Scala, Service Kultur: aktuelle Kriminalromane auf WDR5

Am 28.7. 2015 stellte ich wieder einmal zwei Krimis bei Scala vor. Beide als Beispiel dafür, wie sehr Autoren die aktuelle politische Lage in Europa beschäftigt:

Teaser: Vielen Krimiautoren reicht die ausschließliche Jagd nach dem Mörder nicht aus. Sie mischen sich ein ins alltägliche politische Geschehen, paaren Schrecknisse mit Spannung. Ingrid Müller-Münch stellt heute zwei entsprechende Krimis vor: der erste aus Irland, der zweite aus Griechenland.

 

Text:
Carla Lane führt ein glückliches Leben. Sie ist schwanger, freut sich gemeinsam mit ihrem Mann Jan, einem international bekannten Pianisten, auf das Kind. Doch eines Tages explodiert unter Jans PKW eine Bombe. Jan stirbt. Und Carla bleibt zurück, aufgewühlt, verloren. Sie will wissen, wer es auf ihren Mann abgesehen hat. Fragt sich, wieso er in letzter Zeit seine Tourneen länger als vorgesehen ausdehnte. Und stößt darauf, dass Jan sich auf die Suche nach ihrer, nach Carlas Familiengeschichte machte. Einer Geschichte, die Carla so verdrängt hat, dass sie erst durch Jans Tod wieder hochgespült wird. Carla war als Kind während des Bürgerkrieges im zerbrechenden Jugoslawien in einem dieser Foltercamps, die eigentlich niemand überlebt hat. Nur sie, damals ein kleines verstörtes Mädchen. Lange hat sie die Erinnerung daran einfach nicht zugelassen. Will sie Jans Mörder finden, muss sie ihr Gedächtnis aktivieren. Der Ire Glenn Meade erzählt eine bittere Geschichte, unheilvoll spannend. Manchmal kaum zu ertragen. Hochaktuell und wahnsinnig.
Athen auf der Kippe. Katerina, die geliebte Tochter von Kommissar Kostas Charitos wird brutal überfallen. Rechtsradikale Splittergruppen wagen sich aus dem Schatten, werden immer dreister. Stadtviertel, die seit der Krise besser gemieden werden. Polizisten, die entweder brutal mitmischen oder sich zu recht bedroht fühlen. Eine Verwaltung, die verschleppt, korrupt ist, an allen Ecken und Enden nicht funktioniert. Ein Land, das im eigenen Sumpf der Steuerhinterziehungen und des Händeaufhalten versinkt, und dem die Troika noch den letzten Tropfen abdreht. Um hier einen Einblick zu bekommen, dafür ist Markaris der beste Erzähler. Sein Zorn über den Zerfall seiner geliebten Heimat ist im ganzen Buch spürbar. Schon allein deshalb lohnt sich die Lektüre.

Eine Doppelrezension von Ingrid Müller-Münch
Glenn Meade: Die letzte Zeugin
Übersetzung aus dem Englischen von Karin Meddekis
Bastei/Lübbe, 604 Seiten, 9,99 Euro
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Petros Markaris: Zurück auf Start . Ein Fall für Kostas Charitos
Übersetzung aus dem Neugriechischen von Michaela Prinzinger
Diogenes, 350 Seiten, 23,90 Euro

Moderation: Krimiautoren mischen sich ein, mischen mit im alltäglichen politischen Geschehen. Sie sind Dokumentaristen des Grauens, paaren Schrecknisse mit Spannung. Ingrid Müller-Münch stellt heute zwei Beispiele für derartige Politikkrimis vor: Der erste kommt aus Irland, geschrieben vom Bestsellerautor Glenn Meade. Er führt uns zurück in die Gräuel serbischer Foltercamps während der ethnischen Konflikte im Bürgerkrieg nach dem Zerfall Jugoslawiens. Der zweite „Zurück auf Start“ ist von Petros Markaris. Der Autor, Grieche und Kenner dortiger Verhältnisse, jongliert geschickt mit seinem Wissen. Und zeigt ohne jegliche Larmoyanz auf, wie abgrundtief verloren man sich im Athen der heutigen Zeit fühlen kann.
Autorin: Es war ein durch und durch gelungener Abend. Der berühmte Pianist Jan Lane hatte das 2. Klavierkonzert in c-Moll von Rachmaninow vor einem illustren Publikum in der Carnegie-Hall gespielt. Nun trat er mit einem Lächeln auf den Lippen ins Freie, näherte sich auf dem Parkdeck seinem Volvo, winkte seiner Frau Carla zu, die etwa zehn Schritte von ihm entfernt ging.

Sprecher: Jan schickte sich an, die hintere Beifahrertür zu öffnen, als ein kurzes, schrilles Geräusch ertönte. Einen Wimpernschlag später schoss eine grelle Flamme in die Höhe, und eine ohrenbetäubende Explosion erschütterte den Parkplatz. Sämtliche Bewegungen schienen sich zu verlangsamen, als spielte sich alles in Zeitlupe ab. Der Wagen schwebte einen Moment über dem Boden, in Flammen und blendendes Licht gehüllt, ehe er auf den Asphalt krachte. Jans Körper flog durch die Luft.

Autorin: Bis zu diesem Tag, als unter dem PKW ihres Mannes eine Bombe explodiert und Jan tötet, führte Carla ein glückliches Leben. Sie ist schwanger, Jan und sie haben sich auf das Kind gefreut. Und nun zerplatzt in Glen Mead‘s Thriller „Die letzte Zeugin“ die Zukunft vor ihren Augen. Aufgewühlt und tieftraurig fragt sie sich, wer ihrem geliebten Mann so etwas antun könnte. Erhofft sich von Jans Bruder Paul Aufklärung. Doch der hält ihr zunächst einen Vortrag über das vor 20 Jahren zerbrochene Jugoslawien und die Schrecknisse, die die politisch geschürten ethnischen Konflikte damals begleiteten:

Sprecher: Es wurden Lager errichtet, in denen Frauen, Mädchen und Kinder beiderlei Geschlechts eingesperrt wurden. Viele ihrer Väter, Brüder und Söhne, die älter als vierzehn waren, wurden kaltblütig ermordet.

Autorin: Während Paul noch redet, bricht etwas in Carla auf. Und ihr wird klar, dass sie Jans Tod nur dann erklärt bekommt, wenn sie sich der eigenen Geschichte stellt. Dem, was ihr selbst einst angetan wurde in einem solchen Foltercamp. Sie hat dort vor sich hin vegetiert, mit ihrem kleinen Bruder Luka, mit Vater und Mutter das Grauen durchgemacht. Dies alles hat sie verdrängt. Und zwar so gründlich, dass erst ein Bombenanschlag ihrem Gedächtnis wieder auf die Sprünge hilft. Doch was hat das mit Jan zu tun, ihrem geliebten Mann, der nun ermordet wurde? Sein Bruder Paul weiß da mehr:

Sprecher: Jan hat versucht, Mörder aufzuspüren, nach denen gefahndet wird, und dafür zu sorgen, dass sie vor Gericht gestellt werden. Deshalb musste er sterben. …Die NATO hat die Hauptverantwortlichen vor Gericht gestellt …Männer wie Milosevic und sein oberster Gefolgsmann, Ratko Mladic. Aber viele der weniger bekannten Verbrecher, die barbarische Gräuel verübt haben, sind der Strafverfolgung entkommen.

Autorin: Nun scheint Carla die letzte Überlebende eines der damaligen Todeslager zu sein. Und somit die Einzige, die die Lagerleiter, die Massenmörder, identifizieren könnte. Doch dazu muss sie sich erinnern. Daran, wie sie als kleines Mädchen eines Tages halbtot aufgefunden wurde, außerhalb des Camps. In ihrem Arm ein zerfleddertes Buch, das Tagebuch ihrer ermordeten Mutter. Muss sich ins Gedächtnis zurückrufen, wie sie zu ihren Großeltern in die USA kam, dort aufwuchs, und vergaß, wer ihre Eltern waren, dass sie einen kleinen Bruder gehabt hatte. Jans Tod macht diesem Verdrängen ein Ende.
Der irische Erfolgsautor Glenn Meade hat sich schon immer schwierigen Themen gestellt. Doch sein neuester Thriller: „Die letzte Zeugin“ ist eine veritable Herausforderung. Wie so viele Krimiautoren derzeit wagt sich Meade auf politisch brisantes Terrain. Noch immer leben viele ehemalige Verbrecher aus jener Zeit von vor 20 Jahren, unbehelligt, unbestraft. Wer sie aufstöbert, riskiert sein Leben. Dieses Thema als Krimi verpackt ist bitter. Sehr sehr bitter und erfordert vom Leser starke Nerven. Ein wahnsinniges Buch, das aufwühlt. So gar nicht geeignet zum Abhängen und Entspannen. Im Gegenteil.

Ganz anders der zweite Krimi, den ich heute vorstellen werde. Ein Altmeister der Griechenland-Kritik, ein Insider mit haarscharfem Blick hat sich noch einmal, ein letztes Mal, (wie er selbst sagt) mit der Innenpolitik seines Heimatlandes befasst. Auf eine Auf ruhige, fast schon behäbige Weise. Petros Markaris hat seinen Kriminalkommissar Kostas Charitos erneut auf Mördersuche geschickt. Diesmal wird die eigene Familie Opfer rechtsradikaler Gewalt, in seinem Krimi „Zurück auf Start“:

Sprecher: Sie liegt auf dem Rücken in der Evelpidon-Straße, vor dem Eingang zum Gerichtsgebäude. Ihre Augen sind geschlossen. Eine Frau hat ihr die Handtasche unter den Kopf geschoben, kniet neben ihr und fächelt ihr mit einem Dossier Luft zu.

Autorin: Katerina, geliebte Tochter von Kommissar Charitos, wird von Neonazis der berüchtigten „Goldenen Morgenröte“ brutal zusammengeschlagen. Weil sie die Interessen von Migranten vertritt. Wobei wir gleich mittendrin sind im Geschehen, bei dem sich alles um ein Land dreht, das am Abgrund steht. Einem Abgrund, den es sich nach Ansicht des Autors zum Teil selbst gegraben hat. Durch Schlendrian, Korruption, durch Postenschacherei mithilfe von Politikern, die lediglich am eigenen Wohlergehen interessiert waren.

Sprecher: Uns steht das Wasser nicht bloß bis zum Hals, sondern bereits so hoch, dass wir bald mit Unterwassertaxis rumfahren und Fische statt Fahrgäste transportieren.

Autorin: Meint ein Taxifahrer zu Kommissar Charitos, der wie alle Griechen derzeit nur noch ein Thema hat: die eigene unaufhaltsame Misere. In „Zurück auf Start“ ist Petros Markaris Zorn über den Verfall Griechenland ebenso deutlich spürbar wie seine Wut darüber, dass seine Heimat immer mehr in die Hände von radikalen Splittergruppen fällt. Genau das macht dieses Buch so lesenswert.
Zwei Krimis für Leser, die am Weltgeschehen interessiert sind und denen die Informationen aus Tageszeitung und Zeitungslektüre nicht reichen:
Sprecher: Glenn Meade „Die letzte Zeugin“ erschienen bei Bastei/Lübbe und Petros Markaris „Zurück auf Start“, erschienen bei Diogenes.