Tortur für die Frau, Frankfurter Rundschau 18.1.2011, Panorama-Seite

Essay zum Thema Vergewaltigung / Redaktion Katharina Sperber /Panorama-Seite

Vergewaltigte Frauen haben es schwer, wenn sie ihren Peiniger vor Gericht bringen wollen. Denn die Anwälte der Täter versuchen oft alles, um das Opfer unglaubwürdig erscheinen zu lassen. Sie stellen unverschämte Fragen, die mit der Tat gar nichts zu tun haben. Richter schreiten dagegen nur selten ein.

 

 

Viele Jahre meines Lebens habe ich mich für  unverletzlich gehalten. Habe geglaubt, mir tue schon  keiner was. Mich würde niemals ein Mann vergewaltigen. Denn ich sei, so meine Illusion, einfach nicht der Opfer-Typ: Ich trage keine hochhackigen Stöckelschuhe. Gebärde mich nie wie eine hilflose Kindfrau. Gehe im Dunkeln hörbar festen Schrittes nach Hause, in schlecht beleuchteten Straßen mitten auf dem Fahrweg. Spreche laut und deutlich. Würde mich nicht scheuen, notfalls kräftig los zu schreien. Und zuschlagen würde ich auch, wenn es denn drauf ankäme. Mithilfe meines Schlüsselbundes, den ich griffbereit des Nachts  in der Hand halte.

Nein, was sollte mir schon groß passieren!

Dieses Gefühl, einem möglichen Aggressor standhalten zu können, wurde auf einem Kongress des Bundesverbandes der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe, der im Herbst in Berlin stattfand, eindeutig widerlegt. Vergewaltigungsopfer sind nicht einem bestimmten Frauentyp zuzuordnen, sie kommen aus allen Schichten, sämtlichen Altersklassen.

Eigentlich war die  Tagung „Streitsache Sexualdelikte / Frauen in der Gerechtigkeitsfalle“ mehr als Insider-Treffen der Fachberaterinnen, als Gedankenaustausch zwischen Fachkräften aus Politik, Polizei, Justiz, Anwaltschaft, Forschung und Gleichstellungsstellen gedacht darüber, warum seit einigen Jahren immer weniger Frauen bereit sind, ihre Vergewaltiger anzuzeigen.  Warum in den 80er Jahren 20 Prozent der vor Gericht stehenden mutmaßlichen Täter verurteilt wurden, inzwischen nur noch 13 Prozent. Und das, obwohl sich die Gesetzeslage durchaus zugunsten der Opfer gewandelt hat. 1997 war unter heftigem Protest aus Bevölkerung und Politik der Paragraf 177 des Strafgesetzbuches erweitert worden und stellt seitdem nicht nur Vergewaltigung an sich, sondern auch Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe. Der Täter hat mit mindestens zwei Jahren Haft zu rechnen.

Dies alles sollte diskutiert werden. Unter Insidern. Doch dann schob sich in die Vorbereitungen  die sogenannte Kachelmann-Affäre – und plötzlich interessierten sich die Medien dafür, warum es für Vergewaltigungsopfer genügend Gründe gibt, einen Prozess gegen den Täter zu scheuen.

Ausschlaggebend hierfür, das machte der Berliner Kongress deutlich, sind vor allem die sogenannten Vergewaltigungsmythen, die in den Köpfen der Juristen bei der Behandlung eines Vergewaltigungsopfers eine entscheidende Rolle spielen. Von ihnen wird  beeinflusst,  wem Richter und Ankläger eher glauben, wen sie eher verurteilen. Dies ergaben  Forschungsergebnisse der Potsdamer Wissenschaftlerin und Psychologin Barbara Krahé. Nach Auswertung von Ermittlungsakten und Interviews mit Ermittlern zieht sie folgendes Resumé: Fälle, die dem Stereotyp einer „echten“ Vergewaltigung entsprechen, kommen eher zur Anklage, eher zur Verurteilung des Täters. Eine sogenannte „echte“ Vergewaltigung sieht demnach so aus: ein fremder Mann springt nachts im Freien aus dem Gebüsch und vergewaltigt unter Einsatz von Gewalt bei heftiger Gegenwehr seines Opfers eine ihm fremde Frau. Die geht dann sofort zur Polizei, wo Tatspuren und Verletzungen dokumentiert werden. 

Eine solche Klischeevorstellung entspricht zwar dem Vergewaltigungsmythos – nicht aber der Wirklichkeit. Nach einer Untersuchung des Bundesfamilienministeriums wird etwa siebzig Prozent der Frauen Gewalt in der eigenen Wohnung oder einer vertrauten Umgebung durch eine ihnen bekannte Person angetan. Eine Art von Vergewaltigung, die somit eher den Impuls hervorruft: Das ist doch halb so wild! Die beiden hatten doch vorher schon Sex! Eine zugegenermaßen plumpe Denkweise, doch laut Barbara Krahés Studie offenbar äußerst weit verbreitet.

Dabei ist für eine Frau, die zum Beispiel von ihrem Ex-Partner, einem Verwandten  oder ihrem Lebensgefährten vergewaltigt wird, das Geschehene  psychisch viel belastender, als wenn es der Sittenstrolch hinter dem Busch tut, behauptet jedenfalls der Kriminologe Christian Pfeiffer. Seine Forschungen ergaben, dass Frauen bei einer Vergewaltigung durch einen Fremden zwar auch massiv leiden, aber psychisch damit besser fertig werden, als wenn es der Mensch getan hat, dem sie sich anvertraut haben. Und der sie plötzlich so massiv enttäuscht. Nach einem Gewaltakt durch eine Person des Vertrauens läuft das Opfer mit Schuldgefühlen herum, fragt sich verzweifelt, was habe ich falsch gemacht, dass er so böse geworden ist. Hinzu kommt noch, dass auch im Kopf des Opfers der Vergewaltigungsmythos die nun folgenden Schritte bremst. Denn die von einer ihr vertrauten Person missbrauchte Frau weiß nicht so recht, ob sie Anzeige erstatten soll. Wird man ihr überhaupt glauben? Wird man sie nicht auslachen und sagen, Mädchen, Du kennst ihn doch, lebst schon so lange mit ihm. Da sind ihm einfach mal die Pferde durchgegangen! Daraus musst Du doch nicht gleich so ein Theater machen!

Wie gesagt, eine sich offenbar hartnäckig haltende Variante aus der Klischeeschublade des sogenannten Vergewaltigungsmythos.

Weil Frauen diese Reaktion befürchten werden Vergewaltigungen, die im häuslichen Bereich stattfinden, eher selten angezeigt. Und nicht wenige derjenigen, die dann doch einen Prozess durchgestanden haben, sagen den Fachberaterinnen anschließend, dass sie sich auf so etwas nie mehr einlassen würden. Hätten sie vorher gewusst, was da auf sie zukommt, sie hätten niemals Anzeige erstattet.

Eine Position, die auch von Hansjürgen Karge vertritt. Der ehemalige Berliner Generalstaatsanwalt sagte am 1. August 2010 in der ARD-Talkrunde bei Anne Will, er würde seiner Tochter, wenn er denn eine hätte, nach einer Vergewaltigung davon abraten, zur Polizei zu gehen. In einem späteren Interview begründete er seine Haltung mit den Worten: „Weil es eine Tortur ist.“ Er erläuterte dies damit, dass die mutmaßlichen Opfer in Vernehmungen und der Hauptverhandlung nochmal in die Mangel genommen würden. Erklärte, dass Gutachter und Gerichte sie nicht schonen könnten. Immerhin stünde für den Angeklagten zuviel auf dem Spiel. Die Sexualpraktiken des Opfers würden öffentlich breit getreten. Und allein das Gefühl, dass man ihnen nicht glaube, überfordere Kräfte und Nerven vieler Frauen. Vor allem wenn sie den absichtlich unverschämten Fragen eines Verteidigers nicht gewachsen seien, führe das nicht selten zum Freispruch der Täter. „Es ist ernüchternd, sicher“, war Karges Fazit. „Manchmal muss man sich aber auch eingestehen, dass der Staat nicht alles lösen kann.“

 

Ich kann die Haltung des ehemaligen Berliner Generalstaatsanwalts Hansjürgen Karge sehr gut nachvollziehen.  Wie oft habe ich als Journalistin  Hauptverhandlungen mit erleben müssen, die für das Opfer demütigend abliefen und sie in den Augen von Prozessbeobachtern fast als Angeklagte erscheinen ließen. Tatsächlich muss sich eine vergewaltigte Frau im Prozess gegen ihren mutmaßlichen Vergewaltiger so manches Mal Fragen gefallen lassen, die ihre Intimsphäre tief verletzen. So wie die danach, ob sie eigentlich feucht geworden sei, bei der angeblichen Vergewaltigung? Wie weit denn der Mann bei dem Gewaltakt mit seinem Penis in ihre Vagina eingedrungen sei? Und ob sie mit ihrem jetzigen Freund nach der angeblich erlittenen Vergewaltigung eigentlich wieder guten Sex habe und wenn ja, dann könne die Sache ja doch nicht so folgenschwer gewesen sein.

 

Einen der Prozesse, die ich als Journalistin beobachtet habe, hatte eine Frau angestrengt, die

von ihrem ehemaligen Freund vergewaltigt worden war. So ihre Aussage. Die Ausgangslage war außergewöhnlich gut. Denn meistens steht in einem Vergewaltigungs-Prozess Aussage gegen Aussage. Diesmal gab es eine Zeugin. Ihre Freundin war überraschend dazu bekommen. Doch dann folgte für das Opfer ein sechsjähriger justizieller Spießrutenlauf.  In erster Instanz wurde der damals noch geständige Täter zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Er legte Berufung ein. In zweiter Instanz wollte er von seinem zunächst abgelegten Geständnis nichts mehr wissen. Sein Anwalt in erster Instanz, Reinhard Birkenstock, nun als Zeuge vors Landgericht geladen, meinte lapidar, das Geständnis sei doch seinerzeit ein rein taktischer Schachzug gewesen. Birkenstock ist übrigens der gleiche Anwalt, der anfangs Jörg Kachelmann vertrat.

Die Verteidiger zogen damals alle Register, das Opfer unglaubwürdig erscheinen zu lassen. Ohne dass der Richter einschritt. Auf die Frau prasselten Fragen ein wie die: „Wann hatten sie ihren ersten Freund? Haben sie mit diesem Freund intime Beziehungen gehabt? Wie lange dauerte die Beziehung zum Vater ihrer Tochter? Warum wurden sie als Kind von der Mutter grün und blau geschlagen? Weshalb trauten sie sich nicht, ihre Mutter beim Jugendamt anzuzeigen?“ Lauter Fragen, die zur Tataufklärung überhaupt nichts beitrugen. Die allerdings das Opfer zeitweilig fast zusammenbrechen ließen. 

Sechs Jahre lang beschäftigte sich die Justiz mit diesem Fall. Sechs Jahre, in denen die Frau immer wieder stunden-, ja tagelang Rede und Antwort stehen musste. Vor der Polizei, vor Gericht, vor Gutachtern.  Zu guter Letzt hob der Bundesgerichtshof eine Verurteilung des Täters zu zwei Jahren Haft auf Bewährung wegen eines Verfahrensfehlers auf. Die vergewaltigte Frau weigerte sich, in einem erneuten Prozess das alles noch einmal über sich ergehen zu lassen. Der schon zweimal verurteilte Täter kam somit ungeschoren davon.

Wie kommt es, dass so etwas noch immer möglich ist?

Der erfahrene Bonner Strafrichter Klaus Haller gab auf dem Berliner Kongress verblüffende Antworten: So fehlt es seiner Erfahrung nach den Kollegen und Kolleginnen häufig an der nötigen Kenntnis der Strafprozessordnung. Sie können somit nicht virtuos genug auf der Klaviatur der Gesetzgebung spielen und wissen demnach oft nicht, ab wann sie einem Verteidiger das Wort verbieten und somit die Frau schützen können. Richter Haller kennt sich da aus, er bietet im Namen des nordrhein-westfälischen Justizministeriums ebensolche Fortbildungsveranstaltungen an. Der Zuspruch hält sich zu seinem Bedauern sehr in Grenzen. Auszubaden haben dies die Vergewaltigungsopfer, die oft durch rabiate Verteidiger regelrecht angegriffen und verletzt werden, ohne dass sich Richter trauen, einzugreifen.

Doch ein Gerichtssaal ist nun mal keine Therapieveranstaltung. Verteidiger dürfen nichts unversucht lassen, ihren Mandanten frei zu bekommen. Das ist, so sieht es der inzwischen durch seine schriftstellerische Arbeit bekannt gewordene Berliner Strafverteidiger Ferdinand von Schirach, nunmal Aufgabe des Verteidigers. Die definiert er so: „Als Anwalt stehe ich auf der Seite meines Mandanten. Ich vertrete seine Interessen. Ich bin nicht objektiv. Ich versuche Zweifel zu wecken. Ich hinterfrage die Beweise der Staatsanwaltschaft. Ich versuche Lücken in den Gutachten zu finden. Ich versuche Zeugen der Lüge zu überführen.“

Da muss gehobelt werden, scheinen viele Verteidiger zu denken, und wo gehobelt wird, fallen Späne. In diesem Fall auf die Seele der als Nebenklägerin und Zeugin vor Gericht auftretenden Opfer. Eine Spezialität vieler Verteidiger in Vergewaltigungsverfahren ist es, den Opfern zu unterstellen, sie hätten ihre Anzeige lediglich aus Rache erstattet. Was laut einer Studie der „European Commission“  unter Federführung von Wissenschaftlerinnen  der London Metropolitan University in Wirklichkeit nur ganz selten der Fall ist. In Deutschland liegt der Anteil falscher Beschuldigungen bei nur drei Prozent der angezeigten Vergewaltigungsfälle, in anderen europäischen Ländern variiert er zwischen einem  und neun Prozent.  

Doch Frauen in Hauptverhandlungen werden immer noch mit diesem Vorurteil konfrontiert. Und müssen erleben, dass das enge Korsett eines Strafprozesses und eine schwer traumatisierte vergewaltigte Frau einfach nicht zusammen passen. Entsprechend ernüchternd ist auch die Verurteilungsquote: Auf 8000 in Deutschland jährlich angezeigten Vergewaltigungen folgen nur 1300 Anklagen, nur 1000 Verurteilungen.  

Die teils schon seit 30 Jahren arbeitenden  Frauennotrufe und Frauenberatungsstellen müssen deshalb abwägen. Nicht jede Frau, die nach einer Vergewaltigung in ihre Sprechstunden kommt, könnte die Herausforderung eines Strafprozesses meistern. Das wissen sie aus Erfahrung. Deshalb gucken sie genau hin, versuchen heraus zu spüren, ob das Opfer einen Prozess durchstehen könnte oder nicht. Und danach erst raten sie von einer Anzeige ab oder ermutigen, zur Polizei zu gehen. Hinzu kommt noch, dass ihrer Erfahrung nach, trotz Sonderdezernaten bei den Staatsanwaltschaften, spezieller Fachkommisssariate bei der Polizei vergewaltigten Frauen vielerorts wieder verstärkt mit Vorbehalten begegnet wird und sie das Gefühl bekommen, ihnen werde doch sowieso nicht geglaubt. Dies jedenfalls wird den Beraterinnen in letzter Zeit immer häufiger von Vergewaltigungsopfern berichtet.

Dabei erlebt jede fünfte bis siebte Frau in Deutschland, so das Bundesfamilienministerium,  irgendwann in ihrem Leben einen schweren sexuellen Übergriff.  Die Ende 2008 veröffentlichte Studie über „Gewalt gegen Frauen in Paarbeziehungen“ belegt außerdem, dass Frauen aus allen sozialen Schichten und Altersgruppen von sämtlichen Formen der sexuellen Gewalt betroffen sind. Die meisten schweigen hierüber, die wenigsten gehen zur Polizei.

Die Kongressteilnehmerinnen in Berlin forderten deshalb, jedem Vergewaltigungsopfer vor Gericht eine psychosoziale Prozessbegleiterin zur Seite zu stellen. Im Gerichtssaal eine für die Zeugin wertschätzende Atmosphäre zu schaffen, in der sie nicht nur als Beweismittel sondern als ein durch die Situation belasteter Mensch behandelt wird. „Wir wollen“, so eine der Veranstalterinnen, „dass der Verlauf eines Vergewaltigungsverfahrens keine Glücksache mehr ist, sondern für die Opfer eine kalkulierbare Erfahrung von Gerechtigkeit und öffentlicher Anerkennung ihres Leidens.“