„Füße im Farbtopf und Diskussionen ohne Ende“, SWR2, Tandem, 3.6.2013
1968 war die Zeit des Umbruchs. Der autoritäre Erziehungsstil war out. Freiheit für Kinder wurde propagiert. Man wollte die lieben Kleinen nicht wohlerzogen sondern freiheitsliebend und draufgängerisch. Die ersten „Kinderläden“ wurden gegründet. Waren die Kinder damals begeistert, endlich über Tische und Bänke springen zu dürfen? Oder sehnten sie sich nach ein wenig Struktur? Ingrid Müller-Münch befragt einen Vater zur Gründung dieser Kinderläden. Sie hat sich von zwei Erwachsenen schildern lassen, wie sie ihre damalige Kindheit in Erinnerung haben.
Füße im Farbtopf und endlose Diskussionen
Die Kinderladenkinder
Von Ingrid Müller-Münch
O-Ton Julia:
Mein Name ist Julia. Ich bin 1970 geboren. Also jetzt fast 42 Jahre alt. Ich bin Kulturwissenschaftlerin und habe selber eine 11- jährige Tochter, die jetzt in die sechste Klasse geht. Ich war im Kinderladen in Düsseldorf. Ich erinnere einige Situationen, vielleicht auch durch Fotos verstärkt, wo wir auf den Fensterbänken standen. Also, sowohl die Hände, wie die Füße in Farbtöpfen, die Fensterscheiben beschmiert haben. Auf vielen Bildern seh ich einfach richtig knüsselig auch aus. Also mit schmutzigem T-Shirt, verfilzten Haaren, den Mund verschmiert. Also, es ging da offensichtlich nicht so richtig diszipliniert zu.
O-Ton David:
Mein Name ist David Schmale, ich bin geboren in Köln und bin 39 Jahre alt. Ich war in dem Kinderladen in der Bernhardstraße in Köln-Bayenthal. Ich bin eigentlich von Geburt an bis zur Einschulung da regelmäßig ein- und ausgegangen. Also, die Erinnerungen kann ich eigentlich im Grunde nur als positiv beschreiben. Wir hatten hinter dem Haus nen sehr großen Garten. Da war in der Mitte ein riesiger Sandkasten. So, das ist ne Erinnerung. Es gab ein für mich damals riesengroßen eisernen Bollerwagen, mit dem wir da immer durch die Gegend gepeest sind. Einer durfte lenken, der Rest musste schieben. Das sind so Bilder, die ich noch so ein bisschen präsent hab. Also eher stürmische, im Garten stattfindende Schlachten mit irgendwelchen Gefährten und Fahrzeugen und sowas.
Erzählerin:
David und Julia – beide haben ihre ersten Lebensjahre in einem sogenannten Kinderladen verbracht. Glückliche und unbeschwerte Menschen sollten aus ihnen werden. So jedenfalls hatten es sich ihre jungen, Ende der 60er Jahre revoltierenden Eltern, zum Ziel gesetzt. Ihre Kinder sollten nicht mit Rohrstock und Kochlöffel auf den rechten Kurs gebracht werden, sondern sich frei und ohne jeden Zwang entfalten können.
Doch wurde dieses Ziel tatsächlich erreicht? War die auf den ersten Blick ungezwungene Kindheit dieser Kinderladen-Generation wirklich glücklicher als die ihrer noch unter der Knute autoritärer Eltern aufgewachsenen Mütter und Väter?
O-Ton Pui:
Pui von Schwindt. Jahrgang 1938. Kriegsende mit sieben Jahren. Meine Eltern sind Bürgerliche, aus Berliner, Hamburger, Saarbrücker und Frankfurter Familieneinflüssen. Sie waren in Teilen sehr reich. Meine Eltern sind dann nach Namibia, Deutschsüdwestafrika ausgewandert. Sind Farmer geworden. Karakul-Zucht. Das, was unsere Großeltern immer so gerne trugen, nämlich die Persianermäntel im Winter. Meine Mutter war sehr streng. Die war noch so was wie preußisch. Ihr Ziel als Bürgerliche, mit einem adeligen Anspruch, da gehörte eben Artigkeit, Gehorsam und aber auch Wohlerzogenheit dazu.
Erzählerin:
Pui von Schwindt war einer der Mitbegründer des ersten Kinderladens in Köln. Viele Jahre hat er als Redakteur bei der Deutschen Welle gearbeitet. Heute ist er Rentner und plant ein Buch zur Entstehungsgeschichte der Kinderladenbewegung.
O-Ton Pui:
Wir wollten als Zielvorstellung für unsere Kinder die Selbstverwirklichung und die Emanzipation. So wie wir es ja für uns auch gewünscht haben. Um das zu erreichen haben wir Erziehungsziele im Elternkollektiv im Kinderladen erarbeitet. Selbstständigkeit soll wichtig sein. Kritikfähigkeit, solidarisches Verhalten, Verantwortungsbewusstsein, Fähigkeit zur Konfliktbewältigung, sexuelle Freiheit, Fähigkeit im Kollektiv arbeiten zu können und eine hohe Lernmotivation für die Kinder.
O-Ton-David:
Ich denke, dass die Auflehnung der Generation, die die Kinderläden letztendlich ins Leben gerufen hat, war zu sagen, wir wollen nicht, dass unsere Kinder in den normalen Einrichtungen, die es gab, die Lerninhalte so vermittelt kriegen wie das wahrscheinlich auch Anfang der 70-iger noch üblich war. Da müssen schon gravierende Sachen gewesen sein, dass man sich sagt, ich nehm das jetzt selber in die Hand, ne.
O-Ton-Pui:
Wir haben festgestellt, dass so wie wir erzogen worden sind, eben mit dem Schwerpunkt Artigkeit, Gehorsam und Wohlerzogenheit, dass dieses nicht ausreicht, dass das für unsere Kinder gut und angemessen wäre, das nun zu wiederholen. Und haben relativ von Anfang an darüber nachgedacht, wie wir´s alternativ machen können.
Erzählerin:
Das war 1968 – Pui von Schwindt und seine spätere Frau studierten damals an der Universität Köln. Er Theaterwissenschaften, Philosophie und Germanistik. Sie Biologie. Der kräftige junge Mann fiel selbst unter den damaligen Revoluzzern durch seine üppig-lockige Haarpracht und seine Wortgewaltigkeit auf. Dass er zum Mitbegründer des ersten Kinderladens der Stadt wurde, hatte neben den hehren politischen Zielen aber auch einen ganz profanen Grund. Seine älteste Tochter Christiane war gerade geboren, später kamen noch Zwillinge hinzu. Für die Kinder fehlte schlichtweg ein Betreuungsplatz.
O-Ton-Pui:
Zunächst sind wir natürlich bei der Stadt Köln, haben gefragt, habt ihr Platz für unsere Kinder? Da haben die gesagt, nein, Studentenkinder nehmen wir nicht. Daraufhin sind wir zu den evangelischen und den katholischen Einrichtungen gegangen, die haben gesagt nein, Studentenkinder nehmen wir nicht. Die sollen erst zu Ende studieren. Von den damals 18000 Studierenden, waren 1200 verheiratet und von denen hatten die Hälfte Kinder. Das war 1964/65. Wir haben dann versucht, mit anderen gemeinsam an der Universität, Räume zu bekommen, und sei es nur, dass man während der Vorlesungen, diese anderthalb / zweiStunden, den Babywagen unterstellen kann, und jemand ist da und passt auf, dass den Kindern nichts passiert. Das haben wir nicht geschafft.
Es war ja nicht nur bei den Studenten so, dass es keine Kindergartenplätze gab. Sondern es gab grundsätzlich zu wenig Kindergartenplätze, auch für Eltern, die arbeiten wollten. Und erste Ansätze der Frauenbewegung taten sich auf. Und auch die Frauen haben gedacht, ich will jetzt auch arbeiten oder zu Ende studieren und nicht wegen der Kinder nun mein Studium oder meine Arbeit aufgeben. Und der November ‚68 war wohl das Entscheidende, dass bei dem Vietnamkongress die Frauen sich abgesondert haben und einen eigenen Kongress gemacht haben. Dass die unten in der Uni, in dem Saal unten, einen Kinderladen aufgemacht haben. In Berlin. Dieses hat dazu geführt, dass die ersten Kinderläden sich gründeten. Zunächst mal in Kaufläden, die an der Ecke waren und zugemacht haben. Und die hat man dann übernommen. Deswegen auch Kinderladen.
Erzählerin:
Pui von Schwindt und seine Mitstreiter hatten zwar eine genaue Vorstellung davon, wie so ein Kinderladen rein organisatorisch funktionieren könnte. Doch ansonsten waren sie alle, wie er heute selbst bekennt, „Erziehungs-Dilettanten“ und hatten keine Ahnung davon, wie es in ihren neugegründeten Einrichtungen pädagogisch zugehen sollte. Das einzige was sie wussten, war, dass sie es anders machen wollten, als ihre eigenen Eltern.
O-Ton Julia:
Sicherlich hab ich mich mit der Frage beschäftigt, warum meine Eltern so waren, wie sie waren. Also wenn man sich den Lauf der Geschichte anguckt, ist es ja eine logische Folge und vielleicht auch ein Stück weit nachvollziehbar, die Nachkriegsgeneration, die nichts mit ihren Eltern zu tun haben wollte. Und die auf die Straßen gegangen sind. Die protestiert haben usw. Das ist ja auch sehr löblich.
Erzählerin:
Julia wurde zwei Jahre nach der 68er Studenten-Revolte in einer Wohngemeinschaft geboren. Ihre Eltern waren beide Anfang 20. Der Vater, damals Medizinstudent, wurde später Psychoanalytiker, die Mutter Sozialarbeiterin. Beide kämpften gegen Atomkraft und Pershing-Raketen, für bessere Rußfilter bei Kohlekraftwerken und gegen die damals noch gebräuchliche Dünnsäureverklappung in den Rhein, und sie demonstrierten leidenschaftlich für Frieden und Völkerverständigung. Ihr Leben war unkonventionell und unbeständig, ihre Beziehungen wechselhaft. Fremdgehen galt als schick und durchaus angebracht, nach dem Motto: Wer zweimal mit der Gleichen pennt, gehört schon zum Establishment. Und genau dazu wollten die beiden Studenten mit ihrer kleinen Tochter auf gar keinen Fall gehören.
O-Ton Julia:
Es gab keine Verbote. Wir mussten nur das essen, was wir wollten. Haben glaub ich auch viele Anregungen gekriegt, intellektueller Natur. Also Bücher, wo die wilden Kerle wohnen. Gripsparade. Die kenne ich immer noch auswendig. Lieder (Singt) „Mädchen sind genau so schlau, wie Jungen. Mädchen sind genau so frech und schnell.“ Ja, das war sicherlich gut. Also, da war auch nix mit Röckchen anziehen oder rosa Schleifchen oder so.
O-Ton Pui:
Wir haben ja dann ‚69 das erste sozialistische Kinderkollektiv in Köln gegründet. Das war dann ein Kinderladen, mit einem antiautoritären Erziehungskonzept. Aber noch ein bisschen offener. Es verschlampte alles so ein bisschen. Und die Kinder konnten machen, was sie wollten. Und diese Laissez-Faire-Variante war nicht gut. Aber wir waren etwas hilflos.
O-Ton Julia :
Es gab keine Regeln an die ich mich erinnere, was jetzt Benehmen oder Verbote bedeutet hätte. Also, das was jetzt vielleicht aus heutiger Sicht als grenzenlose Freiheit erscheint, das hab ich eher als Gleichgültigkeit oder laissez-faire empfunden. Also weil, es gab keine Konflikte und insofern war das auch nicht gewohnt, weil es war mehr oder weniger alles erlaubt und somit es gab dann auch keine Grenzen, die ich hätte austesten wollen oder können. Ich fand das eher sehr desorientierend.
O-Ton Pui:
Die Gründung des Zentralrats der Kölner Kinderläden, die Anfang der 70er Jahre einmal pro Woche zu Diskussionen über solche Themen im Republikanischen Club zusammen kamen, zeigte, dass auch gerade das Thema „sexuelle Erziehung“ ganz wichtig war. Das geht soweit, dass Nacktheit ebenso erlaubt war, wie Daumenlutschen, Matschen oder Onanieren. Doktorspiele waren auch erlaubt gewesen, fanden aber nur selten statt, jedenfalls haben die Erwachsenen eigentlich nichts davon gesehen. Allerdings gab es Bedürfnisse nach gegenseitiger Zärtlichkeit. Schmuse- und Kuschelecken waren sehr begehrt. Also ich hab das Gefühl, dass bei meinen Kindern dieses, zumindest, was die sexuelle Erziehung angeht, keine Probleme herbeigeführt hat. Sondern dass sie ganz normal mit diesen Dingen umgingen, und ich fand die Erziehung im Kinderladen Mainzerstraße, auch ihr Verhalten nachher in der Schule oder später im Leben angemessen und okay.
O-Ton-Julia:
Wir sind bestimmt auch viel nackig rumgelaufen. Und wir ham natürlich zuhause unsre Eltern auch nackt gesehen. Weiß ich gar nicht, ob ich das jetzt schlimm fand. Das war einfach normal. Die sind da normal rumgelaufen. Ich weiß, dass ich auch in den WGs von andern gesehen hab, wie die sich dann nach dem Duschen mit Niveamilch eingecremt haben. So. Da gab´s halt keine Befangenheit. Ja, Sexualität fand aber bei den Erwachsenen statt.
O-Ton Pui:
War noch eine sehr starke Elternbeteiligung. Die Eltern waren noch bei der Organisation da, man traf sich einmal in der Woche. Diskutierte, ob das alles ok, geht. Und über Pädagogik. Und das Fehlverhalten von Kindern. Und von einem selber. Man wurde ja auch kritisiert. Von da her hatte das schon auch einen Schulungseffekt, für einen selber, wenn man da mit den anderen auf seine eigenen Fehler aufmerksam gemacht wurde.
O-Ton David:
Wenn meine Mutter mal aus der alten Zeit da erzählt, wo sie eigentlich als erstes oder am liebsten drauf kommt. und die Hände über dem Kopf zusammen schlägt oder laut anfängt zu lachen, ist diese allabendlichen oder allwöchentlichen Treffen aller Eltern. Wo dann darüber diskutiert wurde, ob das korrekt ist, dass in dem oder dem Kinderbuch, das der und der mitgebracht hatte, ein schwarzes Kind auf nem Baum sitzt oder sonstwas. Also das war auch unglaublich anstrengend. Gerade wahrscheinlich die Anfangszeiten, wo man eben auch jeden Pups ausdiskutieren wollte. Bis dann auch wirklich der Letzte überzeugt war. Und da wurde natürlich, denk ich schon, eine unglaubliche auch Energie verbraucht. Ich glaube, von diesen nächte-, wochen-, jahrelangen Diskussionen der Eltern haben wir als Kinder nichts mitbekommen. Nö.
O-Ton Pui:
Das hielt sich sehr lange, das Prinzip, dass immer ein Elternteil Dienst machen musste in der Kindergruppe. Kochen. Saubermachen. Die Kinder windeln, füttern. Und alles was so ansteht. Also die Beteiligung des jeweiligen Betroffenen, Vater oder Mutter war ein wichtiger Teil, das so kennenzulernen, dass man sich drum kümmern musste. Was machen wir denn nun eigentlich mit den Kindern? D. h. die pädagogischen Inhalte und das Umgehen mit den Kindern, unter einem neuen Gesichtspunkt, nämlich der individuellen Förderung, der individuellen Wahrnehmung der Persönlichkeit des Kindes, der freien Entwicklung und Entscheidung, in Gruppen spielen, gemeinschaftlich auskommen können. Wir nannten es damals Kollektiv. Wir haben ja dann ‚69 das erste sozialistische Kinderkollektiv in Köln gegründet. Das war dann ein Kinderladen.
Erzählerin:
Manche Kinder, die in diesen Kollektiven groß wurden, sehen diese Zeit im Rückblick jedoch durchaus kritisch. Wie eben zum Beispiel Julia:
O-Ton Julia:
Ich glaub, man hat mich nicht ernst genommen. Mit meinen Bedürfnissen. Ja, es klingt jetzt ein bisschen paradox. Die ham wahrscheinlich gedacht, na ja sie kann ihre Bedürfnisse ausleben. Aber, ich hab´s nicht so empfunden. Die Lebenssituation meiner Eltern , sprich meine Familiensituation, war recht chaotisch und wenig konstant. Also ich weiß, dass ich in ner WG mit 9 Leuten, glaub ich, geboren wurde. Wo mein Vater dann auch Verhältnisse hatte zu anderen Frauen. Also schon sehr früh. Also wir hatten nicht das Zuhause. Es waren verschiedene Wohngemeinschaften, verschiedene Mitbewohner, verschiedene Bezugspersonen. Also, dass es so die typische Kleinfamilie nicht gab.
O-Ton Pui:
Als wir erkannt haben, dass es mit dem laissez-faire so nicht geht, haben wir gemerkt, dass auch schon bei einigen Kinder Probleme aufgetaucht sind.
Ja, nicht mehr sich einordnen in irgendeinen wie auch immer gearteten Ablauf. Essen gehen, wann man will. Oder Aufstehen, wann man will. Es gibt kein kollektives Verhalten mehr. Sondern es war nur noch ein individuelles Durcheinander. Und darauf haben wir dann doch wieder bestimmte Dinge gemacht. 1. Schlagen verboten. 2. Verkehr. Es gibt kein Kind über die Straße ohne vorher dadrauf trainiert zu werden. 3. Ein kollektives Verhalten. Das heißt auf die Gruppe hin gedachtes Verhalten, im Sinne von gemeinsam essen, gemeinsam in den Park gehen, gemeinsam was unternehmen.
O-Ton Julia:
Ich würde jetzt nicht sagen, dass die das bewusst falsch gemacht haben. Das war sicherlich kein böser Wille. Also vermutlich haben die einfach versucht, alles anders, und aus ihrer Sicht, alles besser zu machen. Vielleicht haben die gedacht, ja die Kinder können sich dann ganz toll entwickeln. Und die haben das natürliche Potential in sich. Man muss sie nur machen lassen. Insofern, ich weiß nicht, ob ich denen das wirklich zum Vorwurf machen kann. Was mich gestört hat im Nachhinein, dass die Erwachsenen sehr stark mit sich beschäftigt waren. Ich hab nur gemerkt, die Zeit, die die sich für sich nehmen, die geht von der Zeit oder der Aufmerksamkeit, die ich mir für mich gewünscht hätte, ab. Und insofern hatte ich dann öfter den Eindruck, na ja ich bin einfach so da.
O-Ton David:
Ich glaub schon, dass ich zum Beispiel ein sehr politisch denkender Mensch bin. Ein sehr sozial eingestellter Mensch bin undsoweiter. Das hängt wahrscheinlich alles zusammen. Insofern hat bestimmt auch die Kinderladenzeit damit zu tun. Aber nicht alleine. Ich glaube schon, dass meine politische und soziale Einstellung auch aus der Zeit her rührt, in der ich groß geworden bin. Und auch daher rührt, wie meine Eltern eben sich verhalten haben. In dem Fall meiner Eltern denk ich, habe ich da definitiv ne Menge von abbekommen. Aber ich kenne ja auch Beispiele, aus der Zeit, wo die Eltern damals wahrscheinlich auch nicht so politisch waren. Und nicht so engagiert waren. Die sich gesagt haben, ich will, dass mein Kind zwar in einer anderen Form erzogen wird, aber die sind ja deswegen nicht jedes Wochenende auf ‚ne Demo gerannt. Ne.
Erzählerin:
Während David viel Verständnis für seine Eltern aufbringt, reichte Julia dieses „Einfach so da zu sein“ nicht aus. Sie erlebte das Chaos, das ihre Eltern auf ihrer Suche nach neuen Lebensformen verbreiteten, als belastend. Ihr Leben, so sagt sie heute, sei ein ewiger Kampf darum gewesen, sich in den Blickwinkel von Vater und Mutter zu rücken, ihnen wenigstens ein Quentchen Zeit abzuringen. Bald schon lebten Ihre Eltern getrennt, und wann immer ihr Vater sich wieder einmal mit einer neuen Flamme in sein Wohngemeinschaftsbett begab, brachte die kleine Julia, so die Familienlegende, der jungen Frau eilfertig Schuhe, Mantel, Handtasche, damit sie nur ja bald wieder verschwinde. Die Einsamkeit, die sie damals verspürte, ist Julia als Gefühl noch allgegenwärtig.
O-Ton Julia:
Meine Kindheit hat mich ganz bestimmt geprägt. Vor allem leider negativ geprägt. Weil ich da doch einiges an Defiziten erlebt habe. Seh ich natürlich im Rückblick. Und das sind Defizite, mit denen ich jetzt auch noch zu kämpfen habe. Also die mir auch immer wieder begegnen. Sowohl im privaten, wie im beruflichen Bereich. Und das ärgert mich auch oft.
O-Ton-Pui:
Wie die Kinder das empfunden haben, was wir mit ihnen gemacht haben? Also ich hab den Eindruck, sie fühlten sich in Teilen doch glaub ich von uns alleine gelassen. Das sagen sie auch, klar. Das sagen sie einem dann.
Erzählerin:
Pui von Schwindt liest gerade noch einmal seine Unterlagen aus der Kinderladenzeit durch, weil er sie für sein Buchprojekt ordnet. Und da kommt es in der Familie schon mal zur Diskussion darüber, wie es damals so war. Gespräche, die aber keineswegs zu Streit oder Auseinandersetzungen führen. Denn das Verhältnis zwischen Pui und seinen drei inzwischen erwachsenen Kindern ist gut und warmherzig. Sie alle haben ihren Weg gefunden, leben in der näheren Umgebung, sind eigenständig. Alle sind sie eher unkonventionelle Wege gegangen, eine Tochter wurde Altenpflegerin, eine andere ging zum Film, der Sohn ist im Internet-Business tätig. Berufe, die sie ursprünglich nicht anstrebten, die sich aber dann irgendwie im Laufe der Jahre ergaben, und die sie heute mit großer Zufriedenheit ausführen.
Auch David ist in seinen jetzigen Job irgendwie reingerutscht. Immer schon interessierten ihn Licht, Musik, Events. Und so kam es, dass er Beleuchter im Konzert-Show-Business wurde. Ein für ihn durchaus anstrengender Broterwerb, den er selbstständig ausübt. Um über die Runden zu kommen, muss er stets nach neuen Aufträgen Ausschau halten. Das liegt ihm eigentlich gar nicht, sagt er. Dafür sei er viel zu undiszipliniert.
O-Ton David:
Sicherlich hab ich mir schon häufiger Gedanken darüber gemacht, über die Kinderladenzeit, was da mit mir passiert ist oder nicht passiert ist.In meinem Fall allerdings glaub ich schon, dass dieses ganze Kinderladenthema und andere Erziehungsarten zu versuchen, sich ausgeprägt hat, im Positiven wie im Negativen. Ich seh z.B. bei mir schon, dass ich mich total schwer tue, strukturiert an Sachen heran zugehen. Dass ich teilweise wirklich sehr, sehr unmotiviert bin, oder mich auch gerne versuche, vor schwierigen Themen zu drücken. Es kann sein, dass die Kinderladenzeit damit zusammen hängt, dass ich Anstrengungen teilweise aus dem Weg gehe. Oder eben die Sachen die Spaß machen, lieber tue, aber letztendlich glaube ich auch, dass das ein bisschen in jedem steckt. Und ich tu mich auch ein bisschen schwer, das so klar irgendetwas zuzuordnen. Weil ich hab Freundinnen aus der Zeit z.B., die waren in dem gleichen Kinderladen, in der gleichen Zeit, und die sind komplett anders.
Erzählerin :
David hat vieles aus der damaligen Zeit bis in sein heutiges Erwachsenenleben behalten. Er ist noch immer eher ein unkonventioneller Typ, dem Karriere und Statussymbole wie dicke Autos oder eine Eigentumswohnung nicht wichtig sind. Sondern der gut leben will, Zeit für sich haben möchte.
Wie würde er heute, mit seiner Erfahrung als Kinderladen-Kind, seine eigenen Kinder erziehen? Und – wie geht Julia mit ihrer 11-jährigen Tochter um?
O-Ton David:
Wenn ich Kinder hätte, glaube ich, würden diese Kinder mehr oder weniger automatisch ähnlich groß werden. Ob das jetzt in Form eines wirklichen Kinderladens ist, weiß ich nicht. Ist ja auch wirklich die Frage, ob heutzutage diese Form noch in unserer Gesellschaft nötig ist. Klingt ein bisschen blöd, aber ich seh das bei meinem Neffen, der rennt in Kindergruppen. Der geht in Kindergärten. Vieles von dem muss man ja heute auch gar nicht mehr erkämpfen. Das hat sich ja wirklich auch bis in die katholische Grundschule etabliert. Bestimmte Erziehungsweisen. Also von daher denke ich, ist diese Entscheidung nicht mehr so groß, geb ich mein Kind bewusst in einen selbstverwalteten Kinderladen oder tu ich´s vielleicht doch einfach um die Ecke, weil da alle anderen auch hingehen. Und ist ja auch in Ordnung.
O-Ton Julia:
Ich hab zuhause gemerkt, dass versucht wurde, bestimmte Sachen von uns fern zu halten. Dass Konflikte nicht ausgesprochen wurden, dass bestimmte Themen nicht ausgesprochen wurden. Ja, das versuche ich halt anders zu machen. Ich versuche vor allem sie ernst zu nehmen. Also ihr auf Augenhöhe zu begegnen. Ihr Sachen zu erklären. Auch wenn´s scheinbar etwas gibt, wofür sie noch zu klein ist. Oder was nicht versteht. Dann versuche ich halt ihr das mit meinen Worten zu erklären. Weil ich denke, man sollte Kinder nicht unterfordern. Also eher herausfordern.
O-Ton David :
Ich denke überhaupt nicht ungern an die Zeiten zurück. Kann ich überhaupt nicht sagen.Ich habe noch sehr viele, sehr enge Freundschaften aus der Zeit. Was wahrscheinlich auch damit zusammenhängt, dass wir in einer sehr großen Gruppe damals auch zusammen aus dem Kinderladen in die Grundschule gegangen sind, in die Montessori-Grundschule in Köln-Riehl. Und auch anschließend in einer sehr großen Gruppe ins Gymnasium gewechselt haben. Also da ist zu ner ganz netten Gruppe eigentlich der Kontakt nie ganz abgebrochen.
O-Ton Julia:
Es war keine Zeit, in der ich mich aufgehoben und behütet gefühlt habe. Einfach, weil ganz und gar keinerlei Strukturen vorlagen. Ich erinnere mich auch an keine Rituale zum Beispiel. Weder an meinem Geburtstag, noch an Weihnachten, auch im ganz normalen Alltag. Es gab nichts, was auf irgendeine Form von Regelmäßigkeit hindeutete. Also sei es Sonntagsessen oder zu Bettgehrituale, das erinnere ich nicht. Und das finde ich im Nachhinein sehr schade und bedauerlich, weil das ist durchaus etwas, was ich meiner Tochter versucht habe, auch zu geben. Weil es ja auch wichtig ist, also da ein Stück weit Sicherheit zu haben und auch einfach draußen in der Welt klar zu kommen. Und das ist auch etwas, was ich jetzt, heute, mit fortgeschrittenem Alter, durchaus noch merke. Dass ich da offensichtlich nicht so ne gute Basis mitbekommen hab.
E N D E