Polizeigewalt gegenüber Sinti und Roma in der Nachkriegszeit – rassistisch oder ganz normal

 

Ingrid Müller-Münch Tödliche Polizeigewalt gegenüber Sinti und Roma 1945 bis 1980

Eine journalistische Recherche im Auftrag der „Unabhängigen Kommission Antiziganismus“

November 2019 bis April 2020

 

 

 

INHALT

 

Vorbemerkung ………………………………………………………………………………………………. 1

Rechercheverlauf und Ergebnisse ……………………………………………………………………. 2

Fallstudien:

Anton Lehmann (53),

erschossen von einem Polizisten in Heidelberg

am 31. Mai 1973 ……………………………………………………………………………………………. 6

Karol Kwiek (26) und Joska Czori (27),

erschossen von einem Polizisten in Hamburg

am 5. November 1960 ………………………………………………………………………………….. 19

Paul Kirsch (23),

erschossen von einem Polizisten in Neustadt a.d. Donau (Ostbayern)

am 25. Juli 1950  …………………………………………………………………………………………. 32

Karl Mettbach (53),

erschossen von einem Polizisten in Hagen

am 8. Mai 1979 ……………………………………………………………………………………………. 35

 Vorbemerkung

Die Recherchen zielten darauf ab, die Hintergründe, Verläufe und Folgen von Fällen tödlicher Polizeigewalt gegen Sinti und Roma in den Jahren 1945 bis 1980 zu dokumentieren und dabei auszuloten, inwiefern antiziganistische Motive bei den Todesschüssen in der Bundesrepublik von Bedeutung waren.

Die Jahre 1945 bis 1980, also der Zeitrahmen meiner Recherche, waren geprägt von einem unverhohlenen Antiziganismus. Polizeiliche Schikanen gegenüber Sinti und Roma waren an der Tagesordnung. Dies führte dazu, dass die „Gesellschaft für bedrohte Völker“ Anfang 1981 plante, ein Dokumentationszentrum über die seit 1945 erfolgten polizeilichen und behördlichen Übergriffe gegen Sinti und Roma einzurichten.[1] Ausgelöst worden war dieser Entschluss durch eine Reihe von unverhältnismäßigen und brutalen Polizeieinsätzen sowie die Weigerung der Behörden, angemessene Schritte gegen derartige polizeiliche Rechtsverstöße einzuleiten, schrieb damals die „Frankfurter Rundschau“.

Zur zeitgeschichtlichen Einordnung gehört das weitgehende Fortwirken der für den Völkermord an Sinti und Roma Verantwortlichen, sei es in Polizeibehörden, in kommunalen Verwaltungen, in der Justiz oder in Ministerien.[2] Die meisten NSVerbrechen blieben ungesühnt und kaum ein Täter oder eine Täterin wurde verurteilt. Eine offizielle Anerkennung des Völkermordes erfolgte erst 1982 durch Bundeskanzler Helmut Schmidt.

Die überlebenden Sinti und Roma waren in dieser Nachkriegsgesellschaft nicht willkommen. Sie kehrten aus den Lagern oder dem Exil in ihre Heimatorte zurück und standen buchstäblich vor dem Nichts.[3] Alle Zurückgekehrten hatten Angehörige in Konzentrations- oder Vernichtungslagern verloren und mussten sich, meist völlig auf sich allein gestellt, eine neue Existenz aufbauen. In den Kommunen erfuhren die Überlebenden keine Unterstützung, sondern wurden in der Regel an die Stadtränder verdrängt, wo sie in improvisierten Behausungen oder auf Lagerplätzen leben mussten. Aus den Provisorien entstanden vielerorts dauerhafte Wohnstätten, weil die Kommunen die Ausgrenzung von Sinti und Roma fortsetzten.[4] Im Oktober 1955 korrespondierte beispielsweise der Regierungspräsident Arnsberg mit dem NRWInnenminister unter dem Betreff: „Landfahrerplage“ über die Möglichkeit einer

Ausweisung der „Landfahrer“ aus dem Stadtgebiet.[5]

Die Abneigung gegenüber Sinti und Roma geht deutlich aus einem Schreiben des

Dienststellenleiters des Haupternährungsamtes der Gemeindeverwaltung Harburg

 

hervor, das er am 3. August 1945 an den Bürgermeister des Ortsamtes schickte. Darin heißt es:  

An der Waßmerstraße befindet sich eine Kolonie von 234 Zigeunern. Viele dieser Leute sind, wie nicht anders zu erwarten war, KZ-Häftlinge gewesen. Diese minderwertigen Kreaturen (sind) ja jedem als Nichtstuer, Bettler und Tagediebe bekannt. (Sie machen) Bezugsrechte (als NS-Verfolgte) geltend. (Oft) werden die Brüder (dabei) frech. (Wir würden gerne) Vorschläge vortragen, um Wilstorf endgültig von der Zigeunerplage zu befreien.“[6] Ein Beispiel unter vielen.

Vor diesem Hintergrund der personellen Kontinuitäten und fortgesetzten rassistischen Praktiken fielen die anhand von Dokumenten, Zeitungsartikeln und Interviews von mir rekonstruierten fünf tödlichen Schüsse von Polizisten auf Sinti oder Roma.

 

Rechercheverlauf und Ergebnisse

Zu Beginn der Recherche gab es zunächst nur einen Anhaltspunkt: Ich kannte den Heidelberger Fall des Sintos Anton Lehmann, der am 31. Mai 1973 von einem Polizisten getötet worden war.

Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma, hatte 1982 zum ersten Mal von vierzehn im Zeitraum von 1945 bis 1980 durch die Polizei erschossenen Sinti und Roma gesprochen.[7] Im Interview mit mir konnte er leider nicht mehr genau rekonstruieren, wie diese Zahl zustande gekommen war. Aller Wahrscheinlichkeit nach sei sie durch Umfragen bei den Landesverbänden des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma erstellt worden, denn sonst wäre sie nicht so genau gewesen: „Wir haben nicht 15 gesagt und nicht 20, sondern 14“.8 Romani Rose erinnerte sich allerdings daran, dass es „sehr unterschiedliche Fälle waren. Aber sie zeigen, mit welcher Angst auch die Polizeibeamten in die Konfrontation geschickt worden sind, von ihren Lehrern, die früher die SS-Uniform getragen haben.“9

Damals waren die Innenminister aller Bundesländer sowie der Bundesinnenminister von Romani Rose angeschrieben und auf diese Todesschüsse aufmerksam gemacht worden. Einer der wenigen, der überhaupt hierauf einging, war der NRW-

Innenminister Herbert Schnoor (SPD), der am 11. Februar 1982 an Rose schrieb:

 

„Ich sehe mich nicht in der Lage, zu Ihrem Hinweis auf mindestens 14 erschossene

Roma und Sinti Stellung zu nehmen. Die Polizei führt keine Statistik über den Schusswaffengebrauch, in der die verletzten oder getöteten Personen nach Rassen oder Nationalitäten gezählt werden. Ich kann daher nicht beurteilen, ob diese Zahl richtig oder im Verhältnis zu anderen Volksgruppen besonders hoch oder niedrig ist.“[8]

Tatsächlich führen statistische Übersichten auch heute nicht zu weiteren

Erkenntnissen. Ich musste also anderweitig nachforschen und kontaktierte

Kriminologen, die sich mit Polizeigewalt befassen, Kollegen und Kolleginnen,

Archivare und Archivarinnen, Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, Antisemitismusbeauftragte in verschiedenen Bundesländern ebenso wie Organisationen, die Überlebende des Holocaust unterstützen. Politiker wurden angefragt, Stiftungen und Polizeihochschulen angeschrieben, Staatsarchive aufgesucht. Das Internet wurde durchforstet.

Häufig bekam ich ähnliche Absagen, wie die von der Hagener Staatsanwaltschaft: „Der Name […] ist in unserem System nicht verzeichnet. Es arbeitet hier auch niemand mehr, der sich an einen solchen Fall aus eigenem Erleben erinnern könnte.“[9] Oder von der Pressestelle des Bundeskriminalamtes: „Ich bedaure“, schrieb die BKA-Sprecherin, „aber weder zu den genannten Vorfällen noch zu den Opfern liegen mir Informationen vor. Die angesprochenen Opferstatistiken werden im BKA nicht geführt.“[10] Oder vom Hamburger Staatsarchiv, an das ich den Namen des Polizisten schickte, der damals geschossen hatte: Eine Recherche habe leider keine Fundstellen ergeben.

Mithilfe der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma habe ich tagelang in den Ordnern und Kisten ihres Archives gewühlt. Wir vereinbarten, dass sie an alle Landesverbände Deutscher Sinti und Roma schreiben und um Mithilfe bei der Suche nach Beispielen für Polizeischüsse aus dem genannten Zeitraum bitten würden. Was auch geschah.

Sehr viel hatte ich mir vom Archiv des Rom e.V. in Köln erhofft. Doch der dort aufbewahrte Nachlass des Bürgerrechtsaktivisten Kurt Holl − der in Köln lange für Bündnis 90/Die Grünen im Polizeibeirat vertreten gewesen war − ist noch nicht erschlossen.

Der erste Durchbruch kam, als mir der Polizeiexperte und Journalist Otto Diederichs ein Zeitungs-Interview mit einem Augenzeugen des Hagener Polizeischusses zuschickte. Kurz darauf erfuhr ich über das Archiv des Westdeutschen Rundfunks, dass in Hamburg 1960 zwei Roma erschossen worden waren.

Danach gewann die Recherche an Dichte. Im Fall des Heidelbergers Anton Lehmann erhielt ich das schriftliche Urteil im Prozess gegen die Söhne Lehmanns ebenso wie die Einstellungsverfügung der Ermittlungen gegen den Polizeischützen. Das wiederum stellte ich dem gegenüber, was mir der Neffe des erschossenen Anton Lehmann erzählte. Kombiniert mit Zeitungsausschnitten und Archivdokumenten war

 

damit erstmals ein Fall ausrecherchiert, soweit dies fast 50 Jahre nach den Geschehnissen noch möglich war.

Wenig später meldete sich auf das Rundschreiben des Zentralrates eine Frau aus Neustadt a.d. Donau und sagte, Paul Kirsch, Cousin ihrer Mutter, sei 1950 von einem Polizeibeamten erschossen worden.

Ich recherchierte in Hamburg, wurde durch das „Archiv der sozialen Bewegungen“ geleitet, führte ein Interview mit dem Vorsitzenden der Rom und Cinti-Union, Rudko Kawczynski, der sich an die Polizeischüsse von 1960 erinnerte. Und so langsam ergab sich ein Bild dessen, was geschehen sein konnte. Es wurde deutlich, dass ich zwar nicht alle vermuteten, jedoch zumindest fünf Fälle tödlicher Schüsse aus Polizeiwaffen finden würde. Hinzu kämen zwei Fälle, wo zwar geschossen worden war, die Betroffenen jedoch überlebt hatten.

Was ist nun das Ergebnis dieser Recherche? Sind die tödlichen Schüsse auf Sinti und Roma Zeugnis für Antiziganismus jener Zeit?

Ja, das sind sie. Auch wenn die Antwort im Detail erst bei genauerem Hinsehen ersichtlich wird und sich dieser Rückschluss nur im Kontext dessen ergibt, was vorher und nachher geschah und wie der Zeitgeist das Geschehen prägte. Allein der tödliche Schuss auf Karl Mettbach, soweit er rekonstruiert werden konnte, kommt für mich fast einer standrechtlichen Erschießung gleich. In allen anderen Fällen gab es Auseinandersetzungen, Schlägereien, ein unübersichtliches Durcheinander. An dessen Ende standen sich dann Aussage gegen Aussage gegenüber.

Was bleibt, sind zahlreiche Fragen:

  • Warum schoss ein Polizist, der sich bedrängt fühlte, gleich sein ganzes Magazin leer, tötete einen Menschen und verletzte andere schwer? Hätte da nicht ein Warnschuss genügt?
  • Warum wurden die Ermittlungen gegen diesen Polizisten eingestellt, drei seiner verletzten Opfer aber angeklagt und verurteilt?
  • Warum endete ein Streit um Pfand für einen Kasten Bier, eine

Auseinandersetzung wegen des Vordrängelns in einem Metzgerladen oder ein

Disput um das Aufstellen von Kegeln in einer Gastwirtschaft mit tödlichen Schüssen aus Polizeiwaffen? Lag es daran, dass die Gegenüber der Polizisten Roma oder Sinto waren?

  • Wäre die Polizei ebenso martialisch, wie sie es in den meisten der von mir recherchierten Fälle tat, auch in anderen Zusammenhängen aufgetreten?
  • Hatte dies womöglich etwas damit zu tun, dass sie schon vor ihrem Einsatz von Kollegen in Alarmbereitschaft versetzt worden waren durch den Hinweis, es handele sich um „Zigeuner“? Kann es sein, dass sie sich daraufhin entsprechend wappneten? Aus Angst, Unsicherheit, Rassenhass?
  • Glaubte man gegenüber Sinti und Roma zu schärferen Mitteln und

Maßnahmen greifen zu müssen, um einen Einsatz erfolgreich durchzuführen?

  • Wie traumatisch waren die Ereignisse für die Angehörigen der Erschossenen und welche Rolle spielt es dabei, dass die Taten nicht bzw. in den Augen der Sinti und Roma nur unzureichend juristisch verfolgt und geahndet worden sind?

Auffällig ist, wie schnell nach den Todessschüssen Polizei und Staatsanwaltschaft öffentlich kundtaten: Der Polizist schoss in Notwehr. Meist wurde dies schon einen Tag nach den Schüssen verkündet, also noch bevor die Ermittlungen richtig aufgenommen, beteiligte Sinti oder Roma überhaupt gehört worden waren. Und wenn man die Betroffenen Tage später vernahm, dann geht aus den

Ermittlungsakten klar hervor, wie wenig man ihnen glaubte. Sie hatten keine Chance, mit ihrer Version der Geschehnisse Gehör zu finden.

Alle Details, die meine Einschätzung untermauern, finden sich in den einzelnen Fallbeschreibungen, in deren Verlauf die Recherchen und Quellen genannt werden, die ich zu den jeweiligen Fällen finden konnte. Außerdem werden dort die Personen, mit denen ich gesprochen oder Interviews geführt habe, namentlich genannt. Neben den in den Fallstudien zitierten Quellen und Interviews wurden im Zusammenhang mit den Recherchen für spezifische oder allgemeine Fragen zahlreiche schriftliche Korrespondenzen oder telefonische Gespräche geführt.13

Für die Darstellung der fünf Fälle, bei denen Polizisten Männer aus den Communitys der Sinti und Roma erschossen, habe ich im Folgenden die Geschehensabläufe und die jeweiligen Sichtweisen von Betroffenen, Polizisten, Gerichten und Öffentlichkeit anhand der zusammengetragenen Materialen beschrieben. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Quellenlage nach wie vor sowohl lückenhaft als auch sehr einseitig ist. Die etwa in Justizakten und Zeitungsartikeln festzustellende

mehrheitsgesellschaftliche Perspektive überwiegt. Dennoch habe ich mich für diese Darstellungsweise entschieden, um möglichst viele Details der Recherchen für zukünftige Studien zur Verfügung zu stellen.

Weitere Studien sind unbedingt erforderlich. Der Befund, dass die Recherchen zunächst ergebnislos verliefen und sich dann als äußerst langwierig erwiesen, ist nicht allein auf die inzwischen verstrichene Zeit zurückzuführen. Dies liegt auch darin begründet, dass Polizeigewalt gegen Sinti und Roma nach 1945 kaum auf Interesse stieß und bis heute nicht systematisch untersucht wurde. Es bleibt zu hoffen, dass

 

13 Chana Dischereit, Landesverband Deutscher Sinti und Roma Baden-Württemberg; Herbert Heuß und Jonathan Mack, Zentralrat Deutscher Sinti und Roma; Dr. Frank Reuter, Forschungsstelle Antiziganismus an der Universität Heidelberg; Nadine Küßner, Pädagogische Hochschule Heidelberg; Stadtarchiv Heidelberg; Prof. Dr. Christoph Kopke, HWR Berlin, Fachbereich Polizei- und

Sicherheitsmanagement; Dr. Robert Sigel, Mitarbeiter des bayerischen Antisemitismusbeauftragten im

Kultusministerium; Otto Diederichs, Bürgerrechte und Polizei CILIP; Prof. Dr. Thomas Feltes, Ruhr-

Universität Bochum; Prof. Dr. a.D. Hajo Funke, FU Berlin; Prof. Dr. Thomas Bliesemer,

Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen; Dr. Karola Fings, heute Forschungsstelle

Antiziganismus an der Universität Heidelberg; Klaus Jünschke, Sozialwissenschaftler; Rechtsanwalt

Paul Jochum, Köln; Barbara Hübner, BKA; Friedrich-Naumann-Stiftung; WDR-Pressearchiv; Mittelbayerische Zeitung; Neue Osnabrücker Zeitung, Rhein-Neckar-Zeitung; Neues Deutschland;

Rom e.V. Köln; Sinti-Union Freiburg; Archiv für Alternatives Schrifttum in NRW e.V., Duisburg; Villa

Ten Hompel, Münster; Deutsche Hochschule der Polizei, Münster; alle Landesverbände Deutscher

Sinti und Roma in der Bundesrepublik Deutschland; Gesellschaft für bedrohte Völker, Göttingen;

Archiv der Zeitschrift Neues Deutschland; Archiv der Zeitschrift Stern; Archiv der Zeitschrift Der

Spiegel; diverse Landes- und Staatsarchive; Staatsanwaltschaften; Generalstaatsanwaltschaften; Redaktion der Zeitung „Lotta“, Oberhausen; Svenja Bednarczyk, taz; Anke Petermann, freie

Deutschlandradio-Korrespondentin; Markus Reinhardt, Maro Drom e.V., Köln; Kriminalistisches Institut des BKA; Dr. Ulrich F. Opfermann, Historiker; Reinhard Schippkus, NS-Dokumentationsstelle Krefeld; Erich Berner, Supervisor; Adelheid Schmitz, FH Düsseldorf; Ute Wolters, Kinderbuchautorin; Anita Awosusi, Zentralrat Deutscher Sinti und Roma; Dr. Andreas Eichmüller, NS-Dokumentationszentrum München.

 

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durch diese Veröffentlichung die Aufmerksamkeit für das Thema steigt und sich

Archive, Behörden oder Einzelpersonen melden, denen weitere Fälle bekannt sind.

Anton Lehmann (53), erschossen von einem Polizisten in Heidelberg am 31. Mai 1973

 

 

 

Der 31. Mai 1973 fiel auf einen Donnerstag. Es war Christi Himmelfahrt, wie üblich wurde Vatertag gefeiert. So auch im Notwohngebiet Mörgelgewann, das die Stadt Heidelberg 1957 zur Unterbringung von Flüchtlingen aus der sogenannten Ostzone im Heidelberger Stadtteil Kirchheim errichtet hatte und das kurz danach auch als Obdachlosenunterkunft genutzt wurde. Auf dem dortigen „Landfahrerplatz“ − wie dieses Areal in der Nähe der Speyerstraße im Volksmund genannt wurde − lebte zu der Zeit eine Familie Lehmann. Mehrere Mitglieder der Familie waren im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ermordet worden; die Überlebenden waren nach der Befreiung in ihren Heimatort zurückgekehrt. Der an diesem Tag getötete Anton Lehmann war ebenfalls in einem Konzentrationslager inhaftiert gewesen.[11]

An jenem Tag „hatte meine Oma Geburtstag“, erinnert sich der damals 26 Jahre alte Sinto Johann Lehmann in einem Ende 2019 mit mir geführten Interview.[12] Das sollte gefeiert werden. Sein Onkel Anton Lehmann machte sich also mit einem seiner drei Söhne auf, in der nahegelegenen Gaststätte „Union“ einen Kasten Bier zu kaufen. Es kam zu einem Streit über das Flaschenpfand. Die Polizei wurde gerufen, fuhr zum Haus des Großvaters, in das Anton Lehmann samt Sohn inzwischen zurückgekehrt waren. Wenig später wurde Anton Lehmann von einem 23-jährigen

Polizeioberwachtmeister erschossen. In Notwehr, wie es sofort vonseiten der

Ermittler hieß und wie dies später ein Gericht bestätigte. Der Neffe des Getöteten, Johann Lehmann, behauptet hingegen, dass die Polizei aggressiv aufgetreten sei und „gleich die Kanone rausgenommen und geschossen hat“. Dabei beruft er sich auf die Schilderungen von Familienangehörigen, die damals dabei gewesen waren.

Die tödlichen Schüsse dieses Tages hatten nicht nur juristische Folgen. Sie führten auch zur ersten Demonstration von Sinti und Roma in der Bundesrepublik, in der sie auf ihre Lage und ihre anhaltende Diskriminierung aufmerksam machten.

 

Schlussfolgerungen nach der Recherche

Bei näherer Betrachtung dessen, was am 31. Mai 1973 geschah, wird schnell klar, wieviel die rasante Eskalation damit zu tun hatte, dass sich der polizeiliche Einsatz gegen Sinti richtete.

Nicht nur, dass sich Angehörige der Familie Lehmann durch rassistische Beschimpfungen und Angriffe in der Gaststätte diskriminiert fühlten und entsprechend erregt waren. So soll der Satz „Ihr dreckigen Zigeuner gehört vergast“ gefallen sein.16 Als dann auch noch das zum Haus der Lehmanns geschickte, für eine simple Personenüberprüfung und einen Alkoholtest überdimensionierte

 

Polizeiaufgebot entsprechend bedrohlich auftrat und „gleich den Gummiknüppel“ zog“[13], trug dies nichts zur Beschwichtigung der Lage bei. Im Gegenteil: Die Lehmanns sahen in den Polizisten das Abbild der Nazis, die sie jahrelang verfolgt und bedroht hatten. Der später erschossene Anton Lehmann hatte noch versucht zu argumentieren und einem Polizisten zugerufen: „Du Dreckspatz, junger Rotzer, du hörst mir ja gar nicht zu, wenn ich dir die Sache erzähle! Ihr seid Nazischweine!“[14]

Umso unverständlicher ist daher die Einschätzung der Justiz im späteren

Strafprozess gegen drei Söhne des erschossenen Anton Lehmann, die Familie habe das Erscheinen von fünf Polizeibeamten in ihrem Vorgarten als eine Provokation empfunden, obgleich dafür nicht der geringste Anlass bestanden habe. Diese Behauptung zeigt, dass die Richter die Verfolgungsgeschichte dieser Familie sowie den Genozid an Sinti und Roma während des Nationalsozialismus in keiner Weise in ihre Betrachtung einbezogen. Denn vor diesem Hintergrund bestand für die Familie durchaus Anlass, sich vor einem solchen Polizeiaufgebot zu fürchten und dagegen zu wehren.

Die auf die Tat folgende Presseberichterstattung war geprägt von verhalten bis offen geäußerten rassistischen Zuschreibungen gegenüber den Lehmanns. Immer wieder wurde in der Lokalpresse darauf hingewiesen, dass es sich bei ihnen um „Zigeuner“, um eine „Sippe“ handele. Die Stimmung wurde zusätzlich angeheizt durch die am folgenden Tag öffentlich geäußerte Ansicht der Staatsanwaltschaft, der Polizist, der

Anton Lehmann erschoss und weitere Personen verletzte, habe durch Angriffe der „Zigeuner“ einen Schädelbruch erlitten, wie die Lokalpresse übereinstimmend berichtete. Das erwies sich später als falsch. Außerdem hieß es vorschnell, der Beamte habe in Notwehr gehandelt, was allerdings einen Tag nach dem Vorfall noch niemand wissen konnte, da Ermittlungen gerade erst aufgenommen worden waren.

Das Absurde und Skandalträchtige an diesem Fall ist allerdings nicht nur die Tatsache, dass ein Polizist acht Schüsse aus seiner Dienstpistole abgab, ohne zunächst auch nur einen Warnschuss abzufeuern. Was das Ereignis vom 31. Mai 1973 noch ungeheuerlicher macht ist die sich anschließende juristische Aufarbeitung.

Nicht etwa der Todesschütze wurde angeklagt und zur Rechenschaft gezogen.

Vielmehr wurden die zum Teil schwer verletzten Söhne des erschossenen Sinto

Anton Lehmann ein Jahr später vor Gericht wegen Widerstands gegen die

Staatsgewalt in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und Raufhandels zu teils mehrjährigen Haftstrafen verurteilt.[15]

Das Verhalten der Söhne, so geht aus der schriftlichen Urteilsbegründung des

Landgerichts Heidelberg hervor, habe den tätlich mit einer Schaufel angegriffenen

Polizisten so verängstigt und provoziert, dass der nicht anders konnte als sich durch

 

acht Schüsse zu wehren. Somit also sein ganzes Magazin leer zu feuern. Aus Notwehr – wie die Strafrichter und auch die Staatsanwaltschaft dem Polizeibeamten

zubilligten. Folgerichtig wurde das gegen den Polizeischützen eingeleitete Ermittlungsverfahren eingestellt.

In ihrer Einstellungsverfügung bezeichnete die Staatsanwaltschaft den Erschossenen als den „tödlich verunglückten“ Anton Lehmann.[16] Eine Formulierung, dazu angetan, den Tathergang zu beschönigen, die Schüsse herunterzuspielen und Verständnis für den Polizeischützen aufzubringen.

Urteil und Einstellungsverfügung machen deutlich, dass weder Staatsanwaltschaft noch Richter den Lehmanns glaubten, sondern sich stattdessen ausschließlich auf die Aussagen der Polizisten stützten. Die Strafkammer zum Beispiel war davon überzeugt, dass die Lehmanns im Zeugenstand und als Angeklagte „nach Kräften bemüht waren, ihre Beteiligung an den Tätlichkeiten zu verharmlosen und zu verschleiern.“ Den Polizisten hingegen wurde attestiert, ihre Aussagen würden keinerlei Widersprüche aufweisen. Somit bestehe nicht der geringste Zweifel, dass sie bemüht wären, nichts zu beschönigen, sondern sich an den Tatsachen orientierten. Die Strafkammer folgt hier einseitig den Darstellungen der Polizisten , die ein großes Interesse daran hatten, den Ablauf in ihrem Sinne darzustellen und die Schüsse des Kollegen in für ihn besonders günstigem Licht darzustellen.[17]

Alles in allem waren die Lehmanns angesichts der Geschlossenheit von Polizei und Justiz von vornherein im Nachteil. Sowohl gegenüber der bedrohlich auf sie wirkenden Polizei, gegen die sie sich mit Latten und Schaufeln glaubten, zur Wehr setzen zu müssen, als auch gegenüber der Justiz, die von Anfang an in den Lehmanns die Verursacher der tödlichen Schüsse sah. Während der Polizeischütze insgesamt auf Zustimmung und Verständnis stieß und von einer justiziellen Verfolgung verschont blieb.

 

 

 

Die Sicht der Familie Lehmann und der Bürgerrechtsbewegung

Als einziges Familienmitglied war ein Neffe des erschossenen Anton Lehmann bereit, mit mir über das damalige Geschehen zu sprechen. Johann Lehmann befand sich zwar nicht auf dem Gelände seines Großvaters in Heidelberg, als die tödlichen Schüsse fielen. Er traf aber kurz danach dort ein. In einem Interview beschrieb er mir den Ablauf des tödlichen Vorfalls so, wie ihm seine Verwandten dies geschildert hatten:

„Ich habe einen Anruf bekommen, von meinem ältesten Cousin […].“ Damals lebte

Johann Lehmann in der Nähe von Heidelberg. Er war 26 Jahre alt, leidenschaftlicher Boxer und dabei, den Grundstein für seinen heutigen Erfolg als Geschäftsmann zu legen. Der Cousin „… sagte, es hätte Streit gegeben und wahrscheinlich sei sein Vater tot.“ Johann Lehmann fuhr sofort los, war ein bis anderthalb Stunden nach dem Geschehen vor Ort. Zu der Zeit war die Polizei noch auf dem Grundstück. „Ich stand ja unter Strom. Ich hab’ zwar meine Cousins gesehen, die wo überlebt haben. Weil zwei Cousins waren ja im Krankenhaus. Die wurden ja angeschossen. Es war alles durcheinander. Die Leute sind rumgerannt.“[18]

Über den Streit in der Gaststätte „Union“ erfuhr er folgendes:

„Da ging das hin und her. Und dann hat der Onkel wohl zu der Wirtin gesagt, sie kriegen jetzt mal gar nichts. Sie fangen an zu lügen. Und so ein Wort, wer weiß, was da alles gefallen ist. Mein Onkel ging dann raus, und dann haben die die Polizei angerufen. Wo mein Onkel raus ist aus der Kneipe, ist er ja nach Hause, mit seinem Sohn. Die Gaststätte ‚Union’, die ist nicht weit weg vom Mörgelgewann. Und da kam die Polizei, sind gleich aggressiv geworden. Die sind gekommen und haben gesagt, wenn Sie nicht bezahlen, dann nehmen wir Ihnen das Bier wieder ab. Und mein Onkel hat sich dagegen gewehrt, hat gesagt, wieso? Und dann haben sie sich wegen dem Pfand, was weiß ich, wegen dem Flaschenbier, gestritten, dann sind die immer aggressiver geworden. Und der eine hat gleich die Kanone rausgenommen und hat gleich angefangen zu schießen. Bei uns Zuhause. Wir waren bei meinem Großvater Zuhause. Das war draußen, wo der geschossen hat. Weil da war ein Vorgarten noch dabei, bei unserem Haus da. Bei meinem Opa. Und da ist es draußen schon losgegangen. Unsere Leute haben gar keine Waffen in der Hand gehabt. Wieso hat er angefangen zu schießen? Das eine Magazin war leergedonnert von dem.“

Außer von Johann Lehmann wurde auch von Vinzenz Rose, damals Vorsitzender des „Verbandes der Cinti“, der Hergang gegenüber der Presse geschildert. Dabei stützte er sich auf die Aussage der Frau des Getöteten:

„Danach wollten Vater und Sohn (Lehmann) den Vatertag begießen, gerieten später dann mit der Kellnerin in Streit, da ihnen der Bierpreis zu hoch vorkam. Bevor sie das Lokal verließen, habe der Sohn die Kellnerin gestoßen. Später hätten mehrere

Polizisten die Wohnung mit gezogenen Waffen gestürmt. Als man dem Sohn habe

Handschellen anlegen wollen, habe sich dieser geweigert und den Beamten zu Boden gestoßen, der ihn daraufhin niederschoss. Erst dann habe der Vater eingegriffen. Die Mutter sei später in Handschellen ‚blutüberströmt wie ein Stück Vieh abgeführt‘ worden.“23

Auf den letztgenannten Vorwurf ging später niemand ein. Auch nicht auf den Vorwurf, in der Klinik hätten Ärzte in Zusammenhang mit den eingelieferten

 

verletzten Sinti und dem erschossenen Vater gesagt: „Der ist Zigeuner, lass ihn abfahren.“24

 

Die Darstellung in der Lokalpresse und aus Sicht der Staatsanwaltschaft25

Schon in der Lokalberichterstattung finden sich unmittelbar nach den Schüssen rassistische Darstellungen gegenüber den betroffenen Sinti. So heißt es über drei Vertreter des „Verbands deutscher Cinti“, die an einer Pressekonferenz gleich nach den tödlichen Schüssen teilgenommen hatten: „Alle drei gaben sich höflich.“ [19] Eine Formulierung, die unterschwellig beinhaltet, dass die Drei Höflichkeit nur simulierten, in Wirklichkeit aber verschlagen seien.

Der Polizist, der die tödlichen Schüsse abgab, wird hingegen verständnisvoll als „junger Polizeibeamter“ beschrieben. Wobei das Attribut „jung“ auch darauf anspielt, er sei unerfahren, naiv, überfordert gewesen.

„Schwer verletzt, unter anderem mit einem Schädelbruch durch Schläge mit einem Spaten“, liege er „in der Klinik und ist noch nicht vernehmungsfähig“, schrieb die Rhein-Neckar-Zeitung weiter. Es ist wahrscheinlich, dass sich die Lokalpresse hier auf Aussagen von Polizei oder Staatsanwaltschaft stützte. Diese hatte ein Interesse daran, die Notfalllage des Schützen zu betonen, um ihre von Anfang an vertretene Auffassung, es handele sich um Notwehr vonseiten des Polizisten, zu untermauern. Womöglich deshalb dramatisierte sie die Verletzungen des Polizisten und behauptete, dieser habe einen „Schädelbruch“ erlitten. Das war allerdings unzutreffend, denn der spätere Prozess gegen die Lehmann-Söhne ergab, dass der 23-jährige Schütze zwar eine Platzwunde erlitten hatte, aber keinen Schädelbruch.

Stattdessen hatte er Prellungen an Hand, Schultern, Rücken und in der

Nierengegend. „Er hat zwar Narben davongetragen, aber keine Dauerfolgen“, so das Heidelberger Landgericht in seiner Urteilsbegründung.[20]

In ersten Berichten der damaligen Lokalpresse wird die Darstellung der Wirtin der Gaststätte „Union“ folgendermaßen wiedergegeben:

 

24 Rhein-Neckar-Zeitung vom 2./3.6.1973. Dort heißt es: „Zunächst unwidersprochen blieb die Behauptung, in der Klinik hätten Ärzte gesagt: ‚Der ist Zigeuner, lasst ihn abfahren‘, und als der Sohn nach dem inzwischen gestorbenen Vater fragte, habe man ähnlich rücksichtlos reagiert.“ 25 Als Quellen dienen hier vor allem die Berichte in den Zeitungen „Heidelberger Tageblatt“ vom 2./3.6.1973: „Vater erschossen – Zwei Söhne verletzt“ + „Rhein-Neckar-Zeitung“ vom 2./3.6.1973: „Schwerverletzter Polizist erschoss Zigeunervater“ + „Heidelberger Tageblatt“ vom 5.6.1973: „Haftbefehle wegen Mordversuchs“ + „Heidelberger Tageblatt“ vom 8.6.1973: „Große Trauergemeinde bei Beerdigung des Zigeunervaters“ + „Heidelberger Tageblatt“ vom 18.6.1973: „Wir wollen Gerechtigkeit, keine Rache“ + Stuttgarter Zeitung vom 19.6.1973: „Zigeuner demonstrieren in

Heidelberg“ + „Heidelberger Tageblatt“ vom 19.6.1973: „Die Schüsse haben uns alle getroffen „+

„Rhein-Neckar-Zeitung“ vom 19.6.1973, „Zigeuner protestieren gegen Diskriminierung“ +“ „RheinNeckar-Zeitung“ vom 7.3.1974, „Vor der großen Strafkammer am Landgericht. Blutige Vatertagsfeier mit Tod und Schießerei“ + „Heidelberger Tageblatt“ vom 7.3.1974: „Prozess gegen drei Cinti begann: Wie kam es zu den tödlichen Schüssen?“ + „Rhein-Neckar-Zeitung“ vom 8.3.1974: „Urteile im

Zigeuner-Prozess verkündet“ + „Heidelberger Tageblatt“ vom 8.3.1974: „Strafkammer spricht CintiBrüder schuldig“ + „Rhein-Neckar-Zeitung“ vom 9./10.3.1974: „Massive und lebensbedrohende Tätlichkeit“.

„Vater und Sohn Lehmann betraten kurz nach 20:15 Uhr das Lokal, um einen Kasten

Bier zu holen und legten dafür 13 Mark auf den Tisch. Es kam zum ersten

Wortwechsel, weil der Kasten nun einmal 22 Mark kostet. Schließlich wollte die Wirtin Vater und Sohn aus dem Lokal weisen. Vom Sohn erhielt sie einen Stoß, dass sie stürzte, dann holte sie zu ihrem Schutz einen Farrenschwanz[21], der ihr jedoch vom Vater Lehmann entwunden wurde. Wieder lag sie am Boden, wurde mit Füßen getreten, Gläser und Aschenbecher flogen durch die Luft, einer traf die Tochter am Bauch, als sie die Polizei alarmierte. Wer immer sich einmischte wurde mit und ohne

Farrenschwanz verschlagen. Erst als ein Streifenwagen auftauchte und die beiden

Beamten angesichts der Situation Verstärkung anforderten, verließen Vater und

Sohn das Lokal und brausten im hellblauen Mercedes davon.“[22]

Dem fügte die Staatsanwaltschaft öffentlich hinzu: „Danach waren drei

Streifenwagen auf Grund der Anzeige (der Wirtin) zu dem Wohnwagen-Anwesen der Lehmanns gefahren, um die Personalien festzustellen. Die fünf Beamten – einer blieb bei den Fahrzeugen – seien mit Beschimpfungen empfangen worden und dann mit Latten, Kanthölzern und einem Beil von mindestens acht Leuten angegriffen worden. Sie entschlossen sich zum Rückzug, um erst weitere Verstärkung zu holen, dabei sei dann außerhalb des Anwesens ein junger Kollege mit einer Schaufel derart niedergeschlagen (worden), dass er einen Schädelbruch erlitt.“[23]

Da von dem am Boden liegenden Beamten nicht abgelassen wurde, habe ein noch nicht genannter Zeuge mit einer Gaspistole auf die Zigeuner geschossen. In höchster Not habe dann der schwer verletzte Beamte die Dienstwaffe gezogen und sechs

Schüsse abgegeben, wie sich anhand des Magazins nachweisen ließ. Mit einem Streifenwagen wurde der verletzte Beamte in die Klinik gebracht. Den Kollegen habe er noch sagen können: „Die hätten mich umgebracht, die hätten mich erschlagen.“[24]

Die Staatsanwaltschaft wird hier mit der Behauptung zitiert, der verletzte Beamte habe sechs Schüsse abgegeben, „wie sich anhand des Magazins nachweisen ließ.“ Warum wurden hier falsche Angaben gemacht und warum berief man sich als

Beweis auf das Magazin der Waffe? Hatten die Ermittler ein Interesse, die Zahl der Schüsse herunterzuspielen, da der Polizist, statt nur einen Warnschuss abzugeben, sein gesamtes Magazin geleert hatte? Der spätere Prozess gegen die LehmannSöhne jedenfalls ergab, dass er genau das getan hat: Acht Schüsse, also das gesamte Magazin, wurden abgefeuert.

Mindestens vier dieser Schüsse trafen Anton Lehmann. Durch zwei weitere Schüsse erlitt einer der Söhne einen Oberschenkeldurchschuss sowie einen

Oberbauchdurchschuss, der Magen und Darm verletzte. Ein zweiter Sohn trug einen Oberschenkeldurchschuss davon. Der Polizist selbst schoss sich in den linken Oberschenkel.

Weiter hieß es, dass „die Zigeuner“ gedroht hätten, sie würden das Kirchheimer Revier stürmen und die Klinik hochgehen lassen, falls der Vater Lehmann stirbt. [25] Daraufhin wurden das Revier und die Chirurgische Klinik unter Polizeischutz gestellt.

„Immerhin hatte die Lehmann-Sippe den jüngeren mit einem Beinschuss

 

eingelieferten Sohn aus der Klinik wieder entführt, bei einer Wohnungsdurchsuchung fand man ihn und brachte ihn wieder zurück, doch man fürchtete auch dort weiterhin Repressalien. Der Zigeuner-Präses gab allerdings das Versprechen ab, dass nichts dergleichen geschehen würde, schon um nicht die Zigeuner im ganzen Bundesgebiet zu diffamieren.“[26]

Der Artikel in der Rhein-Neckar-Zeitung wirkt so, als mache sich sein Autor lustig darüber, dass der Sprecher des Sinti-Verbandes sich „nicht ohne Stolz“ als aus einer Kino-Dynastie stammend bezeichnete und der Presse gegenüber erklärte, er habe studiert und sein Neffe, der zweite Sprecher des Verbandes, sei

Verwaltungsangestellter. In dem Artikel heißt es weiter in Bezug auf drei SintiVertreter: „Die Drei betonten jedoch, dass ein Zigeuner zwar hin und wieder aus Not stehle, dass er jedoch nie eine Gewalttätigkeit begeht. Der Familie des jungen, schwer verletzten Polizisten, sprachen sie ihr ganzes Mitgefühl aus.“

Eine vergleichbare Bezeugung von Mitgefühl ist in keiner der recherchierten Quellen gegenüber den Angehörigen des Getöteten, die überdies zum Teil schwere Verletzungen erlitten hatten, dokumentiert.

 

Protest der Bürgerrechtsbewegung

Ausgelöst durch den Tod von Anton Lehmann gingen am 18. Juni 1973 zum ersten Mal Sinti und Roma in der Bundesrepublik auf die Straße. „Mit schwarzen Fahnen an der Spitze marschierte ein kleiner Zug von knapp 100 Zigeunern durch Heidelberg. Der Schweigemarsch sollte der Protest darauf sein, dass vor zwei Wochen der 53jährige Zigeuner Anton Lehmann bei Auseinandersetzungen mit der Polizei von einem 23-jährigen Wachtmeister erschossen worden ist.[27]

Auf Transparenten hieß es: „Sind wir Zigeuner vogelfrei?“. Unter einem bluttriefenden Hakenkreuz stand: „Sind wir noch ihm ausgeliefert?“ oder „Sind wir Zigeuner Menschen zweiter Klasse?“ Der Protest richtete sich aber auch dagegen, „dass wir wie die Hasen einfach abgeknallt werden.“[28]

Vinzenz Rose, damals Vorsitzender des „Verbandes deutscher Cinti“, appellierte an die Angehörigen der Sinti und Roma, zusammen zu halten. „Was in Heidelberg den Lehmanns und vor einem Jahr im bayerischen Pfaffenhofen[29] passiert ist, das seien

 

Beispiele dafür, „wie es uns geht. Die Schüsse von Pfaffenhofen und Heidelberg haben jeden von uns getroffen; es ist höchste Zeit, uns zusammenzuschließen‘.“37

Schon kurz nach den tödlichen Schüssen hatte sich der Verband zu Wort gemeldet. Vinzenz Rose hatte gegenüber dem Heidelberger Tageblatt festgestellt, dass es nicht angehe, „dass am laufenden Band Zigeuner erschossen werden, die hier nur Pflichten aber keine Rechte haben. Schließlich sind auch wir deutsche Staatsbürger.“[30] Auch hatte er als Sprecher der neuen Bürgerrechtsbewegung darüber geklagt, dass „in Berichten und Akten von Landfahrern gesprochen werde, obwohl man Bundesbürger sei und das Wort Zigeuner ein Schimpfwort und die Herabsetzung der ganzen Rasse sei.“[31]

In seiner Rede auf der Demonstration fragte Rose nun in aller Öffentlichkeit: „Wer von uns kann schon sagen, dass er auf jedem Campingplatz zelten darf, wer von uns kann sagen, dass er die Wiedergutmachung erhalten hat, wer kann sagen, dass er behandelt wird, wie jeder andere Deutsche?“[32] Und weiter: „Wir wollen keine Rache, wir wollen Gerechtigkeit. Wir wollen erreichen, dass auch Zigeuner endlich als das angesehen und behandelt werden, was sie sind: deutsche Staatsbürger – mit allen Pflichten, aber auch mit allen Rechten.“[33]

Bezogen auf die tödlichen Schüsse auf Anton Lehmann äußerten Vinzenz Rose und sein Neffe Romani Rose Zweifel an der Objektivität der Staatsanwaltschaft. Ihrer Ansicht nach ermittle diese nur unter dem „Gesichtspunkt der (polizeilichen)

Notwehr“, statt zu fragen, ob der Einsatz von drei Streifenwagen und mehreren Polizeibeamten, deren Eindringen in das Anwesen der Familie sowie das Abgeben von sechs Schüssen verhältnismäßig gewesen sei.“[34]

Am gleichen Tag veröffentlichte der Verband einen Offenen Brief an den badenwürttembergischen Innenminister Karl Schiess, in dem um genaue Aufklärung der Todesumstände von Anton Lehmann gebeten wurde. Darin hieß es: „Wir hegen die Befürchtung – und der Polizeibericht bestärkt uns in dieser Auffassung −, dass die polizeilichen Ermittlungen in einer Art und Weise geführt werden, die einen Anspruch auf Objektivität nicht erheben können und die darüber hinaus der Staatsanwaltschaft die Einstellung eines Ermittlungsverfahrens gegen den Polizeibeamten zwingend geboten erscheinen lassen könnten.“[35]

Auch wurden in dem Offenen Brief Fragen gestellt: Danach, ob es zutreffe, dass die Polizei acht Stunden später – in einer Nacht- und Nebelaktion – die Behausung des Erschossenen und seiner Familie durchsuchte, in der trügerischen Hoffnung, Waffen zu finden, die die Abgabe der tödlichen Schüsse im Nachhinein wenigstens teilweise gerechtfertigt hätten. Und ob es zutreffe, dass anstelle der erhofften

Maschinenpistolen und Eierhandgranaten – nur eine schlichte Haushaltsschaufel ‚erbeutet’ wurde? Sei auch hierbei die Verhältnismäßigkeit der Mittel gewahrt

 

Urteilsbegründung: Dies sei kein Fall „wo im hintersten Bayern Zigeuner wie Karnickel erschossen werden.“ Goldbrunner habe nicht erkennen können, ob es sich um „Zigeuner“ handelte oder nicht. 37 Rhein-Neckar-Zeitung, 19.6.1973.

worden?[36] Außerdem, so forderte der Verband, solle zukünftig „von der weitverbreiteten Übung deutscher Strafverfolgungsbehörden endlich abgegangen“ werden, „bestehende Gesetzes- und Rechtsvorschriften stets einseitig zu Lasten der Zigeuner zu interpretieren.“

Mitte August 1973 wies das Innenministerium die „Unterstellung, die Angehörigen

(des) Verbandes seien vorliegend als Menschen minderen Rechts behandelt worden (…) nachdrücklich zurück.“[37]

 

Der Prozess gegen drei Söhne des getöteten Anton Lehmann

Am 7. März 1974 begann vor dem Landgericht in Heidelberg der Prozess gegen die drei Söhne des getöteten Anton Lehmann. Der Hauptanklagepunkt: Raufhandel mit Todesfolge. Der Vorwurf des versuchten Mordes war fallen gelassen worden. In einer überraschend kurzen, lediglich zweitägigen Hauptverhandlung versuchte das Gericht zu klären, was geschehen war. Die Strafkammer lehnte allerdings einen

Antrag auf Inaugenscheinnahme des Tatortes mit der Begründung ab, die PolizeiLichtbilder reichten aus, um die Geschehnisse zu rekonstruieren. Eine Entscheidung, die den Anschein erweckt, der Prozess sollte schnell und möglichst unaufwändig geführt werde.

Das Verfahren begann offenbar[38] mit einer Kette an Widersprüchlichkeiten: So gab es unterschiedliche Darstellungen darüber, wer die „handfeste Keilerei“ in der Gaststätte vom Zaun brach. Eine Kellnerin widerrief ihre erste Zeugenaussage und räumte vor Gericht ein, die Mutter der Wirtin habe zuerst zum Farrenschwanz gegriffen. Dabei sollen Worte wie „Ihr dreckigen Zigeuner gehört vergast“ gefallen sein.[39]

Weiter heißt es: „Anton Lehmann, der fünf Jahre im KZ gesessen hatte, soll später auf dem Grundstück von Opa Lehmann, bei dem die Familie feierte, versucht haben, den Polizeibeamten ruhig den Sachverhalt zu schildern. Die Beamten waren mit vier Wagen und Blaulicht angerückt, um nach dem Anruf der Wirtin („Die schlagen mir die

Wirtschaft kaputt’) und einer Anzeige wegen Körperverletzung, ‚eine Personenaufnahme’ zu machen.“

Die angeklagten Lehmann-Söhne räumten vor Gericht ein, tätlich geworden zu sein. Es seien Boxhiebe und Beleidigungen gefallen, gaben sie zu. Man habe schließlich zu Brettern und anderen Gegenständen gegriffen. Was sie allerdings heftig bestritten war die Behauptung des Polizeibeamten, der die Schüsse abgegeben hatte, sie hätten ihn in eine Notsituation gebracht, aus der es keinen Ausweg gegeben habe.

Im Urteil des Landgerichts Heidelberg hieß es über die Schüsse: Der POW fürchtete um sein Leben, „zog seine Dienstpistole und gab zu seiner Verteidigung 8 Schüsse in Richtung seiner Angreifer ab. Noch während der ersten Schüsse wurde weiter auf ihn eingeschlagen. Erst nach und nach ließ man von ihm ab, bis das Magazin

 

leergeschossen war. Dann hatte POW Luft, konnte aufspringen und sich zu seinen Kameraden retten.“

Der Staatsanwalt hatte sich vor Gericht für die „schärfste Ahndung“ der Tätlichkeiten der Lehmann-Söhne gegenüber der Polizei ausgesprochen. „Die Beamten wurden in Ausübung ihres Dienstes zuerst beleidigt, dann behindert, zum Schluss verprügelt und erheblich verletzt. Zwar ließ sich die Tatbeteiligung der drei angeklagten Brüder

Fridolin, Jürgen und Heinz im Einzelnen nicht genau festlegen, aber allein das ‚Mitmachen‘ ist nach dem Paragraphen schon strafbar.“

Das Auffinden der schriftlichen Urteilsbegründung im Prozess gegen die drei Lehmann-Söhne war ein Glücksfall. Hieraus lässt sich rekonstruieren, wie die Justiz die Sache einschätzte. Die Ausführungen der Verteidiger lassen sich allerdings nur anhand von Presseberichten aus den Lokalzeitungen nachvollziehen.

Danach führten sie gleich am ersten Verhandlungstag aus, „dass überhaupt der ganze, den Angeklagten zur Last gelegte Komplex aus den Resten der

Diskriminierung entstanden“ sei. Sonst wäre die Sache ihrer Ansicht nach niemals so eskaliert. Das Schicksal von „Randgruppen in der Gesellschaft, zu denen die Cinti gerechnet werden“, zeuge von nicht bewältigter, sondern allenfalls von verdrängter Vergangenheit. „Der Tag hat gezeigt, wohin Vorurteile führen. Es ist die Ironie des

Schicksals, dass sich gerade die zu verantworten haben, die den Vater verloren“.[40]

Das Plädoyer eines der Anwälte „glich streckenweise einer Anklage gegen die Polizei“, schrieb die Lokalpresse. So hatte ein Verteidiger gesagt: Die Situation stelle sich als „äußerst unheilvolle Eskalation dar, eine Eskalationsschraube, auf der von beiden Seiten gedreht wurde: von Familie L. und der Polizei.“ Dies habe zur Folge gehabt, dass die Brüder L. auf der Anklagebank säßen, die Polizei nicht.[41] Den Polizeieinsatz bezeichneten sie allein wegen seiner Größe als töricht, bemängelten, dass zunächst nur junge Polizisten im Einsatz gewesen seien. Verteidiger Hans-Jörg Fuchs stellte die Frage,[42] ob es sinnvoll gewesen sei, mit vier Fahrzeugen und jungen Beamten, die angesichts der Situation – einer feuchtfröhlichen Vatertagsfeier – polizei-psychologisch überfordert gewesen seien, zum Anwesen der Familie Lehmann zu fahren und dann noch einzuschreiten.

Verteidiger Winfried Pluschke: „Für mich ist das unverhältnismäßig hohe

Polizeiaufgebot ein Phänomen.“[43] Zu dem „phänomenalen Polizeieinsatz“ meinte Pluschke, dass wohl kaum jemand Beamte als Gesprächspartner akzeptieren würde, die mit dem Gummiknüppel in der Hand erschienen. „Es war ein schwerer Fehler, dass die Polizei Angst hatte, ihr Gesicht zu verlieren, und die Familie musste ihn teuer bezahlen“, so Pluschke.

Ein Teil der Polizisten hatte vor Gericht eingestanden, „schon gleich den

Gummiknüppel“ gezogen zu haben. Weniger die Polizisten als vielmehr die Familie Lehmann hätte sich nach Ansicht eines Verteidigers deshalb provoziert fühlen müssen. Einer der Verteidiger hielt den Beamten zugute, dass sie in der Gaststätte

„falsch programmiert wurden“ und wies gleichzeitig daraufhin, dass „Gerüchte über

 

bedrohte Zeugen so ganz in das Klischee der rächenden Zigeunersippe“ passten. Über die Lehmanns sagte er: „Die Familie fühlte sich unschuldig.“[44]

Am 26. September 1974 wurde nach nur zweitägiger Verhandlung das Urteil verkündet: „Die Angeklagten“, so lautete es, „sind eines gemeinschaftlich begangenen Vergehens des Widerstandes gegen die Staatsgewalt, in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und Raufhandel schuldig.“

Verurteilt wurden: Ein Lehmann-Sohn wegen Raufhandels, gefährlicher Körperverletzung und Widerstands gegen die Staatsgewalt zu zwei Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe, unter Einbeziehung einer noch nicht abgesessenen Jugendstrafe. Der zweite wegen der gleichen Delikte zu 15 Monaten. Der dritte der Brüder erhielt nach dem Jugendstrafrecht zwei Wochen Dauerarrest.

„Dem Plädoyer der Verteidiger, wonach die gesellschaftlichen Vorurteile und

Stereotype das Handeln der Polizisten beeinflusst hätten, und die Sinti sich aus Angst gegen den nicht verhältnismäßigen Polizeieinsatz gewehrt hätten, war somit nicht gefolgt worden“, fasst die Historikerin Daniela Gress zusammen.[45]

 

Ermittlungsverfahren gegen den Polizisten

Das Ermittlungsverfahren gegen den Polizeioberwachtmeister, der die tödlichen Schüsse auf Anton Lehmann abgegeben hatte, wurde am 29. Juli 1975 eingestellt. In der Begründung dieser Entscheidung wird der getötete Sinto als „der tödlich verunglückte Anton Lehmann“ bezeichnet, eine Verniedlichung dessen, was passiert war.

Die Staatsanwaltschaft Heidelberg stützte sich bei ihrer Einstellungsentscheidung auf die Hauptverhandlung gegen die drei Lehmann-Söhne, die im Juni 1974 stattgefunden hatte. Demnach wurden die Polizeibeamten von Angehörigen der Familie Lehmann ungerechtfertigt angegriffen, als sie in Ausübung ihres Dienstes und zur Durchführung strafrechtlicher Ermittlungen in Erfüllung ihrer polizeilichen Aufgabe das Anwesen Lehmann betraten. Sie sollten dort die Personalien der am

Streit in der Gaststätte „Union“ beteiligten Sinti feststellen und bei ihnen eine

Blutprobe zur Blutalkoholbestimmung entnehmen „wegen des Verdachts der

Trunkenheitsfahrt und der alkoholbedingten Enthemmtheit bei der Schlägerei“. Drei Funkstreifenwagen mit insgesamt sechs Polizeibeamten fuhren deshalb auf das Anwesen der Familie Lehmann.

Die Abgabe von gezielten Schüssen eines Polizeibeamten sei als Notwehrhandlung gerechtfertigt gewesen, so die Staatsanwaltschaft, und eine Strafverfolgung demnach ausgeschlossen. Das Ermittlungsverfahren wurde daher eingestellt.

 

Was bedeutete das für die Familie Lehmann?

Die Familie Lehmann gehörte zu den etwa 100 Sinti, die 1933 in Heidelberg lebten.[46]

Die meisten Heidelberger Sintifamilien wohnten damals in der Altstadt. Nachdem

 

man vielen Berufstätigen die notwendigen Gewerbescheine entzogen hatte, mussten zahlreiche Familien die Stadt verlassen. 1936 waren von ursprünglich 15 SintiFamilien mit 99 Personen (darunter auch Angehörige der Familie Lehmann) lediglich noch fünf Familien übrig, darunter vornehmlich alte Leute und Kinder. 1940 wurden die meisten in das besetzte Polen deportiert. Ab 1943 wurden weitere Sinti in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau verschleppt.

Über die Verfolgung von Anton Lehmann und Familie erzählte der Neffe Johann Lehmann: „1938, nachdem die Heidelberger Synagoge durch einen Brandanschlag völlig zerstört worden war, sind meine Eltern und Großeltern aus Heidelberg nach Holland geflohen. Die Mutter meines Cousins […], der mich am 31. Mai 1973 angerufen und über die Schüsse auf meinen Onkel Anton informiert hatte, wurde in Auschwitz ermordet, dessen Familie fast ganz ausgerottet. Er (der Cousin) konnte gerettet werden, wurde von seiner Großmutter großgezogen.“

1945 stand die Familie Lehmann vor dem Nichts. Doch anders als die sogenannten „Kriegsheimkehrer“ gab es für sie als Sinti, die den Völkermord überlebt hatten, weder ein Willkommen noch materielle Hilfen. Im Gegenteil: Wie alle damals in Heidelberg lebenden Sinti waren sie den alten Anfeindungen ausgesetzt. Die Behörden blockierten ihre Wiedergutmachungsanträge. Die Nachbarschaft schaute auf sie herab. Ihre früheren Berufe konnten sie kaum noch ausüben. Sie mussten in Behelfsheimen und Obdachlosenunterkünften leben.

Auch in Baden-Württemberg war 1953 eine „Zentralkartei zur Bekämpfung von Landfahrerdelikten“ eingerichtet worden. 1954 plante das Bundesland ein Gesetz gegen „Landfahrer“. Auch wenn sich bald schon herausstellte, dass diese sogenannten „Landfahrer“ nur einen geringen Anteil an der Gesamtkriminalität hatten, blieben grundgesetzwidrige Maßnahmen gegenüber Sinti und Roma in Baden-Württemberg teils weit bis über die 1970er Jahre hinaus bestehen.

Johann Lehmann berichtet, er sei „der einzige, der die Kraft hat, sich um die Gräber in Heidelberg zu kümmern“. Eben wegen dieser Gräber seiner Familienangehörigen sei er zurück nach Heidelberg gezogen. Hier seien alle Onkel, auch der erschossene Anton Lehmann, seine Großeltern und sein Vater begraben. Seinen Verwandten sei

es aufgrund der erlittenen Verfolgung emotional nicht möglich, die Gräber aufzusuchen und zu pflegen.

Sein Onkel Anton Lehmann hatte einen Sohn mit seiner in Auschwitz getöteten ersten Frau. Dieser Sohn hat Auschwitz überlebt. Anton Lehmann hat dann nochmal geheiratet und sechs weitere Kinder bekommen. Von den Söhnen, die damals angeschossen wurden, lebt nur noch einer.

Anton Lehmann war nach dem Tod seiner Mutter Ende der 1960er Jahre zurück nach Heidelberg zu seinem Vater gezogen. Er war von Beruf Polsterer und Möbelbauer: „Pendelte zwischen Allgäu und Heidelberg hin und her. Dort kaufte er kaputte Möbel auf, Schlitten und so Sachen, hat sie restauriert und dann hier verkauft.“ Johann kannte seinen Onkel sehr gut, fuhr mehrmals wöchentlich von Mannheim nach Heidelberg, um die dortige Familie zu besuchen.

 

Württemberg, Red. Herbert Heuß, Egon Schweiger; Interviews: Ilona Lagrene, Reinhold Lagrene,

Berlin 2002; „Spurensuche. Heidelberg im Nationalsozialismus“. Materialheft mit lokalhistorischen

Quellen, hg. von Heidelberger Lupe e.V.; Daniela Gress, Der Verein „Alt-Heidelberg e.V“ und die Vertreibung der Heidelberger Sinti. Bürgerlicher Antiziganismus und lokale Handlungsspielräume unter dem NS-Regime, in: Heidelberg. Jahrbuch zur Geschichte der Stadt 21/2017, S. 171-187.

Über den Tag, an dem sein Onkel Anton Lehmann starb, über den „haben wir gar nicht […] gesprochen. Innerhalb der Familie war das so, die haben nicht drüber geredet, weil es hat so arg wehgetan. Stellen Sie sich mal vor, jahrhundertelang wird die Familie ausgerottet,“ so Johann Lehmann, „und dann das.“ Nach dem 31. Mai 1973 wurde zwar „monatelang darüber geredet, dass einfach solche Leute anfangen zu schießen, wo einer nicht bewaffnet ist. Also, wir hätten ja gesagt, wenn mein Onkel jetzt eine Schusswaffe gehabt hätte, dann wäre das berechtigt gewesen. Aber auf Menschen, die keine Waffe gehabt haben, zu schießen, das ist eine Sache, die wackelt.“

Karol Kwiek (26) und Joska Czori (27), erschossen von einem Polizisten in

Hamburg am 5. November 1960

 

 

 

Im Laden von Schlachtermeister Kröger wartete Kundschaft. Hinter der Theke bediente der Chef selbst. Seine Frau half mit. Die Metzgerei lag in der Hamburger Vorstadt Niendorf, ganz in der Nähe eines Wohnlagers, in dem unter anderem erst kürzlich eingereiste polnische Roma untergebracht waren. Als an diesem Sonnabend vormittags zwei von ihnen die Metzgerei betraten, entstand Unruhe.

Gegen 11:15 Uhr erhielten zwei Funkstreifenwagen folgenden Einsatzbefehl: „HbgNiendorf, Garstedter Weg 270, Schlachterei K., pol. Hilfe. Es handelt sich um Zigeuner“.[47]

Was nun geschah, darüber waren sich Bedienung, Kundschaft und Nachbarschaft im Nachhinein weitgehend einig. Während Sofia Kwiek – Schwägerin des im Zuge der Streitigkeiten von einem Polizisten erschossenen Karol Kwiek – bei ihrer Zeugenvernehmung den Verlauf der Auseinandersetzung vollkommen anders darstellte.

Kurz nach der polizeilichen Durchsage traf einer der beiden Streifenwagen mit zwei Polizeibeamten vor der Metzgerei ein. Zu diesem Zeitpunkt sei „eine

Massenschlägerei im Gange“ gewesen, hieß es später im Polizeiprotokoll.56 Die

Situation eskalierte. Ein 47 Jahre alter Polizist zückte im Verlauf der

Auseinandersetzung seine Waffe und erschoss zwei junge Roma: Joska Czori und Karol Kwiek. Baczko Czori, ein Bruder Joska Czoris, wurde durch einen der Schüsse schwer verletzt.  

Bei der Einschätzung dessen, was geschehen war, standen sich im Folgenden zwei unterschiedliche Positionen gegenüber: Für die Ermittler war es Notwehr, aus der heraus die Schüsse fielen. Für die betroffenen Roma und ihre Familien war es Mord − und blieb es bis heute.

 

Schlussfolgerungen nach der Recherche

Schon der antiziganistisch formulierte Funkspruch, der um 11:15 Uhr an die Hamburger Funkstreifenwagen erging, ließ Eskalation erwarten. Wie zuvor bereits dargelegt, lautete er: „Hbg-Niendorf, Garstedter Weg 270, Schlachterei K., pol. Hilfe. Es handelt sich um Zigeuner“.

Die Tatsache, dass dieser Funkspruch ein Feindbild schürte und letztlich zu einem aggressiven Einsatz mit Todesfolge beitrug, wurde später hausintern verdunkelt. So formulierte ein Polizeihauptkommissar, der die Meldung über Vorkommnisse an jenem Wochenende verfasste, diese Warnung später um und behauptete, der Einsatzbefehl habe gelautet: „Schlägerei zwischen Zigeunern, Zivilpersonen und

 

Personal der Schlachterei.“[48] Was den fragwürdigen, tatsächlichen Funkspruch deutlich abschwächte.

Der Vorsitzende der Rom und Cinti Union in Hamburg, Rudko Kawczynski, hatte im Gespräch mit mir und ohne Kenntnis der Ermittlungsakten schon vermutet, dass die

Polizei mit dem Hinweis, „hier überfallen Zigeuner den Laden“ gerufen worden sei.[49]

Die Berichterstattung der Presse war anschließend von antiziganistischen Formulierungen durchzogen. So hieß es beispielsweise: „Betrunkene sind selten geduldig, betrunkene Zigeuner noch weniger.“[50] Es wurde besonders betont, dass „Zigeuner“ mit einem Mercedes 220 S vorfuhren.[51] Man mokierte sich darüber, dass die Leichen der Erschossenen in gläsernen Särgen überführt worden waren – das, so klang es geradezu empört – habe es in Hamburg noch nicht gegeben.[52] Anlässlich der Beerdigung der beiden Toten wurde herausgestellt, es habe ein Trauergeleit mit „50 eleganten Limousinen“ gegeben.62

Die eingeschaltete Hamburger Mordkommission informierte die Öffentlichkeit schon einen Tag nach dem Geschehenen darüber, dass es sich um Notwehr gehandelt habe. Sie legte sich damit bereits zu einem Zeitpunkt fest, zu dem noch nicht alle Zeugen und Zeuginnen gehört worden waren – vor allem aber niemand aus dem

Kreis der an dem Streit beteiligten Roma. Am Tag selbst waren etwa ein Dutzend Zeugen und Zeuginnen aus dem Umfeld des Schlachters und der Kundschaft vernommen worden. Am 7. November wurden dann weitere Zeuginnen und Zeugen aus der Nachbarschaft angehört. Und erst am 8. November, also drei Tage später, nachdem die Staatsanwaltschaft sich schon auf Notwehr festgelegt hatte, wurden die ersten beiden Zeugen aus der Community der Roma befragt.

Drei Tage nach den tödlichen Schüssen erklärte Hamburgs Polizeipräsident Walter Buhl: „Ich glaube, dass nunmehr der bedauerliche Zwischenfall mit den Zigeunern als beendet anzusehen ist.“ [53] Die Erschießung von zwei jungen Männern − ein

„bedauerlicher Zwischenfall“? Es ist kaum vorstellbar, dass der Hamburger

Polizeipräsident diese Formulierung gewählt hätte, wären die Toten aus bürgerlichen Hamburger Kreisen gekommen.

Bemerkenswert ist auch die Wahl eines Experten, der der Polizei später bei der Einschätzung von sogenannter Blutrache helfen sollte, die angeblich drohte. Dabei handelte es sich um den Völkerkundler Martin Block der 1936 mit einer Arbeit über „Zigeuner: Ihr Leben und ihre Seele“ promoviert hatte.[54] Block vertrat die Auffassung, dass Sinti und Roma auf einer vorzivilisatorischen Stufe stehen geblieben seien.

 

Angesichts dieser Einstellung ist es kaum verwunderlich, dass dieser sogenannte Experte in seiner Stellungnahme mit Vorurteilen und Allgemeinplätzen über Roma aufwartete. Allein Charakterisierungen wie die: „Im Frechauftreten und Einschüchtern sind sie groß“, oder: „Man muss sicher und fest gegenüber den Zigeunern auftreten, wenn man behördlich mit ihnen zu tun hat“ oder die Behauptung „Wird der Zigeuner wie ein Wild gehetzt… kommen Kurzschlusshandlungen vor, bei denen er oder sein Verfolger den Tod findet“ legen seine rassistischen Denkmuster offen.

Auch in Niendorf erinnerte man sich nach den tödlichen Schüssen, dass „Zigeuner“ schon immer Störenfriede gewesen seien. Der Ruf danach, sie auszuweisen, von ihrer Wohnstätte zu vertreiben, wurde laut. Gräuelmärchen wurden ersonnen.[55] Roma in Niendorf wurden in den Geschäften nicht mehr bedient. Die örtliche Presse schrieb: „Der bedauerliche Zwischenfall am Garstedter Weg hat leider bei einigen Geschäftsleuten zu einer falschen Reaktion geführt. Im Zigeunerlager wurde gestern Abend berichtet, dass Geschäftsleute in Niendorf jetzt nichts mehr an Zigeuner verkaufen, sie mit Schimpfworten belegen und sie aus dem Laden weisen. Einer der schwarzhaarigen Männer sagte traurig: ‚Sogar bei meiner Stammtankstelle hat man mir kein Benzin verkauft. Dabei zahle ich immer bar‘.“[56] Und auf einmal hieß es, die aus Polen ausgewiesenen Roma hätten schon an der Grenze randaliert. Dass sie sich nur verzweifelt dagegen zu wehren versucht hatten, wieder zurück nach Polen geschickt zu werden, interessierte niemanden.

Was die tödlichen Schüsse aus der Polizeiwaffe angeht, standen sich zwei nicht zu vereinbarende Ablaufschilderungen gegenüber, die die Frage aufwerfen, wieso so wenig Zeuginnen und Zeugen aus der Community der Roma und Sinti vernommen wurden – insbesondere vor dem Hintergrund, dass angeblich etwa 20 Roma an der Auseinandersetzung beteiligt gewesen sein sollen. Waren es doch nur drei Roma gewesen, so wie dies Sofia Kwiek beschrieben hatte?

Wegen dieser Unausgewogenheit der Quellen und der gänzlich auseinanderklaffenden Schilderungen des Ablaufs, ist es unmöglich, den tatsächlichen Hergang zu rekonstruieren. Deshalb bleibt offen, ob der Polizist tatsächlich so bedrängt wurde, dass ihm nur noch ein Griff zur Waffe übrigblieb.

Was allerdings auffällt ist, dass die Zeugenaussagen eindeutig zulasten der beteiligten Roma ausgelegt wurden. Hierzu gehört, dass beispielsweise die Aussage eines Zeugen, der Polizist habe aus etwa anderthalb Metern Entfernung seine drei Schüsse auf die jungen Männer abgegeben, keine Beachtung fand. Bei einer solchen Entfernung zu seinen angeblichen Angreifern hätte sich die Frage gestellt, ob der Schütze tatsächlich so bedrängt worden war, wie von den Ermittlern von Anfang an behauptet wurde.

 

 

Die Sicht der betroffenen Roma

Sofia Kwiek (22) galt laut „Hamburger Abendblatt“ als einzige Augenzeugin aus der Minderheit. Diese Einschätzung ist umso erstaunlicher, da, wie oben erwähnt, angeblich rund 20 Roma an der Schlägerei beteiligt gewesen sein sollen.[57]

Sofia Kwiek jedenfalls befand sich nach eigenem Bekunden zu dem Zeitpunkt als die Schlägerei begann, als Kundin in dem Fleischerladen. Weitere Zeugen hatten beobachtet, wie sie versuchte, die Streitigkeiten zu schlichten. Bei ihrer polizeilichen Vernehmung am 8. November 1960 schilderte sie den Ablauf folgendermaßen:

„Ich war am 5.11.1960, gegen Mittag, als Kundin im Schlachterladen…. Vor mir stand in einer Schlange von anderen Kunden, die Fleisch kaufen wollten, der mir persönlich bekannte Landfahrer Joska Czory. Dieser bestellte sich Fleisch, Schinken und Wurst. Er war zu diesem Zeitpunkt noch in der Mitte der Schlange und drängte sich dann nach vorn. Der im Laden anwesende Schlachter K. bediente ihn auch und machte ihm später Vorhaltungen, weil er sich vorgedrängelt hatte. Hierbei bezeichnete er ihn als Schwein. Joska fragte dann, warum man ihn so tituliere. Es kam zu einem Gedrängel. In dieses griff plötzlich der Schlachter K. ein. Er versetzte Joska einen Schlag ins Gesicht. Joska wollte sich wehren, wurde jedoch von anderen Kunden angegriffen und dann von dem Schlachter aus dem Laden verwiesen. Ich habe deutlich gesehen, dass der Schlachter K. ein langes Messer in der Hand hatte und den Joska aus dem Laden drängte. Joska wurde hierbei durch das Messer an dem linken, bzw. rechten Unterarm leicht verletzt.“[58]

Daraufhin verließ Joska Czori laut Sofia Kwiek das Geschäft, ging zu Karol Kwiek, der bei einem draußen geparkten PKW stand, erzählte ihm von dem Vorfall. Dieser ging in das Geschäft, wollte den Streit schlichten und sich erkundigen, was vorgefallen sei. „Man ließ ihn jedoch gar nicht zu Wort kommen, sondern schlug gleich auf ihn ein. Er setzte sich zur Wehr.“ Es kam zur Schlägerei. Währenddessen traf eines der beiden gerufenen Polizeifahrzeuge mit zwei Polizisten ein. „Der eine zog sofort seinen Gummiknüppel und schlug hiermit auf Joska ein. Joska hielt den Knüppel, als er einen Schlag auf die Schulter erhielt, mit der Hand fest und versuchte, dem Beamten diesen Knüppel zu entreißen. Da er auf den Beamten zuging, zog dieser plötzlich seine Pistole und zählte ganz laut: ‚eins, zwei, drei.‘ Bei ‚Drei‘ drückte er ab. Joska wurde durch den Schuss getroffen und fiel sofort mit nach hinten erhobenen Händen um. Der Beamte schoss dann nochmals. Durch diesen Schuss wurde der Bruder Joskas getroffen. Ich wollte dann zu Joska, jedoch wurde ich von den Beamten hierdran gehindert. Einer der Beamten stieß mich mit dem Fuß zur Seite. Danach bin ich weggegangen und habe es unseren Leuten im Lager erzählt.“69

Laut Polizeibericht bezeichnete Sofia Kwiek die anderen Zeugen als Lügner. Doch glaubte man ihr nicht. „Ihre Angaben, die sie mir gegenüber machte“, vermerkte ein vernehmender Beamter, „erscheinen mir in einigen Punkten zweifelhaft. Als sie darauf hingewiesen wurde, erklärte sie, dass sie im Angesicht der beiden Toten nicht lügen würde.“[59]

 

Bei seiner Vernehmung am 8. November gab Baczko Czori, der Bruder des erschossenen Joska Czori, zu Protokoll, er sei am 4. November mit Eltern und Geschwistern nach Hamburg gekommen, um seinen Bruder zu besuchen, der in dem Niendorfer Wohnlager lebe. Am Sonnabend sei er mit seinem Bruder zur Metzgerei gegangen und habe drei Kilogramm Mett bestellt, das sie später abholen wollten. Danach erledigten sie weitere Einkäufe, trafen auf Kwiek, gingen in eine Gaststätte, tranken jeder fünf Steinhäger, waren etwas angetrunken. Später dann tranken sie noch insgesamt drei kleine Fläschchen Underberg.[60]

Joska Czori ging später zurück zur Metzgerei, um das bestellte Fleisch abzuholen. Er selbst, Baczko Czori, blieb mit zwei anderen Roma in der Gastwirtschaft. Auf einmal kam ein kleiner Junge in das Lokal und rief, in dem Geschäft sei eine Schlägerei im Gange. Also liefen alle dorthin. „Ich habe gesehen, dass die beiden Schlachter meinen Bruder geschlagen haben.“ Daraufhin habe Baczko Czori „rot“ gesehen und sich an der Schlägerei beteiligt:

„Ich habe den Beamten nicht angegriffen. Wer dem Beamten den Polizeistab abgenommen hat, ist mir nicht bekannt. Ich nehme aber an, dass es entweder mein Bruder oder Kwiek war. Ich habe auch nicht gesehen, dass der Polizist überhaupt geschlagen worden ist. Ich hörte auf einmal einen Knall und sah, dass Kwiek getroffen zur Erde fiel. Kurz darauf hörte ich einen zweiten Knall und habe gesehen, dass mein Bruder zur Erde fiel. Als dann der Schuss fiel, von dem ich getroffen wurde, bekam ich an der rechten Gesichtshälfte einen Schmerz und wurde dann bewusstlos. Ich kam erst im Krankenhaus wieder zu mir.“[61]

Baczko Czori war durch einen Schuss aus der Polizeiwaffe am Kiefer verletzt worden. Er wurde im Universitätskrankenhaus Eppendorf vorläufig festgenommen und per Krankenwagen ins Gefängnis-Lazarett überführt. Zunächst wurde gegen ihn wegen Landfriedensbruch und Aufruhr ermittelt. Ihm wurde vorgeworfen, mit einem Messer gegen den Polizeibeamten vorgegangen zu sein, der – so hieß es in den polizeilichen Ermittlungsakten – „zu dessen Abwehr von seiner Schusswaffe Gebrauch gemacht hatte“. Da die Vorwürfe sich nicht erhärten ließen, wurden die

Ermittlungen schließlich eingestellt.[62]

Ein jüngerer Bruder des erschossenen Czori wurde in der Presse [63]mit den Worten zitiert: „Sie haben meinen Bruder abgeschossen wie ein Tier.“ Weiter hieß es dort: „Die Darstellung des tragischen Geschehens im Polizeibericht stimmt mit den

Schilderungen der Zigeuner in wesentlichen Punkten nicht überein. Nach dem Polizeibericht wurde der 47-jährige Wachtmeister, der die tödlichen Schüsse abfeuerte, von etwa 20 Zigeunern bedrängt. Die Zigeuner behaupten: es waren drei,

 

die ihn angriffen. Drei andere, ältere Brüder, griffen in die Schlägerei nicht ein.“[64] In der Hamburger Morgenpost wurde der Schwiegervater des getöteten Carol Kwiek zitiert. [65]

Der Bürgerrechtsaktivist und Vorsitzende der Rom und Cinti Union in Hamburg, Rudko Kawczynski, äußerte auf die Frage, was damals seines Wissens passiert sei:

„Es gab eine Taufe, und diese beiden […] hatten Fleisch bestellt in einer Fleischerei in der Nähe. Ein paar Tage zuvor. Und sind dann am Tag davor dahin gegangen, um

Fleisch abzuholen. Es war zu der Zeit ein bisschen schwierig, es [gab]

Versorgungsschwierigkeiten, und [es] hat wohl eine Schlange dort gegeben, und [sie] haben sich ein bisschen vorgedrängelt, um das Fleisch abzuholen. Und dann ist es zum Gerangel gekommen. Und dann ging‘s eigentlich ganz schnell. Dann hat jemand die Polizei gerufen. Kam die Polizei gleich an und hat sich bedroht gefühlt und hat geschossen. Peng. Aus. Dazu muss man noch wissen, das war ja zu einer Zeit […] [Da waren] die Nazis noch in den Köpfen von vielen Menschen. Auch in der Polizei, in der Ausbildung. Da galt schon in den Köpfen der Polizisten: Zigeuner = abartig = unmenschlich = Verbrecher. […] Wenn man heute nach Motiven sucht, dann liegen die da drin. Das waren ‚Untermenschen’. Wenn man die nicht als Menschen angesehen hat, sondern als Gefahr, war das kein großer Schritt mehr, auf die Menschen zu schießen. […] Nur die Konsequenz war, dass zwei junge Menschen ihr Leben verloren.“77

Die in Niendorf lebenden Familien waren 1958 mit einem „Aussiedlertransport“ aus

Polen in die Bundesrepublik eingereist.[66] Bei ihrer Einreise hatte es am Grenzbahnhof Auseinandersetzungen gegeben, weil sie wieder nach Polen zurückgeschickt werden sollten und sich die Familien dagegen – letztlich erfolgreich – zur Wehr gesetzt hatten.[67] Sie kamen zur Anmeldung nach Hamburg, beantragten Fremdenpässe, wurden erkennungsdienstlich behandelt.[68]

Auch Rudko Kawczynski war mit seiner Familie einige Jahre zuvor aus Polen nach Deutschland immigriert, um der stalinistischen Entwicklung in dem Land zu entgehen. Sie mussten nicht, wie die Kwieks und die Czoris, auf einem dieser Hamburger Wohnlagerplätze leben. Stattdessen hielt sich seine Familie versteckt. Rudko Kawczynski berichtete im Interview: „Weil, wir sollten auch abgeschoben werden. Wir haben in einem Keller gelebt, bis zu meinem 5., 6. Lebensjahr, und uns durchgeschummelt sozusagen. Ich durfte bis Mitte der 1990er Jahre nicht arbeiten. Das war verboten in meinem Pass. Habe vom Handel gelebt. Mein Vater war Restaurator. Er hat Gobelins restauriert, in Museen gearbeitet. Teppiche, so richtig antike Geschichten.“ Die Lebenssituation der anderen polnischen Familien war ihm

 

bekannt: „Es gab damals viele Wohnwagenplätze in Hamburg. Der in Niendorf war nicht großartig anders. Wenn einer Glück hatte, dann hat er einen Bauwagen gehabt.

Sonst alte Busse, die kaputt waren. Das war ein Bauwagenplatz, wenn man so will. Es waren auch nicht nur Roma drauf, es waren auch Ausgebombte. Es gab verschiedene dieser Plätze hier in Hamburg.“

 

Die Sicht von Schlachtermeister, Gesellen, Kunden, Nachbarn, Ermittlern[69]

Der Schlachtermeister sagte vor der Polizei aus, er hätte schon früher Probleme mit

„Zigeunern“ gehabt, „weil die Zigeuner vordrängten, Kunden anfassten oder durch Redensarten belästigten. Ich habe bisher immer durch Vermittlung mit den Kunden erreichen können, dass größere Schwierigkeiten vermieden wurden… Heute erschien ein mir vom Sehen bekannter Zigeuner in meinem Geschäft. Der Mann war stark angetrunken. In seiner Begleitung waren zwei weitere Zigeuner… Ohne besonders auffällig zu sein, verlangten die Zigeuner Mett. Die Männer verließen mein Geschäft nach dem Kauf von vier Pfund Mett… Um 11 Uhr erschien der angetrunkene Zigeuner mit seinem Begleiter erneut in meinem Laden. Der Mann verlangte Würstchen… Ich konnte sehen, dass er eine Kundin belästigte. Er kniff ständig an ihrem Rücken, so dass die Kundin schon zu weinen anfing. Sie hatte vorher mehrmals gesagt: ‚Lassen Sie das!’… Ein Kunde schaltete sich ein, sagte, er solle die Frau in Frieden lassen.“

Dann sah der Schlachter, dass einem 70jährigen Mann offenbar die Mütze vom Kopf geschlagen worden war. „Ich mischte mich nun ein, verwarnte den angetrunkenen Zigeuner.“ Woraufhin der ihn beschimpfte. Der Schlachter wollte ihn aus dem Laden drängen. Doch der schlug ihn, machte die Tür hinter ihm zu, zerschlug das Türglas. Der Metzgergeselle kam hinzu. Kunden hatten sich nach hinten geflüchtet. Dann hielten zwei Autos vor der Tür, „Zigeuner sprangen raus. Schlugen sofort um sich.“

Ein Anwohner, der mit dem Auto unterwegs war, sagte aus, er habe gesehen, wie ein Mann einen Polizisten mit Gummiknüppel angriff und schlug. „Der Beamte wich zurück, um seine Pistole zu ziehen. Ungeachtet der jetzt vorgehaltenen Pistole drang der Mann erneut mit dem geschwungenen Gummiknüppel auf den Beamten los. Der Beamte schoss und der Mann fiel zusammen.“ Ein Zeuge sprach immer von „Zigeunern“ und ihren „Artgenossen“; so sagte er beispielsweise, der Polizist habe aus etwa anderthalb Metern Entfernung die drei Schüsse auf „die Zigeuner“ abgegeben. Ein Maurer, der alles mit angesehen hatte, sagte aus: Als der Polizeibeamte seine Pistole gezogen habe, habe „die Meute“ geschrien: „Du kaputt, wenn du schießen.“ Der Polizeibeamte sei dennoch noch zwei Schritte zurück gegangen und habe geschossen.

Insgesamt sind sich Kunden und Angestellte des Schlachters sowie Passanten und andere von außen hinzugekommene Personen einig: Der Polizist sei bedrängt worden und habe in äußerster Not geschossen.

 

 

Der Polizeibeamte, der die tödlichen Schüsse abgab[70]

Als er und sein Kollege an der Schlachterei eingetroffen seien, hätten sie festgestellt, „dass vor der Schlachterei K. eine Massenschlägerei im Gange war. Beteiligt waren etwa 15 bis 20 Zigeuner, Kunden der Schlachterei sowie der Schlachtermeister selbst und seine Gehilfen.“ Zunächst hätten die beiden versucht, zu schlichten. „Das gelang uns nicht, denn die Zigeuner griffen uns sofort tätlich an.“ Sie hätten, so der Polizeischütze in seiner Aussage vor der Mordkommission am Tag des Geschehens, mit Harken, Knüppeln und Beilen auf ihn eingeschlagen.[71]

Während der Auseinandersetzung sei dem Polizeimeister, der später schoss, der Gummiknüppel entrissen worden. Vor der Schlachterei seien er und sein Kollege von einer noch größeren Anzahl „Zigeunern“ mit gezückten Messern angegriffen worden.

Bei seiner Vernehmung führte der Polizist, der die tödlichen Schüsse abgegeben hatte, aus: „Der Zigeuner mit dem Messer versuchte nun, mit seiner Waffe auf mich einzustechen… Um diesen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von mir abzuwehren, griff ich in höchster Notwehr und Lebensgefahr zu meiner Dienstpistole und forderte die drei vor mir stehenden Zigeuner, welche bewaffnet waren, auf, ihre Waffen (Messer, Harke und Gummiknüppel) niederzulegen. Meiner Aufforderung kamen sie nicht nach. Sie fassten mich an und versuchten meine Dienstpistole zu entreißen. Das gelang nicht.“

Er sei weiter bedrängt worden und man habe auf ihn eingeschlagen. Dann sei es zu den Schüssen gekommen: „Ich machte jetzt von meiner Schusswaffe Gebrauch. Ich gab 3 Schüsse, gezielt auf Arme und Beine der Angreifer ab. Den ersten Schuss gab ich auf den Zigeuner ab, der mir die Pistole entreißen wollte. Dieser bekam einen gezielten Schuss in den rechten Arm. Als der Zigeuner mit dem Messer das sah, sprang er mich an und versuchte sein Messer in meinen Unterleib zu stoßen. Ich gab auf den in gebeugter Stellung stehenden Messerstecher ebenfalls einen Schuss ab. Dabei zielte ich auf die Beine. Der Schuss traf jedoch den Oberkörper. Der Zigeuner fiel danach um. Ein weiterer Zigeuner, der mich mit einer Harke angriff, wurde durch einen gezielten Schuss vermutlich auch getroffen.“

Laut Mordkommission wird in einem am 6. November, also einen Tag nach dem

Geschehenen, verfassten, „abschließenden Vermerk zur Todesermittlungssache Czori und Kwiek“ festgehalten: „Die Untersuchungen und Vernehmungen, insbesondere auch die Anhörung einer großen Zahl von Zeugen, haben keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass sich der Polizeimeister… zum Zeitpunkt der

Schussabgabe im Zustande höchster Lebensgefahr befunden hat. Auch unter

Berücksichtigung der Tatsache, dass die Zeugenaussagen in einigen Punkten Abweichungen aufweisen und in dem einen oder anderen Falle etwas übertrieben erscheinen, ist nicht in Abrede zu stellen, dass der Schusswaffengebrauch einzig und allein aus dem Grunde erfolgte, eine gegenwärtige Gefahr für Leib und Leben abzuwehren.“

 

 

Antiziganistische Hetze in Medien und Bevölkerung

In einem waren sich lokal- und überregionale Presse schnell einig: Der Polizist schoss aus Notwehr. Ob die „Hamburger Morgenpost“, das „Hamburger Echo“ oder das „Hamburger Abendblatt“, ob „Die Zeit“, „Bild“, „FAZ“ oder „dpa“, alle vertraten die gleiche Meinung.[72] Die „Süddeutsche Zeitung“ titelte: „In Notwehr gehandelt“.[73] Sie alle beriefen sich dabei auf die eilends einberufene Pressekonferenz am Tag nach den Schüssen, nach der in fast allen Zeitungen etwa deckungsgleich der Ablauf des Geschehens wiedergegeben wurde.

Wenig später dann war vor allem die Rede davon: „Sippe droht der Polizei mit Blutrache“.[74] oder „Das Wort ‚Blutrache‘ hängt in der Luft.“[75] „Die Hamburger Polizei ist in Alarmbereitschaft. Ein Dutzend Peterwagen nach Niendorf verlegt. In der

Kaserne steht Hundertschaft Gewehr bei Fuß.“[76]

Die „Bild am Sonntag“ trat mit rassistischen Überschriften wie „Polizei zerschlägt Zigeuner-Revolte“. – „Zwei Männer erschossen. Sippe kam aus Polen.“ – „Wir werden uns rächen“ hervor. Im Text selbst hieß es dann: „Zwischen einer ZigeunerSippe und Bewohnern der Hamburger Vorstadt Niendorf tobte gestern eine grausame Straßenschlacht. Eine regelrechte Revolte der Zigeuner wurde durch die Polizei zerschlagen. Zwei Zigeuner wurden erschossen, ein dritter schwer verletzt… Monatelang hatte die Sippe den Ort terrorisiert. Durch neue Rüpeleien kam es gestern zur Entladung. Alarmierte Bereitschaftspolizei, sechs Funkstreifenwagen und drei Unfallwagen der Polizei wurden eingesetzt.“89 Weiter hieß es: „Es handelt sich bei dieser aufrührerischen Sippe um einen Teil der Zigeuner, die vor einem Jahr von den Polen in die Bundesrepublik abgeschoben worden waren. Sie wollen auch weiter nicht Ruhe geben. Ein Mitglied ihrer Sippe erklärte nach dem Zwischenfall unserem Reporter: ‚Unsere Rache wird furchtbar sein.‘“[77]

Laut „Süddeutscher Zeitung“ meldeten sich am Sonntag zahlreiche Hamburger bei der Polizei, die meinten, es sei nicht nötig gewesen, die Männer, beide Väter mehrerer Kinder, zu töten. Einige Einwohner des Stadtteils Niendorf aber hielten das scharfe Vorgehen der Polizei für berechtigt.[78]

Die Polizei erhielt von mehreren Personen Schreiben, in denen das brutale Vorgehen gutgeheißen wurde. So ging am 7. November 1960 folgender Brief bei der

Hamburger Polizei ein: „Gott sei Dank, dass sich mal ein Beamter gefunden hat, der mal den Mut fand, gegen dieses arbeitsscheue Lumpengesindel energisch vorzugehen. Er hätte noch besser das ganze andere Gesindel mit über den Haufen geschossen, dann wären wir Deutschen mal endlich von einigen Schmarotzern und Parasiten, die auf unsere Steuerkosten ein angenehmes Leben mit Luxusautos führen usw. befreit. Wenn sie schon hier in Deutschland Asyl haben, dann sollen sie

 

sich auch hier an Ordnung gewöhnen oder man muss es Ihnen auf diese Art und Weise beibringen. Dem Polizisten ein Bravo und hoffentlich eine hohe finanzielle Belohnung wünschen tausende von Kölner Bürgern.“[79] Am 11. November 1960 schrieb ein anonymer Absender: „Geehrter Herr Polizeipräsident! Bravo Ihrem

Polizeibeamten, der in der Zigeunerrevolte durchgegriffen hat. …Diese

Dreckzigeuner machen sich überall breit und werden besonders auf dem Lande frech und aufdringlich, wenn man ihren Schund nicht abkauft. …Wen hat Hitler in die K.Z. gesteckt? Fast nur Faulenzer…“[80]

In voyeuristischer Manier beschrieb die Presse die Beerdigung der beiden Todesopfer: „Das hat es in Hamburg noch nicht gegeben: In gläsernen Särgen wurden gestern die Leichen der am Sonnabend erschossenen Zigeuner Carol Kwiek

(26) und Jasko Czory (27) in zwei Leichenwagen eines Hamburger

Beerdigungsunternehmens vom Gerichtsmedizinischen Institut in das Zigeunerlager am Ostfalenweg in Hamburg-Niendorf überführt.“[81] In der Morgenpost war zu lesen:

„Trauergeleit mit 50 eleganten Wagen“ als Überschrift. Im Fließtext heißt es dann: „Es war eine Kolonne von über 50 eleganten Limousinen, die sich gestern nachmittags vom Ostfalenweg in Hamburg-Niendorf hinter den beiden Leichenwagen mit den kostbaren Särgen der toten Carol Kwiek und Joska Czori in Bewegung setzte.“[82]

 

Das Gerücht über die „Blutrache“

Zwei Tage nach den Schüssen meldete sich der Schlachtermeister bei der Polizei und sagte, er habe einen anonymen Anruf bekommen, durch den ihm ein bevorstehender Racheakt angekündigt worden sei. „Der Unbekannte sprach gebrochen Deutsch, offensichtlich handelt es sich um einen Zigeuner“, notierten die beiden diensthabenden Polizisten der Revierwache 36.[83]

Auf der Suche nach einem Experten, der ihnen helfen konnte, die Blutrachevorwürfe besser einzuordnen, wandte sich die Hamburger Polizei – wie eingangs bereits kurz skizziert – am 17. November 1960 an „den als Fachmann in Zigeunerfragen bekannten Professor Dr. Martin Block von der Universität Marburg/Lahn“. Am 2. Dezember 1960 antwortete Block an die Polizeibehörde der Freien und Hansestadt

Hamburg, Kriminalamt, Kriminal-Abt. I:[84]

„Sehr geehrter Herr Kriminaloberrat! Entschuldigen Sie bitte, wenn ich erst heute auf Ihren Brief vom 17. November antworte… Als ich die ersten Berichte über den Zusammenstoß von Zigeunern mit der Polizei in Hamburg in der Presse las und angedeutet wurde, dass die Zigeuner den Polizeibeamten und dem Metzger Blutrache geschworen hätten, schüttelte ich nur den Kopf. So etwas gibt es nicht. Blutrache wird nur innerhalb des Zigeunervolkes geübt. Und wenn deutsche Zigeuner, die nicht mit den polnischen

 

neueingewanderten versippt sind, vertraulich mitgeteilt hätten, die

Polizeibeamten hätten die Blutrache der Zigeunersippe zu fürchten, so ist dies eine Drohung, um die Polizeibeamten und den Metzger einzuschüchtern. Im Frechauftreten und Einschüchtern sind sie groß, vereinzelt kann Rache eines einzelnen Zigeuners an einem Nichtzigeuner, der ihm vielleicht übel mitgespielt hat, vorkommen. Das ist seine Privatsache, die vor dem Stamm von ihm selbst verantwortet werden muss. Der Stamm tritt in solchen Fällen nicht für ihn ein. Ist bei der Auseinandersetzung von Zigeunern mit der Polizei ein Zigeuner getötet worden, so hat damit die Auseinandersetzung ein Ende. Der Tote wird nach Zigeunersitte beerdigt. Damit ist alles erledigt.

Man muss sicher und fest den Zigeunern gegenüber auftreten, wenn man behördlich mit ihnen zu tun hat. Jedes Nachgeben wird als Schwäche erkannt und ausgenutzt. Jedes Nachgeben bzw. Eingehen auf ihre Wünsche, soweit sie erfüllbar sind und nicht im Gegensatz stehen zum möglichst friedlichen Zusammenleben mit Nichtzigeunern, bes. in Wohnfragen, wird von ihnen anerkannt und damit vergolten, mit der Polizei in Frieden zu leben und bleiben. Der Sprecher sorgt dafür, dass wenig Reibungen zwischen beiden Parteien entstehen.

Wird der Zigeuner wie ein Wild gehetzt, so dass er keinen Ausweg des

Entkommens mehr sieht, wird er ungerechtfertigt schikaniert oder wird er in ‚Weissglut’ gebracht, kommen Kurzschlusshandlungen vor, bei denen er oder sein Verfolger, den Tod findet. In einer solchen Situation hilft ein Zigeuner dem andern, und greift in diese Notlage ein. Denken schaltet dabei aus. Panik packt sie. Ebenso schnell ebbt die Wucht des Erlebten ab. Innerhalb ihres Stammes regelt sich alles nach ihrer eigenen Gerichtsbarkeit. Ehrkränkung und Schmähung von Toten ist das Schlimmste, das man einem Zigeuner antun kann, das bringt ihn in Weißglut, darauf stehen die höchsten Strafen.

Jeder kennt das Zigeunergesetz, jeder richtet sich danach. Ein Untersagen irgendeiner Handlung durch den Sprecher oder Angehörige wäre unzigeunerisch. Jeder ist vor seinem Zigeunertum selbst verantwortlich.

Leider hat noch immer nicht das Bibliographische Institut in Mannheim eine zweite Auflage meines Zigeunerbuchs in Erwägung gezogen. Sie täten sich und mir einen Gefallen, wenn Sie den Verlag auf die Dringlichkeit einer zweiten Auflage, die ich mit vielem Neuen erweitern könnte, aufmerksam machten.  

Ich hoffe, dass ich Sie mit diesen Angaben bedient habe und verbleibe mit vorzüglicher Hochachtung Prof. Dr. Martin Bock.“

Am 25. Mai 1968 vernahm die Nürnberger Polizei einen Taxifahrer, der gehört haben wollte, wie ein betrunkener „Zigeuner“ darüber gesprochen hätte, dass der Polizeibeamte, der die tödlichen Schüsse in Hamburg abgegeben habe, von der „Sippe“ zum Tode verurteilt worden sei. Als die Nürnberger Polizei ihre Hamburger Kollegen hierüber informierte, antwortete ein Kriminalhauptmann am 31. Mai 1968:

„Bis drei Jahre nach dem o.a. Vorfall sind hier immer wieder Hinweise eingegangen, wonach von Blutrache und Drohungen gegen den damals in Notwehr handelnden Polizeibeamten gesprochen wurde. In keinem Falle konnte jedoch eine Bestätigung für den Wahrheitsgehalt der jeweiligen Angaben erlangt werden. Der ‚Oberrichter’ der Zigeunersippe Kwiek, Joszko Kwiek, hat bereits am 7.11.1960 vor der Hamburger Kriminalpolizei verbindlich erklärt, dass es keine Blutrache an dem

Polizeibeamten gibt, der die beiden Zigeuner erschossen hat. Aus den vorerwähnten Gründen ist nicht beabsichtigt, in vorliegender Sache Ermittlungen anzustellen.“[85]

 

Nach den Todesschüssen vom 5. November 1960

Rudko Kawczynski berichtete, dass die Schüsse in Niendorf einen Einschnitt markierten:

„Das war ja sozusagen der Auftakt. Danach begann man massiv mit

Romaverfolgung. Ständig Polizeikontrollen gehabt, die Vorstellung ging ja so weit, dass man sich vorgestellt hat, nun kommt die große Blutrache. Die Polizei hat da ja regelrecht Angst gehabt. Wobei das ja total irrsinnig ist, dann hätten wir die ganzen

Nazis umgebracht, wenn‘s Blutrache gegeben hätte, dann hätte keiner von diesen Banditen überlebt. Aber das ist Bestandteil des Antiziganismus. Es war eine weitergehende Zigeunerverfolgung, bloß dass es Auschwitz nicht gab. […] Die

Menschen wurden willkürlich festgenommen, es gab willkürliche

Hausdurchsuchungen. Es ist ja nicht wie heute, wenn man jemanden auf der Straße sieht, wird der erstmal für einen Türken gehalten oder einen Griechen oder so. Wenn man jemand Dunklen damals gesehen hat, war gleich ein ‚Zigeuner’. Und dann wurde sofort überprüft, sofort untersucht, und auch Kinder in den Schulen. Ich kann mich noch daran erinnern, wie schwierig das war überhaupt an den Schulen. Weil, man wurde dann gleich abgestempelt, Sonderschule. Es hat nicht aufgehört. Das kann man sich gar nicht vorstellen, heutzutage, dass es keinen Bruch gab ’45.“

Ob er sich an Hausdurchsuchungen oder irgendwas Derartiges erinnert? „Ja sicherlich. Ich habe bis heute noch eine Manie. Ich bewahre ständig Quittungen auf.

Für alles. Wurde man angehalten, hatte eine Jacke im Wagen gehabt. Quittung. Keine Quittung − gestohlen. […] Ich kann mich erinnern, 1961 ist meine Großmutter gestorben. Sind viele Menschen angereist, und da kam Polizei, damals hieß das Überfallkommando. Mit einem Lastwagen angekommen, runtergesprungen, rein in die Wohnungen, und die sind darein gestürmt, haben die Leute an die Wand gestellt. Es war fürchterlich. Und meine Großmutter lag da im Sarg. Daran kann ich mich noch erinnern als kleines Kind. Überall wo ‚Ansammlungen’ nach ihren Vorstellungen waren, da hat man dann massiv eingegriffen. Man wollte präventiv die Leute erschrecken. Zeichen setzen. Das ging dann regelrecht weiter. Das kenne ich aus vielen anderen Situationen. Es war eine richtige regelrechte Überwachung. So bin ich aufgewachsen.“[86]

Knapp zwanzig Jahre nach den Todesschüssen veröffentlichte Rudko Kawczynski mit seinem Ensemble „Duo Z“ das Lied „Zwei Freunde“.[87] Es erinnert an Carol Kwiek und Jasko Czory:

„Es waren zwei Freunde, wie Brüder so fit / der eine hatte zwei Kleine im Nest / der andere hatte einen klitzekleinen Sohn, einen klitzekleinen Sohn. / Es sollte eine schöne Taufe sein / sie fuhren zum Einkauf in die Stadt hinein / Ein Fest sollte sein in Saus und Braus / doch es wurde ein Trauerfest daraus. / Von Mörderhand mit staatlicher Gewalt / wurden die Freunde ganz einfach abgeknallt / Eine große Tat

 

wurde da vollbracht / zwei junge Väter umgebracht. / Ihr festlicher Anzug durch Polizistenhand / wurde für sie zum Totengewand / sie wussten nicht warum, sie hatten nichts getan / als sie mit nem Bullen Streit bekamen. / Der zog seine Waffe voller Machtgefühl / jeder Schuss traf ganz genau sein Ziel / Zigeuner erschießen, das Risiko ist klein / Der Bulle kriegt nen Orden, so soll’s sein. / Die ehrenwerte Zeitung stellts natürlich anders dar / Kein Mensch erfuhr die Wahrheit, wie es damals wirklich war / Durch Mörderhand mit staatlicher Gewalt / wurden beide abgeknallt. / Durch Mörderhand mit staatlicher Gewalt / wurden die Freunde ganz einfach abgeknallt / Eine große Tat wurde da vollbracht / ein paar Zigeuner um ihr Glück gebracht.“[88]

 

 

Paul Kirsch (23), erschossen von einem Polizisten in Neustadt a.d. Donau

(Ostbayern) am 25. Juli 1950

 

 

 

Über Paul Kirsch war nur sehr wenig zu erfahren. Zu lange lag die Tat zurück. Die einzige noch lebende Person, eine Verwandte, war zur Zeit der Recherche schwer erkrankt und daher leider nicht ansprechbar. Deshalb kann der Streit, in dessen Verlauf der tödliche Schuss fiel, nur noch rudimentär nachvollzogen werden.

Eine der wenigen Erinnerungen an den jungen Mann findet sich beim Standesamt in Neustadt a.d. Donau. Dort heißt es in einem Eintrag:

„27. Juli 1950 Scherenschleifer Paul Kirsch, katholisch, ohne festen Wohnsitz, ist am 25. Juli 1950 um 19 Uhr 30 verstorben. Geb. 15. Januar 1927 in Oboli / Tschechoslowakei. Über die Eltern konnten keine Angaben gemacht werden. Todesursache: Kopfschuss.“[89]

Der Bürgermeister von Neustadt a.d. Donau informierte am 23. November 1950 das Zentralamt für Kriminal-Identifizierung und Polizeistatistik des Landes Bayern über den Sterbebuch-Eintrag zu Paul Kirsch, der da lautet: „Kirsch wurde bei einer Schlägerei mit der hiesigen Polizei von einem Polizisten erschossen.“[90]

Am aufschlussreichsten waren die Recherchen des Neustädter Stadtarchivars Anton Metzger, der mir am 17. Dezember 2019 folgendes schrieb:

„Der von Ihnen geschilderte Vorfall ereignete sich am 25. Juli 1950 vor dem Gasthof

Attenberger in Neustadt a.d. Donau. Laut Pressebericht im damaligen Altmühlboten104 vom 20. Juli 1950 wurde die Polizei von dem Gastwirt zu Hilfe gerufen, in dessen Wirtschaft eine Gruppe Landfahrer zechte. Beim Eintreffen der

Polizei kam es zu einem Handgemenge mit den zum Teil stark angetrunkenen

Landfahrern. Während dessen Verlauf wurde einem Polizisten der geladene

Karabiner entrissen. Als der Landfahrer Paul Kirsch den Karabiner durchlud und auf einen zweiten Polizisten zielte, erschoss ihn dieser durch einen Kopfschuss. Anstatt nun Ruhe zu geben, bewaffneten sich die Landfahrer mit Steinen und Knüppeln und gingen abermals auf die Polizisten los, die sich, um ein weiteres Handgemenge zu vermeiden, in die Polizeistation zurückzogen. Nach dem ‚Angriff’ der Zivilisten, dem noch ein Fahrrad, ein Fahrradständer und mehrere Fensterscheiben der Station zum Opfer gefallen waren, hatte die Landpolizei vier der Anführer festgenommen und lieferte sie noch in der gleichen Nacht ins Amtsgerichtsgefängnis Kelheim ein. Auf

Grund der Brisanz des Falles wurden die weiteren Ermittlungen nicht mehr vom

 

zuständigen Amtsgericht Abensberg sondern von der Kriminal-Außenstelle Regensburg bearbeitet.“

Der Archivar bemühte sich auch darum, Zeugen des damaligen Geschehens ausfindig zu machen: „Die Befragung der Zeitzeugen gestaltete sich als äußerst schwierig, da nach fast 70 Jahren keine direkten Zeugen zu ermitteln sind. Selbst die ältesten Bürger von Neustadt a.d. Donau mit über 90 Jahren können sich zwar an den Vorfall erinnern, aber keine konkreten Aussagen treffen, weil sie die Rauferei

[sic] nicht persönlich miterlebten. Laut Aussage eines Zeitzeugen, der als

Vierzehnjähriger nach der Tat die Menschenansammlung vor der Gaststätte sah, soll der Zigeuner den Polizisten angegriffen haben, so dass ihn dieser in Notwehr erschossen hat. Bei dem Polizisten soll es sich um den Wachtmeister der Landpolizei, Johann A. gehandelt haben.“

Mit einer Verwandten von Paul Kirsch telefonierte ich am 27. Februar 2020. Sie sagte: „Paul Kirsch war der Cousin meiner Mutter. Alles was ich sage, weiß ich durch Erzählungen meiner 93jährigen Mutter und einer Tante.“ Ich sprach sie auf die Presseberichte an, wonach die beteiligten Männer betrunken gewesen sein sollen. Das wies sie vehement als falsch zurück und sagte:

„Nein, nein, das stimmt nicht. Die haben Kegel gespielt. Es waren Einige. Ein Junge, zwischen 12 und 14 Jahren alt, hat die Kegel aufgestellt. Das ging ja damals noch nicht automatisch. Paul Kirsch war 23 Jahre alt. Er war beim Kegeln gar nicht dabei. Er wollte seinen Onkel besuchen. Jemand hat ihn angesprochen, er solle doch kurz reinkommen. Paul Kirsch wollte erst nicht, tat es dann doch, machte aber klar, dass er nicht mitspielen werde, weil er ja seinen Onkel besuchen wolle. Kurz darauf brach ein Streit aus. Es ging um die Kegel. Irgendwas wie, dass sie falsch aufgestellt worden sein sollen. Jemand hatte die Polizei gerufen. Die kam dann. Zu dem Zeitpunkt wollte Paul Kirsch gehen. Ist dann raus. War vor dem Lokal. Ein Polizist stand ihm plötzlich gegenüber, zog eine Pistole. Paul Kirsch wollte sie ihm entreißen. Und da hat der Andere geschossen. Genauso ist es mir erzählt worden. Paul Kirsch kam aus der Tschechoslowakei, war verheiratet. Er war in Auschwitz gewesen, nach allem was ich weiß. Meine Mutter sagte häufig: ‚Er hat mehrere KZs und auch Auschwitz überlebt und dann muss ihm das widerfahren.’“

Ob jemals gegen den Polizeischützen ermittelt wurde, konnte ich nicht feststellen.[91]

Aber einer Nachricht in der Mittelbayerischen Zeitung vom 2. November 1950 ist zu

 

entnehmen, dass drei der an dem Streit beteiligten Roma angeklagt und zwei auch verurteilt worden waren: Zwei Roma, ein Artist und ein Scherenschleifer, wurden zu fünf beziehungsweise drei Monaten Gefängnis wegen „Volltrunkenheit“ verurteilt. Der dritte Angeklagte wurde mangels Beweise für seine Teilnahme an der „Rauferei“ freigesprochen.

 

„Landespolizeidirektion Niederbayern / Oberpfalz“ auf eventuell vorhandene Personalakten überprüft werden.

Karl Mettbach (53), erschossen von einem Polizisten in Hagen am 8. Mai 1979

 

 

 

Der Hamburger Kaufmann Karl Mettbach war am 8. Mai 1979 zu Besuch auf dem

Hof von Bodo Menzel, in der Nähe von Hagen. Bodo Menzel, verheiratet mit einer Sintiza, war der hiesigen Polizei schon lange ein Dorn im Auge. Den Besucher hatten die Polizisten ebenfalls im Visier. Sie hatten den Hinweis bekommen, sein Opel sei als gestohlen gemeldet. Als Karl Mettbach mit seiner Tochter in dem Commodore abends gegen 23 Uhr vom Anwesen des Bodo Menzel aufbrach, verfolgten ihn zwei Streifenwagen. Nachdem Mettbach dies bemerkte, beschleunigte er und fuhr zurück zu den Menzels. Inzwischen folgten ihm drei Polizeiwagen und fuhren ebenfalls auf das Grundstück.

Als Karl Mettbach seinen Wagen verließ, die Hände in Kopfhöhe, tastete ihn ein

Streifenbeamter von hinten nach Waffen ab. Sein Kollege stand vor Mettbach. Ein

Polizist sagte: „Umdrehen“, was Karl Mettbach auch langsam tat. In genau diesem Augenblick schoss einer der Beamten Karl Mettbach direkt in die Stirn. Karl Mettbach war sofort tot.

 

Recherche-Verlauf und persönliche Schlussfolgerungen

Anfangs sah es so aus, als sei der tödliche Schuss auf Karl Mettbach der am leichtesten zu recherchierende Fall polizeilicher Gewalt gegen Sinti und Roma.

Bereits zu Beginn der Nachforschungen hatte mir der Polizeiexperte und

Bürgerrechtler Otto Diederichs eine Kopie eines Artikels der Zeitschrift „Pogrom“ zur Verfügung gestellt, in dem Bodo Menzel als Augenzeuge ausführlich den Tathergang schildert.[92] Es drängte sich von Anfang an der Eindruck auf: Das kam einer standrechtlichen Erschießung nah! Ein Eindruck, der sich im Zuge der Recherche noch verfestigte.

War der Todesschütze vor Gericht gestellt worden? War er wenigstens versetzt worden? Hatte man sich bei Mettbachs Familie entschuldigt? Nicht davon fand sich in den Akten.

Am 4. März 2020 beendete eine E-Mail von Dr. Thomas Brakmann, Abteilung Osnabrück des Niedersächsischen Landesarchivs, meine Hoffnung auf Antworten. Aufgrund des zuvor erfolgten wochenlangen E-Mail-Verkehrs mit Brakmann war bereits deutlich geworden, dass im Landesarchiv keine Dokumente über den Todesschuss auf Mettbach vorlagen. Auf eine zusätzliche Anfrage von ihm bei der Staatsanwaltschaft Osnabrück wurde mitgeteilt, man habe nichts über Karl Mettbach ermitteln können – weder Akten noch Aktenteile seien vorhanden. Eine

Sachbearbeiterin ging davon aus, „dass sie nach Zeitablauf vernichtet worden sind“. Auch in der zuständigen Polizeiinspektion Osnabrück fand sich laut telefonischer Auskunft von Thomas Brakmann Ende Januar 2020 nichts. Und schon am 29.

November 2019 hatte die Staatsanwaltschaft Hagen per E-Mail meine Anfrage

 

abschlägig beschieden: „Es arbeitet hier auch niemand mehr, der sich an einen solchen Fall aus eigenem Erleben erinnern könnte.“

Im Hamburger Staatsarchiv, in dem ich nach Karl Mettbach und seinen

Todesumständen forschte, fand ich den Hinweis darauf, dass auf dem Alten Friedhof Hamburg-Wandsbeck ein Grabstein existiere, auf dem ein galoppierendes Pferd und folgender Schriftzug zu sehen seien:

„Karl Mettbach 29.12.1926 – 8.5.1979. Lieber Dadda wir sind immer bei Dir.“

Außerdem fand ich Hinweise auf verschiedene Ermittlungen gegen Mettbach wegen kleinerer Delikte. Aber außer einigen Zeitungsartikeln waren keine Dokumente über den Todesschuss vorhanden.[93]

In der Akte im Staatsarchiv108 findet sich jedoch der Hinweis, dass auch Karl Mettbach – wie die anderen Opfer von Polizeischüssen, die ich recherchiert habe − ein Überlebender des Völkermordes an den Sinti und Roma war. Gemeinsam mit seinen Eltern und zehn Geschwistern war er im Mai 1940 aus Hamburg in das deutsch besetzte Polen deportiert worden.

Leider konnte ich niemanden aus seiner Familie zu den damaligen Vorkommnissen sprechen. Trotzdem konnte anhand der Zeugenaussage von Bodo Menzel und der ausführlichen, überregionalen Berichterstattung in zahlreichen Medien der Tatablauf einigermaßen gut rekonstruiert werden. Auch wenn sich auch hier wieder Aussage gegen Aussage gegenüberstehen.

Bei dem Todesschuss auf Karl Mettbach handelte es sich so deutlich, wie kaum in einem anderen der von mir recherchierten Fälle, um eine vor einem rassistisch aufgeheizten Hintergrund geschehene Tat. Dies wird besonders deutlich, weil ohne dass es zu einer Schlägerei oder zu sonstigen Tätlichkeiten gekommen war – nach allem, was über den Fall bekannt ist – aus nächster Nähe auf einen unbewaffneten Mann geschossen wurde, der sich nach Augenzeugenberichten kooperativ verhielt.

 

 

Der Augenzeuge Bodo Menzel

In der Zeitschrift „Pogrom“, herausgegeben von der „Gesellschaft für bedrohte Völker“, ebenso wie im „Arbeiterkampf“ wurde ein Interview mit dem Augenzeugen der Tat veröffentlicht. [94] Dort schildert Bodo Menzel sehr eindringlich, wie die Erschießung von Karl Mettbach erfolgte.

Auf die Frage, wie Mettbach erschossen worden sei, antwortete Menzel: „Von hinten nicht, von vorne. Der Mann ist bei uns vor den Pferdestall gefahren, drei Wagen haben ihn verfolgt. Karl Mettbach saß noch am Steuer. Zwei Beamte sind rechts und links neben den Wagen gesprungen und haben gesagt, er solle mit erhobenen Händen aus dem Wagen steigen. Das hat er auch gemacht. Der eine Polizist ist zu ihm gegangen und hat ihn von hinten abgetastet, ob er Waffen hat. Wir hatten vorher noch zusammen Kaffee getrunken und Abendbrot gegessen. Der Polizist, der vor ihm stand, sagte dann, er solle sich langsam umdrehen. Als er sich umdrehte, schoss er ihn von vorne rechts in die Stirn, in die Schläfe. Aus anderthalb Meter Entfernung. Das war direkt Mord! Ich kenne diesen Mann schon 20 Jahre. Das war ein grundehrlicher Kerl, er hatte 15 Kinder, der Karl Mettbach.“

Bodo Menzel berichtete auch darüber, dass er und seine Familie zuvor bereits mehrfach überzogene Einsätze der Polizei erlebt hatten: „Ich habe auch 13 Kinder, acht Söhne, und die fahren mal ohne Führerschein oder mit einem frisierten Moped. Aber deswegen sind wir doch keine Verbrecher! Und die Polizei kommt laufend mit der Pistole im Anschlag. Jetzt haben sie schon zwei von meinen großen Jungs in Sicherungshaft eingesperrt. Aber das hat immer noch kein Ende.“ Deshalb vermutete er, dass das Einsatzkommando, das Karl Mettbach erschossen hatte, zuvor aufgewiegelt worden und darauf eingestellt gewesen sei, von der Waffe Gebrauch zu machen.

Des Weiteren schilderte Bodo Menzel, dass ihm nach dem Todesschuss von der Staatsanwaltschaft Osnabrück verboten worden sei, den Namen des Polizeischützen weiterzugeben, und man ihn zwangsweise zu einer psychiatrischen Untersuchung vorgeführt habe, um ihn, so vermutete er, als Augenzeuge zu diskreditieren. Seit dem Todesschuss habe er Angst vor der Polizei: „Sie sehen doch, man hat mir meine Fahrzeuge weggenommen, ohne Grund. Und sie sehen doch, ich kann nicht einmal meine Pferde mehr bewegen, ohne dass ein Auto hinter mir herfährt. Mit einem Mal habe ich auch eine Kugel im Kopf und falle herunter, das Pferd geht nach Hause und ich liege da irgendwo. Ich bin hier meines Lebens nicht mehr sicher. Ich will auch ausziehen hier.“  

 

Die Entlastungsstrategie der Polizei in der Presse

Die Darstellung in der Neuen Osnabrücker Zeitung am Tag nach dem Todesschuss gab ausschließlich die Perspektive der Polizei wieder. Mettbach habe sich „zur Wehr gesetzt, als sich aus der Waffe eines Georgsmarienhütter Schutzpolizisten der tödliche Schuss löste. Die Kugel traf das Opfer in den Kopf.“110 Weiter hieß es: Die Polizei wollte das Auto vor einer Hagener Gaststätte überprüfen. Doch das spätere

Opfer habe Gas gegeben „und fuhr auf den Beamten zu, der sich durch einen

Sprung in Sicherheit bringen musste. Inzwischen war auch ein Einsatzfahrzeug der Osnabrücker Kriminalpolizei eingetroffen. Gemeinsam nahmen die Beamten die

 

Verfolgung auf.“ Der Fahrer wurde gestellt. „Die Beamten der Zivilstreife gingen mit gezogenen geladenen und entsicherten Waffen auf den Mann zu. Als sich der mutmaßliche Autodieb zur Wehr setzte, löste sich der Schuss. […] Die Staatsanwaltschaft Osnabrück hat übrigens die Ermittlungen in diesem Fall unmittelbar nach der Tat aufgenommen. Wie mitgeteilt wird, war die Frage, ob gegen

den Beamten, aus dessen Waffe sich der Schuss gelöst hatte, ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wird, gestern noch nicht entschieden.“

Der Stern hingegen stellte heraus, dass die Polizei unmittelbar nach der Erschießung versucht habe, „Karl Mettbach einen Autodiebstahl, ein Sittlichkeitsvergehen und Gewalttätigkeit anzuhängen“. Es wurden die Aussagen des Osnabrücker Kripochefs zitiert, wonach Mettbach sich bei der Festnahme gewehrt haben soll. Dem gegenüber standen die Beobachtungen von sechs Zeugen, die das Gegenteil bekundeten, sowie der Darstellung des wegen fahrlässiger Tötung gegen den Polizisten ermittelnden Staatsanwalts.[95] Auch erwähnte der Stern rassistische

Ausfälle von Polizisten gegenüber Bodo Menzel und seiner Familie und wies auf Ermittlungsdefizite hin.[96]

Zur Rechtfertigung des Schusswaffengebrauchs wurde angeführt, Karl Mettbach sei von der Staatsanwaltschaft „… unter Hinweis auf Gewalttätigkeit zur Festnahme ausgeschrieben“ gewesen. Tatsächlich aber war dieser Umstand dem Polizisten X. jedoch erst nach dem Todesschuss bekannt geworden.113

Die Zeitschrift Pogrom bezog kritisch Position und unterstrich, dass „die Polizei versuchte, den Todesschuss auf den wehrlosen Karl Mettbach zu vertuschen.“ Nach Ansicht von Pogrom mache dieser Todesschuss „eine besondere Verfolgung von Minderheiten (hier den Zigeunern)“ deutlich. „Die Erschießung Karl Mettbachs durch verhetzte Polizisten“, so hieß es weiter, werfe „ein Schlaglicht auf finstere Vorgänge im westdeutschen Alltag.“

 

[1] Frankfurter Rundschau vom 14.1.1981, „Übergriffe gegen Sinti werden dokumentiert“.

[2] Allg. Gilad Margalit, Die Nachkriegsdeutschen und „ihre Zigeuner“. Die Behandlung der Sinti und Roma im Schatten von Auschwitz, Berlin 2001.

[3] Vgl. Heike Krokowski, Die Last der Vergangenheit. Auswirkungen nationalsozialistischer Verfolgung auf deutsche Sinti, Frankfurt am Main/New York 2001; Anja Reuss, Kontinuitäten der Stigmatisierung.

Sinti und Roma in der deutschen Nachkriegszeit, Berlin 2015.

[4] Hierzu Peter Widmann, An den Rändern der Städte. Sinti und Jenische in der deutschen Kommunalpolitik, Berlin 2001.

[5] Schreiben des Regierungspräsidenten Arnsberg vom 10.10.1955 betr: „Landfahrerplage“ an den NRW-Innenminister. Antwort Innenminister an RP Arnsberg vom 2.11.55 betr. „Bekämpfung des Landfahrerwesens“: „Eine wirksame Bekämpfung der Landfahrer, deren Gefährlichkeit in erster Linie in dem unsteten Umherziehen begründet liegt, kann nur durch allmähliche Sesshaftmachung erfolgen.“ Vgl. Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland, NW 1294, Nr. 60.

[6] Zitiert aus einem Schreiben des Dienststellenleiters beim Haupternährungsamt der

Gemeindeverwaltung Harburg, Weufken, an den Bürgermeister des Ortsamtes vom 3.8.1945. Das Schreiben wurde in einer Ausstellung über das „Alltagsleben in Hamburg nach 1945“ im Foyer des Hamburger Rathauses im Januar 2020 gezeigt.

[7] In der Publikation Romani Rose, Bürgerrechte für Sinti und Roma. Das Buch zum Rassismus in Deutschland, hg. vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma, Heidelberg 1987, ist auf S. 45f folgendes zu lesen: „Ein umfangreiches Schreiben sandte der ‚Verband Deutscher Sinti‘, die älteste

Bürgerrechtsorganisation der Betroffenen in der Bundesrepublik, im Januar 1982 an alle Innenminister der Länder und des Bundes. Er wies darauf hin, dass durch diese rassistische Polizeiausbildung und Praxis beim behördlichen Vorgehen von 1945 bis 1980 mindestens 14 Sinti und Roma erschossen wurden, bei einem Bevölkerungsanteil von knapp 0,1 Prozent. ‚Nur gleichgewichtig hätte dann die deutsche Polizei im gleichen Zeitraum mindestens 15000 weitere Bundesbürger erschießen müssen.‘“ 8 Interview mit Romani Rose am 14.11.2019 in den Räumen des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma, Heidelberg.  9 Ebd.

[8] Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma, Schreiben des NRWInnenministers Herbert Schnoor an den Verband Deutscher Sinti e.V., z. Hd. Herrn R. Rose vom 11.2.1982, Betr.: Landfahrer.

[9] Zitat aus einer E-Mail von Oberstaatsanwalt Dr. Gerhard Pauli, Pressesprecher der Staatsanwaltschaft Hagen, vom 29.11.2019.

[10] Barbara Hübner, Pressesprecherin des Bundeskriminalamtes, E-Mail vom 19.12.2019.

[11] Rhein-Neckar-Zeitung, 7.3.1974.

[12] Interview mit Johann Lehmann, einem Neffen des erschossenen Anton Lehmann, am 16.11.2019 in

Heidelberg, im Beisein von Nadine Küßner, Mitarbeiterin im Projekt „Antiziganismusprävention“ der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. 16 Rhein-Neckar-Zeitung, 7.3.1974.

[13] Laut Rhein-Neckar-Zeitung vom 8.3.1974 behauptete dies Rechtsanwalt Dr. Müller aus Mannheim, Verteidiger des Angeklagten Jürgen Lehmann, Überschrift: „Urteile im Zigeuner-Prozess verkündet“.

[14] Landesarchiv Baden-Württemberg, Generallandesarchiv Karlsruhe, 309 Zugang 1983-90 Nr. 329,

Verfahrensakte mit dem Aktenzeichen 12 Js 942/75. Darin enthalten: Wortlaut der

Einstellungsverfügung des Ermittlungsverfahrens gegen den Polizeibeamten, der Anton Lehmann erschossen hatte, durch die Staatsanwaltschaft beim Landgericht Heidelberg vom 29.7.1975; Landgericht Heidelberg, 5.7.1974, schriftliche Urteilsbegründung in der Strafsache gegen die drei Lehmann-Söhne; Landgericht Heidelberg, Urteil, rechtskräftig am 26.9.1974. Hier nach Ebd, Landgericht Heidelberg, Schriftliche Urteilsbegründung vom 5.7.1974, S. 9.

[15] Ebd. sowie schriftliche Urteilsbegründung in der Strafsache gegen die drei Lehmann-Söhne; Landgericht Heidelberg, Urteil, rechtskräftig am 26.9.1974.

[16] Ebd., Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Heidelberg vom 29.7.1975 , S. 1.

[17] Landesarchiv Baden-Württemberg, Generallandesarchiv Karlsruhe, 309 Zugang 1983-90 Nr. 329, Verfahrensakte mit dem Aktenzeichen 12 Js 942/75, Landgericht Heidelberg, Urteil, rechtskräftig am 26.9.1974.

[18] Hier und im Folgenden Interview mit Johann Lehmann, 16.11.2019 (Anm. 15). 23 Heidelberger Tageblatt, 2./3.6.1973 (Heidelberg Stadt und Land, S. 17).

[19] Rhein-Neckar-Zeitung, 2.6.1973.

[20] Landesarchiv Baden-Württemberg, Generallandesarchiv Karlsruhe, 309 Zugang 1983-90 Nr. 329, Landgericht Heidelberg, 5.7.1974, schriftliche Urteilsbegründung in der Strafsache gegen die drei Lehmann-Söhne.

[21] Ein Farrenschwanz ist ein Ochsenziemer, also eine Schlagwaffe.

[22] Rhein-Neckar-Zeitung vom 2.6.1973, Überschrift „Schwerverletzter Polizist erschoss Zigeunervater“.

[23] Ebd.

[24] Ebd.

[25] Ebd.

[26] Ebd.

[27] Stuttgarter Zeitung, 19.6.1973.

[28] Ebd.

[29] In Pfaffenhofen hatte am 5. November 1972 ein Bauer die Sintiza Anka Denisov erschossen. Die Tat war, laut Spiegel 17/1974, folgendermaßen abgelaufen: An diesem Sonntag beschlossen einige sich in Pfaffenhofen aufhaltende Sinti, sich bei den Landwirten der Umgebung mit Lebensmitteln zu versorgen. Fünf Mädchen betraten den Hof des Bauern Franz Goldbrunner „um dort einzukaufen, und kletterten die Treppe zum ersten Stock hinauf. Der Bauer und seine Familie starrten im Parterre auf den Fernseher. Als er oben Geräusche vernahm, griff sich Goldbrunner ein halbautomatisches Kleinkalibergewehr aus dem Schrank, rannte in den Flur und ballerte das Magazin leer. Anka Denisov, 18, und im siebten Monat schwanger, fiel durch die Schüsse nach hinten; Milena Ivanov, 16, erhielt vier Kugeln von hinten, kam aber mit dem Leben davon.“ Anschließend erhielt Goldbrunner Polizeischutz, gegen die schwerverletzte Ivanov und zwei weitere vierzehnjährige „Zigeunerinnen“ wurde Haftbefehl erlassen. Die Sinti wandten sich an den Strafverteidiger Rolf Bossi, der laut Spiegel beklagte: „Im Landkreis Pfaffenhofen hat kein Landrat, kein Bürgermeister und kein Pfarrer irgendwie geholfen.“ Goldbrunner wurde später wegen Totschlag und Totschlagversuch zu sieben Jahren Haft verurteilt. Laut der Badischen Neuesten Nachrichten vom 22. März 1974 sagte der Vorsitzende

Richter des Schwurgerichts München in einer Vorbemerkung zu seiner mündlichen

[30] Heidelberger Tageblatt, 2./3.6.1973.

[31] Rhein-Neckar-Zeitung, 2.6.1973

[32] Heidelberger Tageblatt (Heidelberg Stadt und Land), 19.6.1973.

[33] Heidelberger Nachrichten, 18.6.1973.

[34] Daniela Gress, „Wir wollen Gerechtigkeit!“. Die Ursprünge der Bürgerrechtsbewegung deutscher Sinti und Roma in Heidelberg, in: Heidelberg. Jahrbuch zur Geschichte der Stadt 22/2018, S. 111-128, Zitat S. 118.

[35] Stuttgarter Zeitung, 19.6.1973.

[36] Heidelberger Nachrichten, 18.6.1973.

[37] Gress, „Wir wollen Gerechtigkeit“ (Anm. 43), S. 119.

[38] „Heidelberger Tageblatt“, 7.3.1974 zum Prozessauftakt. Enthalten auch in der schriftlichen Urteilsbegründung des Heidelberger Landgerichts.

[39] Landesarchiv Baden-Württemberg, Generallandesarchiv Karlsruhe, 309 Zugang 1983-90 Nr. 329, Landgericht Heidelberg, 5.7.1974, schriftliche Urteilsbegründung in der Strafsache gegen die drei Lehmann-Söhne.

[40] Heidelberger Tageblatt (Heidelberg Stadt und Land), 8.3.1974.

[41] Rhein-Neckar-Zeitung, 8.3.1974.

[42] Ebd.

[43] Ebd.

[44] Heidelberger Tageblatt und Rhein-Neckar -Zeitung, 8. und 9.3.1974.

[45] Vgl. Gress, „Wir wollen Gerechtigkeit“ (Anm. 43), S. 119-120. Siehe auch die Darstellung der Plädoyers der Verteidigung in Rhein-Neckar-Zeitung, 8.3.1974.

[46] Zur Verfolgung der Heidelberger Sinti siehe „… weggekommen.“ Berichte und Zeugnisse von Sinti, die die NS-Verfolgung überlebt haben, hg. vom Verband Deutscher Sinti und Roma Baden-

[47] Staatsarchiv Hamburg, Bestands-Nr. 331_1_II-PB_II_1100: Todesermittlungsakte Czori und Kwiek. 56 Ebd.

[48] Ebd. Akte Strafanzeige, Tatzeit 5.11.60. Todesermittlung von Amts wegen.

[49] Interview mit Rudko Kawczynski, Vorsitzender der Rom und Cinti Union Hamburg, am 14.1.2020 in den Räumen der RCU.

[50] Die Zeit, 11.11.1960: „Die Polizei sagt Notwehr – Im Wohnlager heißt es: Mord“.

[51] Süddeutsche Zeitung, 7.11.1960: „In Notwehr gehandelt“.

[52] Morgenpost v. 8.11.60, Titelseite: „Zigeuner holten ihre Toten in gläsernen Särgen“.  62 Hamburger Morgenpost, 10.11.1960.

[53] Hamburger Abendblatt, 8.11.1960

[54] Martin Block (1891-1972), ein deutscher Ethnologe, publizierte u.a. „Zigeuner: Ihr Leben und ihre Seele, dargestellt aufgrund eigener Reisen und Forschungen“, erschienen 1936 in Leipzig. Zu Block vgl. Katrin Reemtsma, Exotismus und Homogenisierung – Verdinglichung und Ausbeutung. Aspekte

ethnologischer Betrachtungen der „Zigeuner“ in Deutschland nach 1945, in: „Zwischen Romantisierung und Rassismus. Sinti und Roma – 600 Jahre in Deutschland, hg. von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg und Verband Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Baden-Württemberg, Stuttgart 1998, S. 63-68.

[55] Hamburger Echo, 7.11.1960: „Polizei befürchtet ernsthaft die Rache der Zigeuner“.

[56] Hamburger Abendblatt, 7.11.1960, S. 7, archiviert in Forschungsstelle für Zeitgeschichte, Hamburg, 351-6/ Sinti und Roma.

[57] Hamburger Abendblatt, 8.11.60: „Zigeunerschwur vor der Polizei: Keine Blutrache! Wir wollen in Frieden leben.“

[58] Staatsarchiv Hamburg, Bestands-Nr. 331-1_II-PB_II_1100. Todesermittlungsakte. KK41, Hamburg.

8.11.1960. „Informatorische Befragung der „Landfahrerin“ Sofia Kwiek“ durch KM Erich 69 Ebd.

[59] Ebd.

[60] Laut der Untersuchung des gerichtsmedizinischen Instituts Hamburg hatte der erschossene Joska

Czori zum Zeitpunkt seines Todes etwa 2,08 Promille Alkohol im Blut, Karol Kwiek 1,81 Promille. Das Verfahren gegen den Polizeibeamten wegen fahrlässiger Tötung wurde am 13.2.1961 eingestellt unter AZ 142 Js 3487/60 oder 3378/60.

[61] Die Vernehmung von Baczko Czori wurde mit einem Dolmetscher geführt, was wiederum bedeuten kann, dass es zu inhaltlichen Verzerrungen kam.

[62] Staatsarchiv Hamburg, Bestands-Nr. 331-1_II-PB_II_1100. „Polizeibehörde Krim.-Komm.30, Hamburg 8.11.1960, Verantwortliche Vernehmung von Landfahrer Backo Czory“. Das Verfahren gegen Baczko Czory, geb. 1942 in Polen, wegen Landfriedensbruch und Aufruhr wurde am 12.3.1961 eingestellt.

[63] Hamburger Echo, 7.11.1960: „Polizei befürchtet ernsthaft die Rache der Zigeuner“.

[64] Ebd. Auch die Hamburger Morgenpost zitierte mit dem Schwiegervater des getöteten Carol Kwiek einen Angehörigen, vgl. Hamburger Morgenpost, 8.11.1960: „Zigeuner holten ihre Toten in gläsernen Särgen“.

[65] Hamburger Morgenpost, 8.11.1960: „Zigeuner holten ihre toten in gläsernen Särgen“. 77 Interview mit Rudko Kawczynski, Vorsitzender der Rom und Cinti Union Hamburg, (RCU) am 14.1.2020 in den Räumen der RCU.

[66] Staatsarchiv Hamburg, Bestands-Nr. 331_II_2056 und Nr. 331_1_II_2066.

[67] Süddeutsche Zeitung, 7.11.1960.

[68] Bericht zur Lage der Rom und Cinti in Hamburg, Versuch einer Dokumentation, Hrsg. Rom und Cinti Union e.V. aus der Schriftenreihe der E PAtRIN erschienen in den 1980ern, ab Seite 11ff:

Verfolgungsmaßnahmen, Gesetze und Berichte über NS-Verfolgungen von Donald Kenrick, S. 41: Zur Lage in Hamburg. Vgl. außerdem OST-WEST Europäische Perspektiven, „Die Roma in Polen“ von Lidia Ostakowska, Reporterin der polnischen Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“ und Verfasserin eines Buches über die Roma und Mittel- und Osteuropa („Cygan – to cygan“) 2/2003.

[69] Dargestellt anhand von Staatsarchiv Hamburg, Bestands-Nr. 331_1_II-PB_II_1100: Todesermittlungsakte Czori und Kwiek.

[70] Staatsarchiv Hamburg, Bestands-Nr. 331_1_II-PB_II_1100.

[71] Ebd. Laut internem Polizeivermerk wurden am Tatort folgende Beweismittel sichergestellt: eine Patronenhülse, Kal. 7,65 mm; eine Eisenharke; zwei zerbrochene Besen; ein zerbrochener Schrubber -letztere allesamt mit Stielresten-; zwei leere Brauseflaschen und ein Kinder-Hausschuh.

[72] Hamburger Morgenpost, 7.11.1960; Hamburger Echo, 7.11.1960; Hamburger Abendblatt, 7.11.1960; Die Zeit, 11.11.1960; Bild am Sonntag, 6.11.1960; Bild, 7.11.1960; FAZ, 7.11.1960. Die Zeit, 11.11.1960: „Die Polizei sagt Notwehr – Im Wohnlager heißt es: Mord“.

[73] Süddeutsche Zeitung, 7.11.1960.

[74] Hamburger Morgenpost, 7.11.1960.

[75] Hamburger Abendblatt, 7.11.1960.

[76] Bild, 8.11.1960: „Zigeuner-König Kwieck: Keine Blutrache gegen Hamburger Polizei“, Hamburger Echo, 8.11.1860: „Von Blutrache ist nicht die Rede“, Hamburger Abendblatt, 8.11.1960:

„Zigeunerschwur vor der Polizei: Keine Blutrache! Wir wollen in Frieden leben“. 89 Bild am Sonntag, 6.11.1960.

[77] Ebd.

[78] Süddeutsche Zeitung, 7.11.1960: „In Notwehr gehandelt“.

[79] Staatsarchiv HH, Bestand-Nr. 331_1_II-PB_II_1100, Todesermittlungsakte Czori und Kwiek.

[80] Ebd.

[81] Ebd.

[82] Hamburger Morgenpost, 10.11.1960.

[83] Staatsarchiv HH, Bestand-Nr. 331_1_II-PB_II_1100, Todesermittlungsakte Czori und Kwiek.

[84] Ebd. Das Schreiben ist hier trotz seines erkennbar rassistischen Gehalts aufgrund der besonderen

Bedeutung der Person Martin Blocks vollständig wiedergegeben. Zudem ist es ein Beispiel dafür, wie Ethnologen gegenüber staatlichen Behörden eine Gutachterposition – und damit Machtstellung – einnehmen und den Diskurs über Sinti und Roma bestimmen.

[85] Ebd.

[86] Interview mit Rudko Kawczynski, Vorsitzender der Rom und Cinti Union Hamburg, am 14.1.2020 in den Räumen der RCU.

[87] Duo Z, „Ganz Anders. (Deutsche Zigeunerlieder)“, LP, veröffentlicht 1981 auf dem Label pläne.

[88] https://www.youtube.com/watch?v=9iPZ6ya-Qwk.

[89] Vgl. auch Bistum Regensburg, Mitteilung vom 2.12.2019: „Das Beerdigungsbuch der katholischen

Pfarrei Neustadt an der Donau vermerkt in Band 21, S. 167, dass der verheiratete Scherenschleifer Paul Kirsch, ohne festen Wohnsitz, 23 Jahre und 6 Monate alt, am 25. Juli 1950 abends um 19 Uhr durch einen Polizisten in Notwehr erschossen wurde. Die Beerdigung fand in Neustadt am 27. Juli 1950 statt.“

[90] Stadtarchiv Neustadt a.d.D., Bürgermeister von Neustadt a.d. Donau am 23.11.1950 an das Zentralamt für Kriminal-Identifizierung und Polizeistatistik des Landes Bayern, Nachrichtensammelstelle über Landfahrer, München, Königinstr. 1.  104 Altmühlbote, 29.7.1950: „Handgemenge fordert Todesopfer“.

[91] Das Staatsarchiv Landshut teilte am 2.3.2020 mit, dass die Unterlagen des ehemaligen Amtsgerichts Abensberg sich im Archiv befinden und bei einer ersten Durchsicht der Datenbank weder dort noch in anderen eventuell einschlägigen Beständen etwas zu diesem Vorfall gefunden werden konnte. Akten von Polizeibehörden seien generell nur in geringer Zahl vorhanden. Der Hinweis auf den Prozess gegen die Roma ergab sich durch eine Mitteilung des Staatsarchivs Amberg vom 6.3.2020. Es gebe zwar keinen Eintrag zu Paul Kirsch in der Datenbank des Staatsarchivs Amberg und Akten der Kriminalpolizeiaußenstelle Regensburg liegen nicht vor. Einzig bei der Durchsicht des Registers der Staatsanwaltschaft Regensburg für das Jahr 1950 (Signatur:

Staatsanwaltschaft Regensburg 316) konnte unter der lfd. Nr. 3170 der Eintrag zu einer Anzeige der Kriminalaußenstelle Regensburg vom 27.7.1950 gegen fünf Männer gefunden werden, alle ohne festen Wohnsitz, darunter Paul Kirsch, geb. 15.1.1927. Vorwurf: Aufruhr. Weitere relevante Hinweise gingen aus diesem Eintrag nicht hervor. Auch eine Durchsicht des staatsanwaltschaftlichen Registers bis zum 5.10.1950 ergab keine Hinweise. Regelmäßig sei in dem Register nur das Feld

„Beschuldigter“ ausgefüllt, deshalb sei eine zuverlässige Recherche nur nach der Person möglich, gegen die ermittelt wurde. Um hier fündig zu werden, müssten die Namen der beteiligten Polizeibeamten bekannt sein, erst dann könne der im Staatsarchiv verwahrte Bestand

[92] „Die Erschießung des Zigeuners Karl Mettbach. Interview mit einem Augenzeugen“ in: Pogrom. Zeitschrift der Gesellschaft für bedrohte Völker, 10. Jahrgang, Oktober 1979, Nr. 68, Seite 21-22. Bei dem Beitrag handelte es sich um ein Interview mit Bodo Menzel, übernommen aus dem „Arbeiterkampf“, 11.6.1979.

[93] Staatsarchiv Hamburg, Bestands-Nr. 331-1_II_1310. 108 Ebd.

[94] Vgl. „Die Erschießung des Zigeuners Karl Mettbach“ (wie Fußnote 106). 110 Neue Osnabrücker Zeitung, 9.5.1979.

[95] Stern Nr. 22 vom 23.5.1979: „Der Tod des Zigeuners.“ Unterzeile: „Im Teutoburger Wald stellte die Polizei einen mutmaßlichen Autodieb. Ein junger Beamter verlor die Nerven und schoss den Wehrlosen in den Hinterkopf“.

[96] „Entgegen der Vorschrift erschienen keine Beamten des für Leichensachen zuständigen 1. KripoKommissariats von Osnabrück am Tatort, sondern andere Kripobeamte. Sie legten auch nicht die übliche Akte ‚Ermittlungsverfahren wegen fahrlässiger Tötung gegen X.‘ an, sondern schrieben „Todesermittlung zum Nachteil Karl Mettbach‘.“ Zit. Ebd. 113 Stern, 23.5.1979.