Buchbesprechung, WDR5, Redaktion Bücher, Krausser

Das Buch der Woche, 21.11.09, Redaktion Bücher von Ingrid Müller-Münch

 Helmut Krausser: „Einsamkeit und Sex und Mitleid“, Roman, dumont-Buchverlag Köln, 2009, ISBN 978-3-8321-8092-8, 19,95 Euro

 Menschen trudeln durch Berlin. Schicksale ergeben sich en passant. Wie Marionetten stolpern die Protagonisten durch die Stadt. Stoßen irgendwann aneinander, prallen voneinander ab, nehmen sich gar nicht gegenseitig wahr und konzentrieren sich weiterhin auf ihr ein und alles: ihr eigenes winzig kleines Leben.

Helmut Krausser  nimmt uns mit auf einen Parforceritt durch Berlin. Macht uns bekannt mit Handelnden, die sich irgendwie alle selbst im Wege stehen, die vom Schicksal gebeutelt wurden oder sich selbst beutelten. Je nach dem. Und sie alle trifft man im Verlauf des Buches irgendwann wieder.

Irgendwann heißt die Stelle, an der man anbeißt. Denn Kraussers Patchworkroman „Einsamkeit und Sex und Mitleid“ zieht einen erst so nach und nach in seinen Bann. Zunächst glaube ich jedenfalls, das ganze sei eine Aneinanderreihung belangloser Geschichten. Beginnend mit einem einsamen Callboy, der nicht so recht wusste, wie er den HeiligAbend verbringen sollte. Um sich dann bei zwei Flaschen Aldi-Nord-Champagner mit einer ebenfalls einsamen Einbrecherin in seiner Wohnung zu vergnügen. Was dazu führt, dass sein Weihnachtsfest für ihn und seinen ungebetenen Gast dann doch noch eine neue Aura, eine ganz andere Bedeutung bekommt.

Moderatorin: Eher exotisch die Szenerie mit dem Callboy. Was soll das? Werden hier nur skurrile Gestalten portraitiert

Nein, irgendwie sind sie alle normal verrückt. Ekki, der frühpensionierte Lateinlehrer, der so gerne in einen dreitägigen Tiefschlaf gefallen wäre, bis Weihnachten endlich vorbei sein würde. Mimmie die schwarze Kellnerin in seiner Stammkneipe, die zu Hause nicht mehr zu bieten hat als eine Schwarzwälderkirschtorte. Dr. Stern, dem im Zug von Berlin nach Bielefeld die Schuhe geklaut werden und dem seine Geliebte den Laufpass gibt .Ein Teenager, dem ein halbstarker Türkenjunge per SMS Oralsex anbietet. Und Jonny, der tiefreligiöse junge Mann, der nur deshalb in Verdacht gerät, ein Kind entführt zu haben, weil er einem Spinner zuhört und nicht weiß, dass der Mann spinnt.

Absurdistan in Berlin. Ein Absurdistan, dass, je länger man in dem Buch liest, umso vertrauter, bekannter, alltäglicher wird. Nirgendwo passieren richtige Katastrophen, überall wird nur am Drama geschrabbt. Ein bißchen wie im richtigen Leben. So jedenfalls kam es mir vor. Und die Art und Weise, wie Helmut Krausser die Schicksale miteinander verbindet, sie in ihrer Gefühlskälte alleine in Berlin stehen läßt, verursachte bei mir ein Schaudern. Aber auch den unbedingten Drang, dieses Buch zu Ende lesen zu wollen. Um bis zum Schluss dabei zu sein, mit zu erleben, wie sich all diese Leben miteinander verknüpfen, sich streifen, wieder verlassen. So wie es in einer Stadt wie Berlin üblich ist. Wo man sich in der Ubahn trifft und nie mehr wieder sieht. Ohne zu wissen, dass man gerade  für den Bruchteil einer Minute, genau dem Menschen ins Gesicht gesehen hat, der durch irgendeine Handlung Einfluss auf mein Leben genommen hat. Es zerstörte, oder rettete. Je nachdem.

Insofern eine grandiose Idee, eine phantastische Umsetzung durch eine klare schnörkellose Sprache. Fast wie ein Stadtplan der Seelenverwirrungen quer durch die Hauptstadt.