Der Aufsteiger. FR v. 22.2.2011, Panorama

Der Aufsteiger

Orhan Jasarovki wurde einst aus Deutschland nach Mazedonien abgeschoben. Die FR berichtete damals über den behinderten Roma-Jungen. Inzwischen ist er erwachsen und zurückgekehrt. Er hat sein Germanistik-Studium mit Bestnote abgeschlossen und will nun promovieren.

Ingrid Müller-Münch über ein Wiedersehen nach 17 Jahren

Orhan Jasarovski  lebte noch nie ein normales Leben. Als Kind nicht, und auch jetzt nicht, als Erwachsener. Denn Orhan ist Roma. Doch nicht nur das. Orhan ist behindert, hat nach einer Kinderlähmung Folgeschäden zurückbehalten. „Schiefes Bein“ rief man ihm in seiner Heimatstadt Skopje hinterher. An der Grundschule in Meerbusch – die er besuchte, nachdem  er mit seiner Familie aus Mazedonien geflohen war –  nannte ihn ein Mitschüler aufgrund seiner dunklen Hautfarbe „Brathähnchen“.  Schon damals fiel er wegen seiner Lernbereitschaft, seines starken Willens und seiner Intelligenz auf.  Und wegen seines unbändigen Wunsches, zu studieren. Hinter dem steckte ein ehrgeiziges Ziel: „Ich wollte eine wichtige Person werde, die die Leute schätzen und lieben. Um das zu werden, habe ich mir große Mühe gegeben.“

Orhan wollte es schon immer all jenen zeigen, die da glaubten, ein Roma wie er tauge doch sowieso nichts. Gerade mal ein halbes Jahr brauchte Oran, um  richtig deutsch zu  lernen. Er hatte Glück, denn in Meerbusch bei Düsseldorf, wohin seine Familie als Flüchtlinge eingewiesen worden war,  lebten nur wenige Ausländer. Sodass sich engagierte deutsche Nachbarn intensiv um ihn und seine Familie kümmern konnten. „Wir hatten jeden Nachmittag Hausaufgabenbetreuung, durch ehrenamtlich arbeitende Lehrer“, erinnert sich Orhan. Später erst erfuhr er aus einem Zeitungsartikel, „ dass Meerbusch zu den reichsten Gemeinden Deutschlands gehört. Damals dachte ich noch, die großen Villen dort, die feinen Wohnungen, das sei normal in Deutschland, das sei überall so.“

 

Etwa zu der Zeit, 1993,  lernte ich Orhan kennen. Einen 13jährigen  vorwitzigen, altklugen Jungen, der auffiel inmitten der anderen Romakinder. Dadurch, dass er sich zwar nur humpelnd vorwärts bewegen konnte, sein Defizit aber durch kluge Sprüche und wache Blicke wieder wett machte. „Wir sind Roma, geschätzt nur wie ein bisschen Staub“, hatte er mir mit einem traurigen Blick dahin geworfen, um weiter konzentriert in sein Schulheft Sätze zu schreiben wie die: „Der Igel verkriecht sich langsam in seinem Laub. Die Schwalbe fliegt in die warmen Länder.“

 

Gewitzt war der kleine Kerl, wodurch auch ein Mitglied des Neusser Flüchtlingsrats auf ihn aufmerksam wurde. Oberstudienrat Michael Stoffels war eines Tages zu Besuch in die Container-Unterkunft der Roma-Familien gekommen und hatte, wie üblich, Schokolade an die Kinder verteilt. Nur ein Junge hielt sich abseits, Orhan. „Ich blieb stehen. Er hat das bemerkt und gefragt, wieso kommst du denn nicht. Meine trotzige Antwort war, ja wegen einer Schokolade soll ich ihnen hinterher laufen? Wir sind Roma. Wir sind auch Menschen. Wir brauchen keine Almosen. Das hat ihn so begeistert und fasziniert, dass  er mir hinterher gelaufen ist.“  Michael Stoffels ist seitdem Orhans engagiertester Gönner und Unterstützer.

 

„Orhan war Schüler an unserer Schule“, erinnert sich Gesamtschullehrerin Barbara Leiditz. „Er war  ein  ungewöhnlicher Junge. Dunkelhaarig, bisschen dunkle Haut. Er fiel  durch besonders artikuliertes Sprechen auch. Durch nachdenkliches Sprechen. Orhan war kein wüstes, lustiges Kind, sondern ruhig, nachdenklich, angenehm.“ Mit einem für einen 12-jährigen ungewöhnlichen Ziel:  „Als ich ihn fragte, was er denn mal vorhätte, da hat er mir geantwortet: Ich möchte mein Volk retten. Da war der im 6. Schuljahr.“

 

Schon damals rezitierte Orhan Gedichte, die er auswendig konnte und die ihn berührten. An eines erinnert er sich auch heute noch, weil es „um ein deutsches Mädchen geht, das die Züge einer Zigeunerin verkörpert. Um Friederike Lügenmaul, die frech und faul war. Schmutzig auch noch oben drein, so soll doch kein Mädchen sein“.  Er wolle immer nur die schönsten Wörter ausdrücken,  hatte Orhan mir  bei dem Gespräch im Jahr 1993  gesagt, und mich vertrauensvoll mit seinen großen schwarzen Augen angeguckt. Kurz darauf wurde er abgeschoben, der anhaltende Protest an seiner Schule, Eingaben an Politiker – all das hatte nicht geholfen.  Wegen eines „erheblichen öffentlichen Interesses“, so stand es in der Ordnungsverfügung der Stadt Neuss, musste die Familie Jasarovski zurück nach Skopje.  Seitdem hatte ich nichts mehr von ihm gehört.

 

Bis vor einigen Wochen, als ich Orhan Jasarovski erneut traf. Aus dem zartgliedrigen Jungen war ein 30jähriger stämmiger junger Mann geworden, der gerade eine Universitäts-Karriere anstrebt. Und der sich, das war nicht zu übersehen, in Deutschland und im Deutschen auf sicherem Parkett bewegt. Seine Augen wirkten als wären sie noch tiefschwarzer geworden, sein Haarschopf ist dicht und wuchernd.  Ein blitzweißes Hemd guckte aus dem schwarzen Jackett heraus, als er mir in der Wohnung seines Doktorvater Daniel Hoffmann entgegenkam. Anfangs beantwortet er eher widerstrebend meine Fragen danach, wie denn sein Leben in den vergangenen 17 Jahren seit seiner Abschiebung verlaufen ist. Doch bald schon wird er lebhaft, gestikuliert, lacht, stöhnt bei mancher Erinnerung schmerzhaft auf.

 

„Ich versuch das immer zu verdrängen mit der Abschiebung“, beginnt Orhan. „Es war schlimm.  Also die Polizei kam und hat uns genommen. Das geht mir wirklich, wenn ich mich zurückerinnere, sehr nah. Mazedonien war fremd. Die Sprache musste ich noch mal erlernen. Und wieder Fuß fassen. Wir standen vor dem Nichts. Wir hatten nur das Geld, was die Osterather Kirchengemeinde gesammelt hatte. Das waren damals 1000 DM.“

 

Lehrerin Barbara Leiditz wusste, was Orhan in Skopje erwartete und machte sich große Sorgen. „Wir hatten uns ja unabhängig von Orhan vorher schon mit der Situation in Skopje beschäftigt. Und es war klar, dass die Lebensbedingungen für Roma da ganz, ganz schwierig waren. Für den Orhan nochmal in besonderer Weise schwierig, weil er dort medizinisch absolut gar nicht so versorgt werden konnte, wie es nötig war. Er hatte ja zusätzlich noch eine Epilepsie zu seinen Kinderlähmungserscheinungen.“  

 

An einem kalten Februartag 1994, bei 20 Grad minus, kam Orhans Familie in Skopje auf dem Flughafen an.  Zunächst kamen sie bei einem Onkel unter, „der hatte nur ein Zimmer. Und er war schon zu zehnt. Und dann kamen wir noch zu viert dazu. Wir waren 14 Leute in diesem Zimmer.“ Ein unhaltbarer Zustand.  Orhans Mutter hatte ihren Kindern eingeschärft, nur ja nicht nach Essen zu fragen. Denn die Verwandten besaßen selbst nur das Nötigste. So gingen sie hungrig ins Bett. Traurig und verzweifelt.  Die Familie fand kurz darauf  eine andere Bleibe. Konnte sie von dem Geld bezahlen, die ihr die evangelische Kirchengemeinde Osterath bis zum Jahr 2.000 jeden Monat schickte.  

 

Man muss sich das vorstellen, die Roma leben ja in Ghettos“, erzählte Orhan weiter. „In der Hauptstadt Skopje gibt‘s zwei große Ghettos. Eins in Topahana. Und eins in Shutka. Dort gibt es keine Infrastruktur,  keine Kanalisation, kein warmes Wasser. Das ist heftig. Als wir 1994 ankamen,  war es mitten im Winter und überall war Schnee und Matsch. Und die Leute hatten nicht mal Türen, sondern nur Decken, die sie davor hingen. Sie lebten in  Lehmhäusern. Und es war heftig kalt.“

 

Der ganzen Familie fiel es nicht leicht, sich zurecht zu finden. „Mein Vater hatte eine sehr schwere Zeit. Auch Depressionen. Meine Mama war so deprimiert, dass sie tagelang keine Lust hatte, überhaupt was zu tun. Die war nur am Weinen. Aber irgendwann  mussten wir  mit der Realität klar kommen.“ Orhan, dessen  Lehrer in Osterath dieses überdurchschnittlich begabte Kind  eine Klasse überspringen lassen wollten, wurde zurückgestuft, seine deutschen Zeugnisse nicht anerkannt.  Und da er als Rom sowieso nicht auf eine normale Schule gehen durfte, kam er zunächst in eine spezielle Einrichtung. Auch hier bewährte er sich, wurde auf eine andere, eine bessere Schule versetzt,  machte schließlich sein Abitur als Jahrgangsbester. Wie viel Energie ihn dies gekostet haben mag, wie viel Unterstützung er hierfür aus Osterath aber auch vonseiten seiner Familie bekam, deutet er nur an. Aber dass er der kleine Prinz zu Hause war, das verschweigt er dann doch nicht, lacht, freut sich darüber,  auch wenn er innerhalb der Roma-Gemeinschaft in Skopje nur als „Orhan, der Behinderte“ galt. Was ihn noch immer schmerzt.

 

Doch die ganze Zeit über wollte er zurück nach Deutschland. In das Land von Grillparzer, Grass und Stefan Zweig, Schriftsteller, die er  liebte. Dorthin, wo man ihn so gut aufgenommen hatte. Zurück in das Land, in dessen Sprache er sich besser ausdrücken konnte, als in seiner Muttersprache. Doch so einfach ging das nicht. Das war eine große Geschichte, bis ich einreisen durfte“, erinnert sich Orhan.  Seine Gönner mussten für ihn bürgen, Lokalpolitiker überzeugt, ein Studienplatz beschafft, ein Visum bereit gestellt werden. Es hat irgendwann dann alles geklappt. Nach sechs Jahren in Skopje durfte er im Jahr 2.000 wieder zurück nach Deutschland kommen und wurde acht weitere Jahre von der Osterather Kirchengemeinde finanziell unterstützt.

 

 „Während meines Studiums habe ich meinen Kommilitonen nicht erzählt, dass ich Rom bin. Weil ich Angst hatte, dass sie mich sofort ablehnen würden.“ Doch irgendwann musste er sein Verschweigen brechen. Als während einer Veranstaltung im großen Hörsaal der Heinrich-Heine-Universität die Rede auf Roma kam und der Dozent irgendwie nebulös von einem Volk aus Südosteuropa sprach,  das am Rande der Gesellschaft lebe und asozial sei, da drang jedes Wort „wie ein Messerstich in mein Herz. Und dann konnte ich nicht mehr. Und ich habe mich zu Wort gemeldet. Gesagt, ich kann am besten beschreiben,  wie Roma sind. Denn ich bin Rom. Ich bin Zigeuner.“ So begann Orhan und hat von seinem Volk erzählt, von der langen Tradition der Rom und deren Verfolgung überall in Europa.

 

An diesem Tag hat Orhan sich offiziell als Rom geoutet. Nach der Vorlesung kamen  Kommilitonen auf ihn zu, die gar nicht wussten, dass er Rom ist. Erstaunt erkundigten sie sich bei ihm, „wieso hast du das denn nicht erzählt? Du bist doch ein gutes Beispiel dafür, dass die Vorurteile über euch nicht stimmen.“ Dann forderten sie mich auf, ich solle doch zeigen, was ich kann. Und meinten „Orhan, du schaffst es.“

 

Seitdem steht er zu seiner Herkunft, setzt sich als Vorsitzender des nordrhein-westfälischen Landesverbandes der Roma für die Integration seiner Landsleute ein. Beobachtet mit Sorge, wie Frankreich ganze Roma-Camps durch Polizei auflösen lässt und die unbeliebten Zigeuner nach Rumänien oder Bulgarien ausweist. „Das sind doch EU-Bürger“, empört sich Orhan. „Die haben das Recht wieder zu kommen. Und das tun sie auch“, freut er sich. Ein Teil seiner Familie lebt schon seit langem in Paris, „die sind dort integriert, studieren dort. Einer meiner Cousins wird gerade vorgeschlagen für eine Juniorprofessur an einer Pariser Uni.“   Wobei, so fügt er zögernd hinzu, die Franzosen nicht wissen, dass er ein Roma ist.

 

Inzwischen hat Orhan eine gänzlich neue Haltung zu seiner Herkunft. „Wir Roma müssen aus dieser Opferrolle raus“, sagt er. Doch dazu  müssen auch Roma sich bilden dürfen, zur Schule gehen, am Alltagserwerbsleben teilnehmen. Von einigen seiner Träume, die er mir bei unserem ersten Zusammentreffen als 13jähriger anvertraute, hat er sich inzwischen verabschiedet. Damals wollte er noch Tennisspieler werden, Tänzer, irgendetwas in dieser Richtung. Doch inzwischen steht er  zu seiner Behinderung, weiß, dass dies nicht möglich sein wird.  Und erhofft sich „Respekt durch Bildung.“ Durch sein Schicksal, sein Studium, seinen beruflichen Erfolg will er beweisen, „dass wir vor Gott, vor der Schöpfung eigentlich gleichgestellt sind. Mit den gleichen Startmöglichkeiten, wenn wir auf die Welt kommen. Und dass wir nicht schon vorher gebrandmarkt sind als Rom, als Zigeuner oder als Deutscher.“

 

Orhan hat Erfolg, dank seiner Willenskraft, aber auch dank seiner Unterstützer. Aber der Erfolg hat seinen Preis. Erst im Dezember 2009, neun Jahre nach seiner Rückkehr nach Deutschland, hat er zum ersten Mal seine Eltern wieder gesehen. Die nun jedes Jahr  als Touristen für eine begrenzte Zeit nach Deutschland einreisen dürfen.  „Das kann man nicht beschreiben, was ich da empfand. Erstmal flossen die Tränen.“ Die Eltern fühlten sich allerdings unsicher in dem Land, das sie 16 Jahre zuvor mit Polizeigewalt abgeschoben hatte. Trauten sich kaum auf die Straße. „Bloß nicht“, hieß es immer, „bloß nichts machen, was den Behörden zuwider ist. Damit wir keinen Stress bekommen.“

 

Orhans Zukunft ist wieder einmal ungewiss. Sein Status als Student ermöglichte ihm den Aufenthalt in Deutschland. Doch nun benötigt er dringend ein Promotions-Stipendium um weiterhin bleiben zu dürfen. Er hat sich hierfür bei der Friedrich-Ebert-Stiftung beworben. Mit einer Abschlussnote von 1,0 in Germanistik hat er gute Chancen. Doch sollte daraus nichts werden, wird Orhan wieder einmal Deutschland verlassen müssen. „Davor“, so sagt er, „zitter und bebe ich schon jetzt“.