Im Griff der bösen Tanten, FR4-9-2007, Panorama

Im Griff der bösen Tanten

In Haitis Elendsvierteln leben elternlose Kinder als Sklaven – ausgebeutet und misshandelt von zumeist armen Frauen.

Restavèk – Haitis vergessene Kindersklaven

Die neunjährige Ermite sieht pfiffig aus mit ihren wippenden Zöpfchen im strubbeligen Kraushaar. Auch der fünfzehn Jahre alte Jérome, ein schlaksiger Junge in verwaschener Jeans und rotem T-Shirt mit ausgebleichtem  Aufdruck „New York“, würde auf den ersten Blick als ganz normaler Jugendlicher durchgehen. Wenn, ja wenn nicht zwischen seinen abstehenden Ohren dunkeltieftraurige Augen in die Welt blickten; wenn Ermite nicht so verschüchtert, so in sich zusammengesunken da säße. Auf den Schultern dieser beiden Kinder lasten Tag für Tag bis zu 25 Liter schwere Bokits (so der kreolische Ausdruck für  Wassereimer), die sie über staubig unebene Straßen auf dem Kopf balancierend schleppen müssen. Von der Wasserstelle zu der ärmlichen Behausung, die eigentlich nicht richtig ihr Zuhause ist, die sie aber in Schuss halten müssen. Denn Ermite und Jérome sind Restavèk, Kindersklaven in Haiti.

Der Weg zu ihnen führt durch Elend, Dreck und Gestank. Wer sich traut, die beiden zu besuchen, muss sich seelisch und körperlich gut wappnen. Sie leben in einem bidonville von Port-au-Prince, einem der unzähligen Elendsviertel in Haitis heruntergekommener Hauptstadt. Einer sogenannten „zone non droit“, einem Slum, in dem keine Gesetze gelten, Banden sich gegenseitig bekriegen, Gewalt den Alltag beherrscht. Er liegt an dem mit Müll bedeckten Ufer der Karibik, in dessen qualmenden Abgründen Schweine nach Essbarem wühlen. Der Boden zwischen den dicht aneinander gedrängten Lehm-, Stein- oder Wellblechhütten ist so matschig, dass der vom Regen durchweichte Abfall in grünglitzernde Biotope mutiert, umschwärmt von Fliegen und Ungeziefer. Kinder rubbeln auf den engen Gassen am Boden kniend Wäsche in Plastikschüsseln, fegen fensterlose Hütten, jagen hinter gackernden Hühnern her, entfachen die Feuer der Holzkohle-Kochstellen.

Irgendwann dann, wenn es überhaupt nicht mehr weiter zu gehen scheint, der undefinierbare Gestank immer übler wird – winkt Ermite. Sie sitzt auf einem Mäuerchen des winzigen, mit Kartons, Kisten und Blechgeschirr vollgepfropften Vorbaus einer unverputzten Steinhütte, gerade mal knappe zehn Quadratmeter groß. Hier leben auf engstem Raum sieben Menschen – und die kleine Ermite. Doch die zählt nicht. Sie ist niemand, ein Kind, das keine Rechte hat, auf das kein Mensch Rücksicht zu nehmen braucht, das auf dem nackten Betonboden schläft, daher auch keinen Platz beansprucht.

Ermite ist ein Restavék, eines der unzähligen Sklavenkinder Haitis. Laut UN-Schätzungen gibt es etwa 300.000 solcher Restavèk wie sie. Tatsächlich weiß niemand genau, wieviel Kinder als Sklaven in haitianischen Haushalten gehalten werden und dort schuften müssen – zwischen zwölf und vierzehn Stunden pro Tag.

Ihr Schimpfname lautet Restavèk, ist kreolisch, vom französischen „rester avec“ abgeleitet, was soviel bedeutet wie: „bei jemandem bleiben“. Und genau das tun diese Kinder meist schon seit ihrem fünften, sechsten Lebensjahr. So wie Lovelie, deren Mutter bei ihrer Geburt starb. Der Vater gab sie zu einer dieser sogenannten „Tanten“, wie die Frauen heißen, die sich ein Restavèk halten. Meist müssen auch diese Tanten ums Überleben kämpfen, auf Märkten billige Plastikware feilbieten, Eisquader verkaufen, Zuckerrohrstangen schälen und anbieten. Da liegt es nahe, dass jemand anders den Haushalt führt, der ohne fließend Wasser, ohne Strom und sonstige Annehmlichkeiten seine Zeit und viel körperliche Kraft beansprucht. Ein Restavèk Kind ist da gerade recht. Und da diese Art von Kindersklaverei in Haiti zum Alltag gehört, nimmt auch niemand Anstoß daran, wenn beim Nachbarn, bei Verwandten ein solches Sklavenkind tagsaus tagein schwerste Arbeiten verrichtet. Kostenlos, gedemütigt, geprügelt, ausgebeutet.

Die Selbstverständlichkeit, mit der dies geschieht und toleriert wird, erklärt sich für Père Miguel aus der Sklavengeschichte seines Landes. Der Pfarrer, der im Slum von Carrefour eine Schule für Restavèk leitet, führt die Gleichgültigkeit seiner Landsleute diesen Kindern gegenüber darauf zurück, dass bis zum Jahre 1804, als sich Haiti von Kolonialherren und Sklaverei befreite, man längst daran gewöhnt war, dass „die Eltern als Sklaven gehalten wurden und die Kinder sozusagen als Beigabe dazugehörten. Auch sie waren willkommene Arbeitskräfte.“ Kinderarbeit im Haushalt ist, so sieht es der Pater, seither „Bestandteil der hiesigen Kultur“. Deshalb meint Père Miguel, „müssen wir uns nicht nur um diese Kinder kümmern, sondern die allgemeine Haltung ihnen gegenüber verändern.“

So zum Beispiel die Haltung gegenüber Lovelie. Die dreizehnjährige plagt sich von morgens fünf Uhr bis Nachts 20 Uhr für die Frau, die sie Tante nennen muss. Und wird von ihr regelmäßig nachts aus dem Haus gejagt. Weil kein Schlafplatz für Lovelie da ist. Sodass das Kind Glück hat, wenn es bei einer Nachbarin unterkriechen darf.

Für Wladimir Constant, den Psychologen eines Schutzhauses für Restavèk-Mädchen im Elendsviertel Village de Dieu, ist Lovelie „ein dringender Fall“.  Wie so viele seiner Schützlinge, die

„aus ländlichen Regionen kommen, aus Familien, die einfach nichts haben, um sie groß zu ziehen“, sagt Père Miguel. Aus Not geben diese Familien ihre Kinder an die sogenannten „Tanten“ ab, die meist in Großstädten, in Port-au-Prince oder Cap Haitien leben. In der Hoffnung, dass sie dort zur Schule geschickt werden, eine Ausbildung bekommen. „Die Wirklichkeit“, so Père Miguel, „sieht ganz anders aus. Das waren nur falsche Versprechungen. In den meisten Fällen werden diese Kinder zu kleinen Sklaven.“

Der Psychologie Constant kümmert sich vor allem um die meist schwer traumatisierten 75 Restavèk-Mädchen, die vor der Brutalität ihrer „Tanten“, vor der Vergewaltigung durch deren Männer oder Söhne in das von Bruder St. Vistal Pierre geführte Schutzhaus flüchteten. Ein aus der Not geborenes Projekt. „Nacht für Nacht sammelten sich auf den Treppenstufen unserer Klosterkirche St. Gerards Restavèk-Mädchen“, die vor der Brutalität ihrer Gastfamilien geflohen waren, schildert der Priester die Entstehungsgeschichte dieses Schutzhauses. Ihnen lauerten Männer auf, vergewaltigten sie. Zunächst wussten die katholischen Geistlichen nicht wohin mit den Flüchtlingen, räumten für sie eine Garage frei. Seit 1990 steht nun das Schutzhaus wie eine Trutzburg mitten im Gewühle von Village de Dieu. Beherbergt eine Schule, Ausbildungsräume, Schlafstätten.

Bruder St. Vistal Pierre muss seine Trutzburg immer wieder verteidigen. In letzter Zeit vor allem gegen „Banditen hier im Viertel. Sie wollten Kinder entführen, die zu uns zur Schule kommen, bedrohten Mitarbeiter, stahlen unsere Autos.“ Seit Jahrzehnten schon ist Haiti gebeutelt von Umstürzen, Gewaltexzessen, Korruption und Ausnahmezuständen. In den vergangenen Jahren eskalierten Gewalt und Brutalität. Doch seitdem über 8.000 Blauhelme in Haiti für mehr Stabilität sorgen, die Anführer marodierender Banden festnahmen, ist Ruhe eingekehrt. Vorübergehend. „Die Unotruppen haben gute Arbeit geleistet. Aber wie die Zukunft aussehen wird, weiß ich auch nicht“, sagt Bruder St. Vistal Pierre.

Haiti zählt zu den ärmsten Ländern der Welt. Zweidrittel der acht Millionen Haitianer muss von weniger als einem US-Dollar pro Tag leben. Fast die Hälfte der Bevölkerung gilt als unterernährt. Während sich die aus etwa 3.000 Familien bestehende Oberschicht eines immensen Reichtums erfreut. Sie versorgt durch eigene Generatoren das Nobelviertel Petionville mit Strom, während die Armenviertel unten im Tal von Port-au-Prince in Müll und Dreck, in Armut, Elend und des Nachts in totaler Finsternis versinken.

„Normalerweise gibt es in Haiti nur zwei Stunden Strom pro Tag“, sagt Alinx Jean Baptiste, Koordinator der in Haiti von der Kindernothilfe mit finanzierten Projekte, wie das von Père Miguel geleitete Foyer in Carrefour, das Schutzhaus für Restavèk-Mädchen in Village de Dieu oder die von der Heilsarmee betriebene Schule in Demals 2. Nur zwei Stunden Strom für die Menschen in den Slums – in Village de Dieu, St. Martin, Les Salines, Delmas 2 oder Carrefour. Dort, also, wo jeder jeden Tag erneut um sein Überleben kämpfen muss. Und wo  Restavèk-Kinder spuren müssen, sonst ergeht es ihnen wie der 9jährigen Magalie. Deren „Tante“ beschrieb ihr Verhältnis zu Magalie im Beisein des stumm mit gesenktem Kopf dabeistehenden Mädchens so: „Magalie ist eigentlich ein gutes Kind. Aber manchmal, wenn sie nicht auf mich hört, dann schlage ich sie mit einem Gürtel“.

Gürtel, Peitschen, Kochlöffel, Holzlatten – alles was gerade zur Hand ist wird zur Züchtigung dieser Kinder benutzt. Die Wunden am Körper und im Gesicht der Restavèk bleiben Wladimir Constant nicht verborgen. Die Blessuren an der Kinder Seele sind schwerer auszumachen. Um sie kann sich der Psychologe erst kümmern, wenn die Restavèk zur Schule kommen. Manchmal dürfen sie dies erst nach langwieriger Überzeugungsarbeit der Projektmitarbeiter. Denn die „Tanten“ verlangen, dass erst die Hausarbeit von Ermite oder Jérome, von Magalie oder Lovelie erledigt wird, bevor sie ihnen den Schulbesuch erlauben.

Jérome, der 15jährige Junge in dem ausgeblichenen „New-York“-T-Shirt wurde einst von seiner Mutter einfach irgendwo abgelegt. Die Frau, bei der er seitdem lebt, hat ihn gefunden und mitgenommen. „Manchmal“, erzählt Jérome, „ist sie gar nicht nett zu mir, verprügelt mich. Das macht mich traurig.“ Dann weint er still vor sich, damit es niemand bemerkt. Doch auch Jérome geht inzwischen so regelmäßig zur Schule, wie es diese „Tante“ zulässt.

In der Heilsarmee-Schule im Elendsviertel Delmas 2 konnte man bis vor drei Jahren genau erkennen, wer von den über 1.000 Kindern Restavèk war und wer nicht: die Ärmsten der Armen kamen in zerschlissener Kleidung, manche gar im Pyjama zur Schule. Damit ist Schluss, seitdem Minel Pierre Fils die Leitung übernommen hat. Er sorgte dafür, dass nun jedes Kind eine Schuluniform bekommt, mit Geldern der Kindernothilfe wurde dies möglich.

„Einige der Kinder lehnen sich gegen ihre Situation auf“, beschreibt Wladimir Constant den Umgang der Restavèk mit ihrer erbärmlichen Lage. „Andere reagieren mit Hass oder mit Ängsten. Wieder andere fragen sich, was habe ich bloß ausgefressen, um eine solche Behandlung zu verdienen.“ Manche werden einfach nur zu „Zombies“, sagt Medor Charlemagne, bei der Heilsarmee Koordinator für die Restavèk. Aus Angst, irgendetwas falsch zu machen und dann dafür grausam bestraft zu werden, versuchen die Kinder, „alles über sich ergehen zu lassen.“

Wladimir Constant geht es darum, „den Kindern wieder eine Wertschätzung der eigenen Person zu vermitteln.“ Doch nicht nur das. Auch die Ursprungsfamilien sollen wieder gefunden, die Kinder ihnen zurückgegeben werden. Ein schwieriges Unterfangen, denn häufig sind Restavèk so klein schon in fremde Obhut gegeben worden, dass sie sich weder an ihr Heimatdorf noch an ihren ursprünglichen Namen erinnern.

Ist dennoch eine Familie wieder aufgespürt, hat sich deren Not meist nicht verändert – der eigentliche Grund, warum sie ihr Kind einst abgaben. Deshalb, so Alinx Jean-Baptiste, „ist es wichtig, ein Begleitprogramm anzubieten“. Die Familien, die ihr Kind zurücknehmen, bekommen einen „Mikrokredit, solange, bis sie sich dadurch eine gewisse Lebensbasis schaffen konnten.“

Bei der kleinen Merlaine hat das funktioniert. Als endlich der Kontakt zu ihrer richtigen Mutter wieder hergestellt werden konnte, wurde das Kind herzlich empfangen. Aber deutlich spürbar war die Angst der Mutter, Merlaine nicht versorgen zu können. Projektmitarbeiter halfen der Familie, zurecht zu kommen. Der Mikrokredit tat sein übriges. Seit kurzem ist Merlaine kein Restavèk- Sklavenkind  mehr, lebt wieder zu Hause. Auch hier muss sie arbeiten, „bei uns muss jedes Familienmitglied im Haushalt mit anfassen“, erklärt Père Miguel. Aber Merlaine ist wieder gleich unter Gleichen, wird für das, was sie tut, nicht auch noch missachtet, misshandelt und gedemütigt.

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