manchmal muss man sich aber auch eingestehen, dass der Staat nicht alles lösen kann.“

 

Ich kann die Haltung des ehemaligen Berliner Generalstaatsanwalts Hansjürgen Karge sehr gut nachvollziehen.  Wie oft habe ich  als Journalistin  Hauptverhandlungen mit erleben müssen,  die für das Opfer demütigend abliefen und sie in den Augen von Prozessbeobachtern fast als Angeklagte erscheinen ließen. Tatsächlich muss sich eine vergewaltigte Frau im Prozess gegen ihren mutmaßlichen Vergewaltiger  Fragen gefallen lassen, die ihre Intimsphäre tief verletzen. So  wie die danach, ob sie eigentlich feucht geworden sei, bei der angeblichen Vergewaltigung. Wie weit denn der Mann bei dem Gewaltakt mit seinem Penis in ihre Vagina eingedrungen sei? Und ob sie mit ihrem jetzigen Freund nach der angeblich erlittenen Vergewaltigung eigentlich wieder guten Sex habe und wenn ja, dann könne die Sache ja doch nicht so folgenschwer gewesen sein.

 

Da ich über zwei Jahrzehnte lang vor allem für die „Frankfurter Rundschau“ über Prozesse berichtet habe, stieß ich natürlich immer wieder auch auf Vergewaltigungsverfahren. Der erste Prozess dieser Art, den ich beobachtete,  fand  1984 statt. Ein Ehepaar hatte die 19jährige Silvia H. monatelang in ein Kellerverlies gesperrt, sie vergewaltigt, gefoltert. Im Prozess ließ die Verteidigung  nichts unversucht, die junge Frau als Flittchen darzustellen, das womöglich noch Spaß an der Einkerkerung und der Gewalt gehabt habe. Damals schrieb ich in einer Reportage für die FR: „Seit mehreren Verhandlungstagen schon hat die Verteidigung  so gut wie jeden geladen, der irgendwann einmal mit Silvia H.  in Berührung kam. Ob es die ehemalige Wirtin einer Duisburger Kneipe ist, die das junge Mädchen nie gesehen hat, oder der Türvorsteher einer Diskothek, in der sich die junge Frau gerne amüsierte, ob es Freundinnen sind, ein Schulrektor, Sozialarbeiter, ehemalige Kollegen oder eine Bekannte ihrer Mutter. Dabei fixiert sich die Verteidigung manisch darauf zu erfragen, wann und wie, vor allem in welcher Stellung Silvia sich vor ihrer Gefangenschaft dem Liebesspiel hingab.“  Wohlgemerkt: Silvia H. war das Opfer! Die Verteidiger stellten Fragen danach, ob sie mal einen Mann mit dem Mund befriedigt habe und erkundigten sich Freunden und Bekannten, wie die junge Frau denn so zu Analverkehr stehe. Damals nannte ich dieses Verfahren eine justizielle Peepshow.

 

Wie gesagt, das ist lange her, das Beispiel ist sicher extrem. Außerdem hat sich seitdem vieles getan. Der Opferschutz wurde erweitert. Vergewaltigte Frauen haben als Nebenklägerin und Opferzeugin das Recht auf einen Anwalt an ihrer Seite. Ich ging davon aus, dass sich so etwas nicht wiederholen würde. Doch dann wurde ich vor einigen Jahren auf einen Prozess aufmerksam, der in ganz ähnlicher Weise diskriminierend  für das Opfer ablief. 

 

Eine Frau war von ihrem ehemaligen Freund vergewaltigt worden. Eine Freundin war überraschend dazu gekommen.  Die Ausgangslage war somit außergewöhnlich gut. Denn meistens steht in einem Vergewaltigungs-Prozess Aussage gegen Aussage.  Diesmal gab es  eine Zeugin. Doch dann folgte für das Opfer ein sechsjähriger justizieller Spießrutenlauf.  In erster Instanz wurde der damals noch geständige Täter zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Er legte Berufung ein. In  zweiter Instanz  wollte er von seinem Geständnis nichts mehr wissen. Sein Anwalt in erster Instanz, Reinhard Birkenstock, nun als Zeuge vors Landgericht geladen, meinte lapidar, das Geständnis sei doch seinerzeit ein rein taktischer Schachzug gewesen. Übrigens der gleiche Anwalt, der nun Jörg Kachelmann vertritt.

 

Die Verteidiger  zogen alle Register, das Opfer unglaubwürdig erscheinen zu lassen. Ohne dass der Richter einschritt. Auf die Frau prasselten Fragen ein wie die: „Wann hatten sie ihren ersten Freund? Haben sie mit diesem Freund intime Beziehungen gehabt? Wie lange dauerte die Beziehung zum Vater ihrer Tochter? Warum wurden sie als Kind von der Mutter grün und blau geschlagen? Weshalb trauten sie sich nicht, ihre Mutter beim Jugendamt anzuzeigen?“ Lauter Fragen, die zur Tataufklärung überhaupt nichts beitrugen. Die allerdings das Opfer zeitweilig fast zusammenbrechen ließen. 

 

Sechs Jahre lang beschäftigte sich die Justiz mit diesem Fall. Sechs Jahre, in denen die Frau immer wieder stunden-, ja tagelang  Rede und Antwort stehen musste. Vor der Polizei, vor Gericht, vor Gutachtern.  Zu guter Letzt hob der Bundesgerichtshof eine Verurteilung des Täters zu zwei Jahren Haft auf Bewährung wegen eines Verfahrensfehlers auf. Die vergewaltigte Frau weigerte sich, in einem erneuten Prozess das alles noch einmal über sich ergehen zu lassen. Der schon zweimal verurteilte Täter kam somit ungeschoren davon.

 

Wie kommt es, dass so etwas noch immer möglich ist?

 

Der erfahrene Bonner Strafkammervorsitzende Richter Klaus Haller gab auf dem Berliner Kongress verblüffende Antworten: So fehlt es seiner Erfahrung nach den Kollegen und Kolleginnen häufig an der nötigen Kenntnis der Strafprozessordnung. Sie können somit nicht virtuos genug auf der Klaviatur der Gesetzgebung spielen und wissen demnach oft nicht,  ab wann sie einem  Verteidiger das Wort verbieten und somit die Frau schützen können. Richter Haller kennt sich da aus, er bietet im Namen des nordrhein-westfälischen Justizministeriums ebensolche Fortbildungsveranstaltungen an. Der Zuspruch hält sich zu seinem Bedauern sehr in Grenzen. Auszubaden haben dies die Vergewaltigungsopfer, die oft durch rabiate Verteidiger regelrecht angegriffen und verletzt werden, ohne dass sich Richter trauen, einzugreifen .  

 

Doch ein Gerichtssaal ist nun mal keine Therapieveranstaltung. Verteidiger dürfen nichts unversucht lassen, ihren Mandanten frei zu bekommen. Das ist, so sieht es der inzwischen durch seine schriftstellerische Arbeit bekannt gewordene Berliner Strafverteidiger Ferdinand von Schirach, nunmal Aufgabe des Verteidigers. Die definiert er so: „Als Anwalt stehe ich auf der Seite meines Mandanten. Ich vertrete seine Interessen. Ich bin nicht objektiv. Ich versuche Zweifel zu wecken. Ich hinterfrage die Beweise der Staatsanwaltschaft. Ich versuche Lücken in den Gutachten zu finden. Ich versuche Zeugen der Lüge zu überführen.“

 

Da muss gehobelt werden, scheinen viele Verteidiger zu denken, und wo gehobelt wird, fallen Späne. In diesem Fall auf die Seele der als Nebenklägerin und Zeugin vor Gericht auftretenden Opfer. Eine Spezialität dieser Verteidiger in Vergewaltigungsverfahren ist es, den Opfern zu unterstellen, sie hätten ihre Anzeige lediglich aus Rache erstattet. Was laut einer Studie der „European Commission“   nur ganz selten der Fall ist. Unter  Federführung von Wissenschaftlerinnen  der London Metropolitan University kommt sie  zu dem Ergebnis:  In Deutschland liegt der Anteil falscher Beschuldigungen bei nur 3 % der angezeigten Vergewaltigungsfälle, in anderen europäischen Ländern variiert er zwischen 1 und 9%.  

 

Doch Frauen in Hauptverhandlungen werden immer noch mit diesem Vorurteil konfrontiert. Und müssen erleben, dass das enge Korsett eines Strafprozesses und eine schwer traumatisierte vergewaltigte Frau noch immer nicht zusammen passen. Entsprechend ernüchternd ist auch die Verurteilungsquote: Auf  8.000 in Deutschland jährlich angezeigten Vergewaltigungen folgen nur 1.300 Anklagen, nur 1.000 Verurteilungen.   

 

Ein Richter hat dem Kriminologen Christian Pfeiffer mal geschildert, was Frauen eigentlich  so erleben, wenn sie die ihnen angetane Gewalt öffentlich machen. Nicht selten kam es vor,  dass die Lebenspartner sich von ihnen abwandten. Frauen erzählten, dass ihre Männer sie plötzlich so behandelten, als ob sie beschmutzt worden wären. Eltern oder Freunde warfen dem Opfer vor, warum hast du denn so einen  Minirock angezogen? Warum hast du dich nicht heftiger zur Wehr gesetzt? Opfer hatten das Gefühl, es werde mit dem ausgestreckten Finger auf sie gezeigt.

 

Pfeiffer kann deshalb  Frauen verstehen, die nicht vor Gericht ziehen wollen.  Zweimal schon hat er vergewaltigten Frauen  zur Selbsthilfe geraten. Einmal   Mitte der 90-iger Jahre, als er an einem christlich konservativen College der USA als  Gastprofessor lehrte. Eines Tages kam eine Studentin auf ihn zu und sagte, ihre beste Freundin sei gestern Nacht auf dem Heimweg von einer Party von zwei Mitstudenten vergewaltigt worden. Pfeiffer sprach daraufhin mit dem Opfer. Veranlasste alles Nötige, um die Vergewaltigungsfolgen an der jungen Frau zu dokumentieren. Die weigerte sich, Anzeige zu erstatten. Sie begründete dies damit, dass, wenn diese Vergewaltigung herauskäme, sie in den  Augen der Mitstudenten ein „secondhand-car“ wäre, nicht mehr als unberührt, als Jungfrau gelte. Und das war damals in dieser konservativen Umgebung ein Zustand, dem sie sich auf keinen Fall aussetzen wollte.

 

 

Nun konnte Pfeiffer die beiden Täter ja nicht einfach ungeschoren davon kommen lassen. Er sprach also auch mit ihnen, sagte,  ihr beide habt – und das ist bewiesen, es sind alle Tatfolgen festgehalten – gestern Abend eure Mitstudentin vergewaltigt. Es gibt nur noch eine Chance, wie ihr euch retten könnt vor einer Anzeige: Sofort das Universitätsgelände zu verlassen und das Auto, in dem die Vergewaltigung passiert ist, zu verkaufen. Der Erlös geht an das nächste Frauenhaus. Und ihr müsst euch beide einem Gutachter stellen, denn es muss geklärt werden, ob man hier Dauervergewaltigern die Freiheit ermöglicht. Beide packten noch am selben Tag ihre Sachen, gingen  zu einem Psychiater, verkauften das Auto. Und das Mädchen war tief befriedigt darüber, dass die Sache so gut ausgegangen ist.

 

 

Später dann, zurück in Deutschland, schilderte  dem Kriminologen erneut eine  junge Frau, sie sei vergewaltigt worden. Auch sie wollte keine Anzeige erstatten, hatte ihre Gründe dafür.  Mit ihr  beratschlagte Pfeiffer, was denn stattdessen getan werden könne.  Nach dem Gespräch nahm sie ihren ganzen Mut, ihre ganze Wut zusammen, suchte das nagelneue Superauto des Vergewaltigers und sprayte auf den Lack: „Dieses Auto gehört einem Vergewaltiger“. Seine Haustür hat sie mit den Worten besprüht:  „Hier wohnt ein Vergewaltiger“. 

 

Doch kann Selbstjustiz wirklich die Konsequenz daraus sein, dass Prozesse im schlimmsten Fall für die Opfer unerträglich entblößend und retraumatisierend ablaufen?  Die teils schon seit 30 Jahren arbeitenden  Frauennotrufe und Frauenberatungsstellen  haben oft auch keine Lösung. Nicht jede Frau, die nach einer Vergewaltigung in ihre Sprechstunden kommt, könnte die Herausforderung eines Strafprozesses meistern. Das wissen sie aus Erfahrung. Deshalb gucken sie genau hin, versuchen heraus zu spüren,  ob das Opfer einen Prozess durchstehen könnte oder nicht. Und danach erst raten sie von einer Anzeige ab oder ermutigen, zur Polizei zu gehen.  Hinzu kommt noch, dass ihrer Erfahrung nach, trotz Sonderdezernaten bei den Staatsanwaltschaften, spezieller Fachkommisssariate  bei der Polizei vergewaltigten Frauen vielerorts wieder verstärkt mit Vorbehalten begegnet wird und sie denken müssen, ihnen werde doch sowieso nicht geglaubt. Dies wird den Beraterinnen in letzter Zeit immer häufiger von Vergewaltigungsopfern berichtet.

 

 

Dabei erlebt jede fünfte bis siebte Frau in Deutschland, so das Bundesfamilienministerium,  irgendwann in ihrem Leben einen schweren sexuellen Übergriff.  Die Ende 2008 veröffentlichte Studie über „Gewalt gegen Frauen in Paarbeziehungen“ belegt außerdem, dass Frauen aus allen sozialen Schichten und Altersgruppen von sämtlichen Formen der sexuellen Gewalt betroffen sind.   Die meisten schweigen hierüber, die wenigsten gehen zur Polizei.  

 

Auch ich würde dies nur widerstrebend  tun, denn leider weiß ich zu genau, was mir schlimmstenfalls vor Gericht passieren könnte. Um einen Prozess als glaubwürdiges Opfer durchzustehen müsste ich ein blütenreines lückenlos sauberes Sexualleben gehabt haben. Ich dürfte im Moment der Vergewaltigung nicht alkoholisiert gewesen sein, sonst bringt das die Richter schon gegen mich auf.  Und war ich meinem Mann immer treu?  Werden all die Männer, mit denen ich in meinem Leben zusammen war, dann vor Gericht erscheinen müssen und erzählen, ob ich es gerne von hinten, vorne, auf dem Küchentisch oder in Missionarsstellung im Bett treibe? Will ich das wirklich vor aller Öffentlichkeit ausgebreitet haben?

 

Ich würde mit einer Anzeige gerne noch eine Weile warten. Solange, bis sich bei der Justiz einiges geändert hat. Würde dann hoffen, auf einen Richter zu stoßen, der weiß, wie es um mich steht.  Der weiß, dass traumatisierte Opfer, als Zeuginnen vernommen,  das Erlebte nicht einfach so wieder abrufen können. Denn eigentlich waren sie ja die ganze Zeit damit beschäftigt, es zu verdrängen, wieder Fuß im Leben zu fassen. Die Zeugenvernehmung reaktiviert die schreckliche Erfahrung. Deshalb geht dies nur schrittweise, behutsam, mit viel Empathie vonseiten der Richter und Staatsanwälte.

 

 

 

Die Kongressteilnehmerinnen im Roten Rathaus in Berlin forderten deshalb, jedem Vergewaltigungsopfer vor Gericht eine psychosoziale Prozessbegleiterin zur Seite zu stellen. Im Gerichtssaal eine für die Zeugin wertschätzende Atmosphäre zu schaffen, in der sie nicht nur als Beweismittel sondern als ein durch die Situation belasteter Mensch behandelt wird.   „Wir wollen“, so eine der Veranstalterinnen, „dass der Verlauf eines Vergewaltigungsverfahrens keine Glücksache mehr ist, sondern für die Opfer eine kalkulierbare Erfahrung von Gerechtigkeit und öffentlicher Anerkennung ihres Leidens.“