David Simon: Homicide

WDR5, Scala, Krimiservice, 2.9.2011

David Simon: „Homicide“ – Ein Jahr auf mörderischen Straßen, Der True-Crime-Klassiker des Autors von „The Wire“, Verlag Antje Kunstmann, Ü. amerik Gabriele Gockel, Barbara Steckhan, Thomas Wollermann, 8/2011, lErstveröffentlichtung 1991, 24,90 Euro, ISBN 88897-723-7 Es ist 1 Uhr nachts, mitten im Ghetto von Baltimore arbeitet ein halbes Dutzend Streifenpolizisten, deren Atemwölkchen in der Kälte der Nacht mal wieder über eine Leiche ziehen – Alltag für die Detectives vom Morddezernat Baltimore. Nachtschicht im Western District.Ein Jahr lang schaute Reporter David Simon diesen Fahndern über die Schultern.

 

Als „Polizeipraktikant“ war der Polizeireporter der Baltimore Sun1988 überall dabei, wann immer die Detectives zuTatorten gerufen wurden.er Traum eines jeden Journalisten! David Simon hat den Frust der Detectives mitbekommen, ihre kantige Sprache, ihre Ohnmacht angesichts der meist aussichtlosen Fälle von Mord und Totschlag, mit denen sie es zu tun hatten. Simon hat ihren Alltag notiert, ihre manchmal zynischen, oft traurigen, resignierten Gespräche, akribisch, mit einem ungefilterten Insiderblick auf die ermittelnden Kommissare. Sein erst jetzt im Verlag Antje Kunstmann erschienener Dokuroman über diese Zeit liest sich wie ein Blutgrätscher-Krimi und ist mit über 800 Seiten zwar eine Herausforderung, aber gleichzeitig auch ein absolutes Muss, um die Schattenseiten des urbanen Amerikas kennen zu lernen.

Simon liefert mit Homicide  investigativen Journalismus at it’s best. Sein Buch ist eine spannungsreiche Reportage über die vernachlässigten Probleme amerikanischer Städte am Beispiel von Baltimore /Maryland. Homicide erlaubt Insiderblicke auf eine Welt, die Fantasie und Vorstellungsvermögen übertrifft und  spielt dort,  wo die Vergessenen, die Vernachlässigten, die Heruntergekommenen eines längst nicht mehr prosperierenden Amerikas leben. Wo einst in einem großen Industriehafen Stahl verschifft wurde, wird heute mit Crack gedealt. Wo früher einmal Siedlerhäuser für irische Einwanderer entstanden, hält Wellblech und Dachpappe mühsam den Verfall auf. Die Häuser verkommen und 90 % der Bewohner sind Schwarze.

Simons Lieblingsslogan über Baltimore: „Its Baltimore, hon…duck“ –  Das ist Baltimore Schatz – geh in Deckung.

Während seiner Zeit bei der Mordkommission füllte er unter den misstrauischen Blicken der Detectives zahlreiche Notizblöcke mit Zitaten, Falldetails, biografischen Daten und allgemeinen Eindrücken.  „Unfassbar“, schreibt er im Nachwort zu Homicide, „dass man mich nicht von den Tatorten oder aus dem Verhörraum jagte. Manchmal befürchtete ich, die Polizeiführung könnte es sich doch anders überlegen, meinen Dienstausweis einziehen und mich auf die Straße setzen“.

Simon bekam Zugang zu einer Welt, in der Mordermittlung wie Fließbandarbeit funktioniert. Obwohl ihr Job die absolute Oberliga ist, müssen die Cops um funktionierende Dienstwagen kämpfen, arbeiten in einem heruntergekommenen Gebäude  mit kaputter Klimaanlage „und so viel freischwebenden Asbestteilchen, dass sich der Teufel damit seinen Blaumann isolieren könnte.“  Ihr Arbeitstag ist nie zu Ende. Ihr Mittagessen besteht aus einer Scheibe „kalter Pizza mit extra Chili für zwei Dollar fünfzig von Marco’s aus der Exeter Street“. Schon kommt wieder ein Anruf. „Dann erbettelst oder erschleichst du dir die Schlüssel zu einem der sechs Zivilfahrzeuge, schnappst dir deinen Revolver, einen Notizblock, eine Taschenlampe und ein Paar weißer Gummihandschuhe und fährst zur richtigen Adresse, wo aller Wahrscheinlichkeit nach ein Streifenpolizist vor einer noch warmen Leiche wacht.“ Danach geht’s zurück an den Schreibtisch und alles beginnt auf Neue. „Denn in einer Stadt mit 240 Morden im Jahr wird es immer eine neue Leiche geben.“

Detective Sergeant Terrence McLarney, einer von drei Teamleitern, sagte an der Market Bar zu Simon, als er schon im Rhythmus seines neunten Miller Lite auf einem Hocker schwankte, „Ich weiß, was du schreiben wirst. Du schreibst über die Morde, damit du ein Thema hast. Aber das ist alles bloß Nebensache. Du schreibst über uns. Über die Jungs. Darüber, was wir so machen den ganzen Tag, und was wir für einen Mist reden, wie es uns stinkt, und wie lustig es manchmal zugeht und all den Scheiß, der im Büro passiert.“ Und genauso war es.

Anfangs waren die Detectives David Simon gegenüber misstrauisch und gehemmt, später dann legte sich das. Er war so integriert, dass er bald schon so etwas wie die Auskunft vom Dienst wurde: „Wo steckt denn Barlow?“ – „Der ist bei Gericht“. – „Ist Kevin bei ihm?“ – „Nein, der ist in der Bar.“  – „Mit wem? – „Rick James und Linda.“

Simon war dabei, als Detective Gene Cassidy in der übelst beleumdeten Gegend von Baltimore eine Kugel in den Kopf bekam. Er beobachtete  Detective Sergeant Jay Landman oft genug, wenn er wieder eine seiner Possen spielte. Das Licht auf dem Klo ausschaltete, genau in dem Moment, in dem dort ein Vorgesetzter saß. Sich beschwerte, irgendein Hurensohn habe seine Brieftasche geklaut, dabei fuhr er gerade im Präsidium gemeinsam mit dem Polizeichef im Aufzug. Er hat Detective Tom Pellegrinis Frust erlebt, als er trotz all seiner Bemühungen nicht den Mord an einem 11-jährigen Mädchen aufklären kann, das eines Tages aufgeschlitzt in einem Hinterhof liegt. Wieder einmal ein Fall, der ad acta gelegt werden musste.

David Simon ist für Homicide hoch ausgezeichnet worden mit dem Edgar und dem Antony Award. Seine literarische Reportage war Vorlage für die TV-Serie „The Wire“, die von vielen Rezensenten als die „vielleicht beste Fernsehserie aller Zeiten“ bezeichnet wird. Im kommenden Jahr soll im gleichen Verlag „The Corner“ erscheinen, eine ebenfalls literarisch aufbereitete Reportage über sein Jahr an einer Straßenecke Baltimores inmitten der Dealer und Zuhälter.