NS-Verbrechen vor Gericht / Eine Prozessbeobachterin blickt zurück, SWR2, Tandem, 3.3.2014

NS-Verbrechen vor Gericht   / Eine Prozessbeobachterin blickt zurück

Von Ingrid Müller-Münch

Redaktion Nadja Odeh

SWR2 Tandem, Sendetermin 3.3.2014

 

 

 

Dezente Musikklänge unterlegt

O-Ton Jadwiga Wegrzecka: (poln. Akzent): Um darüber möglichst genau zu sprechen,   weil das wird von dem Zeugen verlangt, muss man dann sehr konzentriert sein. Ich hatte manchmal Momente, dass ich das Gefühl hatte, dass ich wieder im Lager bin, nicht wahr. Und dass ich wieder das alles verlebe. Weil ich musste mir das alles möglichst genau erinnern. Deswegen ist das ein schweres Erlebnis für uns.

Dezente Musikklänge hochziehen und beenden

 

Autorin: Jadwiga Wegrzecka, eine KZ-Überlebende als Zeugin vor Gericht. Irgendwann in den 1970er, 1980er Jahren. Ganz genau bekomme ich sie nicht mehr zugeordnet, da helfen mir auch meine Notizen nicht weiter. Nur ihren Namen weiß ich noch, hatte ihn mir aufgeschrieben. Zu viele ähnlich lautende Aussagen habe ich gehört. In Prozessen wie dem gegen den KZ-Aufseher Gottfried Weise, der wegen seiner tödlichen Spiele „Wilhelm Tell von Auschwitz“ genannt wurde. Oder gegen den Buchenwald-Wachmann Wolfgang Otto, der an der Ermordung des Kommunisten-Führers Ernst Thälmann beteiligt gewesen war. Gegen die Verantwortlichen für die Deportation der Juden aus Frankreich, darunter Kurt Lischka, Klaus Barbie, Maurice Papon. Oder gegen Männer und Frauen aus dem Kommandanturstab des KZ- und Vernichtungslagers Majdanek. 

 

Dezente Musikklänge unterlegt

O-Ton Zeugin  Jakubovic: Sag ich: Ja. Das ist er jetzt. Er hat mir meine Mutter weggenommen. Ich hab angefangen, schrecklich zu schreien. Er hat meine Mutter werggenommen. Das ist er. Der Dolmetscher sagt, Frau Jakubovic, sie müssen sich mehr beherrschen. Sie sind zu viel aufgeregt. Sag ich, ich kann nicht. Jetzt seh ich das ganze Bild. Er hat meine Mutter weggebracht. Ich bin nicht jetzt im Gerichtssaal. Ich bin jetzt Majdanek.

Dezente Musikklänge hochziehen und beenden

 

Autorin: Am 26. November 1975 habe ich zum ersten Mal ein Gerichtsgebäude betreten. Wenige Wochen zuvor erst war mein Volontariat bei den „Düsseldorfer Nachrichten“ zu Ende gegangen. Nun war ich Landeskorrespondentin der „Nachrichtenagentur Reuters“. Das bedeutete, dass ich an manchen Tagen drei, vier Termine wahrnehmen musste. Dieser hier war Pflicht, hörte sich nach Routine an. Alt-Nazis vor Gericht!  Interessierte das noch? War dazu nicht längst alles gesagt?

Erst vier Jahre später sollte sich das ändern. Hollywood sei Dank. Mit der Ausstrahlung der vierteiligen Fernsehserie „Holocaust“ im Januar 1979 drängte sich die Erinnerung an die millionenfach ermordeten Juden plötzlich zwischen Salzstangen und Feierabendbier mitten in die deutschen Wohnzimmer.

An diesem November-Mittwoch  des Jahres 1975 stand ich – schlecht vorbereitet auf das, was da auf mich zukommen würde – unschlüssig auf dem Flur vor Saal 111 des wilhelminisch-einschüchternden Düsseldorfer Landgerichts. Jung war ich, Mitte 20, unerfahren, nervös. Ich ahnte nicht, dass in wenigen Minuten eines der aufwendigsten Verfahren in der Geschichte der Bundesrepublik beginnen würde. Soviel nur wusste ich: hier ging es um 6 Frauen und 9 Männer, allesamt ehemalige Aufseher und Aufseherinnen des Konzentrationslagers Majdanek.

Noch waren die Saaltüren verschlossen. Neben mir bildeten sich Grüppchen, Kollegen begrüßten sich, man kam ins Gespräch. Als Neuling war ich noch nicht drin in diesem Zirkel. Deshalb schlenderte ich alleine den langgestreckten Flur entlang. Plötzlich kam eine Frau auf mich zu. Korpulent, die Haare zu einem altmodischen Dutt im Nacken zusammengesteckt, eher nachlässig in ein schlecht sitzendes Kostüm gekleidet. Ihr Lächeln, mit dem sie mich begrüßte, wirkte angespannt, unsicher, beinahe devot. Noch bevor ich mich erkundigen konnte, wer sie denn sei, platzte es regelrecht aus ihr heraus: Das, was hier vonseiten der deutschen Justiz gespielt werde, sei zutiefst ungerecht. Die Polen hätten sie doch schon verurteilt und inhaftiert. Jetzt müsse doch auch mal gut sein, wo sie doch immer nur das Beste gewollt hätte. Bei diesen Worten schniefte sie in ein Taschentuch.

Erschrocken hörte ich ihr zu. Noch bevor ich mich erkundigen konnte, wer sie denn sei, öffneten sich die Saaltüren, auf die nun alle zustrebten. Ich schloss mich an und ergatterte einen der vorderen Plätze auf der Pressebank. Von dort aus sah ich sie wieder, diese Frau, deren Namen ich noch immer nicht wusste. Sie hatte in der zweiten Reihe Platz genommen. Kurz darauf betrat die Schwurgerichtskammer zum ersten Mal Saal 111.

Gleich zu Prozessbeginn wurde klar: Routine würde dies nicht sein, was mich hier erwartete. Am fünften Verhandlungstag erst konnte nach endlosem Hin und Her zwischen Verteidigern und Gericht die Anklageschrift verlesen werden. Auf meinem Stenogramm vom 5. Dezember 1975 erinnerten mich die verwischten undeutlichen Schriftzeichen an meine Tränen und meine Wut, die ich an diesem Wintervormittag nicht zurückhalten konnte. Wut über jene Frau, die sich so dreist auf dem Gerichtsflur bei mir angebiedert hatte. Sie saß zwei Reihen vom Richterpult entfernt und verbarg unter der Bank gerne ihr Strickzeug. An jenem Tag verwandelte sie sich in meinen Augen zurück in die Blutige Brygida der Jahre 1942/43. In die Aufseherin des Lubliner Lagers, die – laut Anklageschrift – Häftlinge getreten und zu Tode gepeitscht, Frauen und Kinder zum Tod in die Gaskammer ausgewählt, ihren Schäferhund auf eine schwangere Jüdin gehetzt und Frauen in Latrinen gestoßen und ertränkt haben sollte.

474 Tage lang, im Verlauf von fünfeinhalb Jahren, versuchte das Düsseldorfer Schwurgericht die Vorwürfe gegen sie und die mit ihr angeklagten zu erhärten. Mithilfe von insgesamt 340 in- und ausländischen Zeugen. Staatsanwalt Dieter Ambach, Ankläger der SS-Frauen, bedauerte sehr, wie engmaschig dabei seine Möglichkeiten waren.

 

O.Ton Dieter Ambach:  Wir mussten ihnen ja, das war die Schwierigkeit des Verfahrens, jeweils einzelne Taten nachweisen. Man musste ihnen zum Beispiel nachweisen, dass sie mit Freude und aktiv an Selektionen teilgenommen hatten.

 

Autorin:  Genau das war die Crux dieses Prozesses. All die Jahre danach hat mich die Frage nie losgelassen, wieso das eigentlich so sein musste. Wieso hätte man die SS-Leute, die in Majdanek dafür sorgten, dass der Krematoriums-Ofen rauchte, nicht allesamt allein für ihre Tätigkeit, ihre Mithilfe am Massenmord verurteilen können? 1991, zum zehnten Jahrestag der Urteilsverkündung, sprach ich mit dem damaligen Strafkammervorsitzenden Günter Bogen. Er war inzwischen Pensionär und konnte sich öffentlich äußern.

Der Mann, der mir die Eingangstür seines Hauses in einem Düsseldorfer Vorort öffnete, war sichtlich gealtert. Das jahrelange Verfahren hatte unübersehbare Spuren hinterlassen. Vor allem die Aussagen der KZ-Überlebenden im Zeugenstand, so gestand er mir, hätten ihn bis weit in sein Privatleben hinein beschäftigt. Die Art, wie er sie befragen musste, die prozessuale Aufgabe, die eigentlich nicht zu bewältigen war.   

 

O-Ton Bogen:  Eines der größten Probleme war das der Identifizierung. Das Wiederkennen der Angeklagten durch ehemalige Häftlinge als Täter der einen oder anderen konkreten Exzess-Tat.

 

Musik

O-Ton  Zeuge: Ich kann keine Name nicht. Ich weiß nur eine Sache: War er in Majdanek, hat er gemordet. Aus!

Musik

 

Autorin: Wenn das so einfach gewesen wäre! So ginge das nicht, erklärten mir die Juristen. Der Bundesgerichtshof bestehe auf dem minutiösen Nachweis jedes einzelnen Verbrechens und daran sei man gebunden. Deshalb wurden, ebenso wie im Majdanek-Prozess, in allen NS-Verfahren, die ich ab 1975 beobachtete, das Morden in den Vernichtungslagern in Einzeltaten zerlegt. Eine KZ-Überlebende beschreibt diese juristische Prozedur folgendermaßen:

 

Schauspielerin: Man verlangt von uns, dass wir, wenn wir dabei gewesen sein wollen, alles gesehen und gehört haben müssen. Dabei waren wir vor Angst und Schrecken geradezu gelähmt, und unsere Sinne nahmen kaum etwas wahr. Man fordert von uns, die Stunde, den Tag zu nennen, aber wir besaßen im Lager keine Uhr, keinen Kalender. Wir wussten oft nicht einmal, ob es ein Sonn- oder Feiertag war. Wir sollen das Aussehen unserer Henker beschreiben. In ihren Uniformen sahen sie aber für uns alle gleich aus. Wenn wir uns dann in einem Punkt irren, werden unsere Aussagen in Bausch und Bogen abgetan.

 

Autorin: Meine Zweifel an dieser justiziellen Aufarbeitung blieben all die Jahre bestehen. Häufig habe ich sie in meinen Prozessberichten formuliert. Mal für die Nachrichtenagentur Reuters, den Stern, später für die Frankfurter Rundschau, den WDR. Denn die Konsequenz aus dem starren Festhalten am Nachweis jeder einzelnen Tat war: Kaum ein KZ-Aufseher stand jemals vor Gericht. 6.500 Verfahren gegen mutmaßliche NS-Verbrechen fanden überhaupt nur statt. Die meisten endeten wegen des verlangten Nachweises jeder einzelnen Tat mit beschämend geringen Strafen. Demgegenüber standen 84.000 Einstellungsbeschlüsse, manch einer bezeichnet sie –  nicht von ungefähr – als 84.000 heimliche Begnadigungen.

Angeklagt waren nur die Wenigen, die sich durch besondere Grausamkeiten hervorgetan hatten. Exzess-Taten, wie es hieß. Das normale Grauen des Lageralltags noch übertreffende Bestialitäten, die KZ-Überlebenden im Gedächtnis geblieben waren und die sie einem bestimmten SS-Mann, einer SS-Aufseherin zuordnen konnten.

So wie 1987 dem Auschwitz-Aufseher Gottfried Weise, der durch sein Verhalten dafür gesorgt hatte, dass sich einige seiner früheren Opfer sehr genau an ihn erinnerten. Auch ich werde diesen kleinen, unscheinbaren, so korrekt und anständig wirkenden Mann nicht vergessen, der ohne jemals eine Miene zu verziehen den Beschuldigungen lauschte. So der vom 25. Mai 1987, als die aus Budapest angereiste damals 66jährige Auschwitz-Überlebende Ilona Lazar der Wuppertaler Strafkammer im erstinstanzlichen Verfahren gegen Weise folgende Begebenheit schilderte:  

 

Schaupielerin: Weise hatte Spottnamen Slepy. Was er gemacht hat, das bleibt in meiner Erinnerung für immer. Was mir sehr am Herzen lag, das war das Kind. Kind ging zu Slepy. Entweder hatte er etwas zu essen oder zu trinken verlangt. Das Kind hat sehr gebettelt und geweint. Und er hat gesagt, stell dich etwas zurück. Und dann hat er dem Kind drei Konservendosen auf jede Schulter eine und auf den Kopf gestellt. Hat seine Pistole genommen und hat angefangen zu schießen. Es sah so aus, als wär das sein Hobby gewesen. Dann hat er von der einen Schulter die Dose abgeschossen, die andere Seite hat er auch getroffen und dann auf den Kopf. Das Kind jammerte und schrie. Es war nicht zu ertragen, es war sehr grausam. Nachher hat er dem Kind noch gesagt, es soll die Hände falten, es solle applaudieren, es solle tanzen. Das Kind hat alles getan, was er gesagt hat, weil es gedacht hat, er würde nicht weiter schießen. In welcher Sprache das gesagt hat, weiß ich nicht. Kann mich nicht erinnern, ich hatte so Angst. Das Kind wollte zu ihm kommen und dachte, es kriegt jetzt das Wasser oder das Brot oder irgendetwas. Er sagte aber, geh wieder zurück. Und dann ist das Kind wieder zurückgegangen. Und dann hat er seinen Revolver genommen und hat das Kind erschossen. Das Kind ist umgefallen. Das Kind hatte die Hand da so liegen und er hat da draufgetreten und lächelte.

 

 Musiklänge

 

O-Ton Zeugin:  (Akzent) Es ist sehr schwer, nach so viel Jahren, die alle Mörder anzuschauen und auch solche Fragen zu beantworten: Ob ich bin zur Arbeit rechts oder links rausgegangen oder hier so gestanden oder was ist so gestanden.  

Musik

Zeuge: Zum Beispiel solche Fragen, ob an die Galgen war  eine Haken oder eine Ring?

Musikklänge

 

Autorin:  Und dann lese ich am 6. April vergangenen Jahres auf der Titelseite der im Ruhrgebiet erscheinenden WAZ:  „Fahnder sind 50 KZ-Wärtern aus Auschwitz auf der Spur“. Ich las diesen Satz mehrmals, bevor ich begriff, dass nunmehr – 68 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges – endlich die Strafverfolgung von KZ-Aufsehern  in Gang gekommen war.

Warum jetzt? Warum erst jetzt? Ich kontaktierte den Mann, von dem ich mir Aufklärung über den so überraschenden Eifer seiner Behörde erhoffte: Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm, Leiter der Ludwigsburger Zentralstelle für die Verfolgung von NS-Verbrechen.

 

O-Ton Schrimm: Man hätte dies auch vorher tun können. Aber in den Köpfen, einschließlich meinem Kopf, der deutschen Staatsanwälte, war das Thema Ausschwitz erledigt. Wir sagen heute, es war falsch, die nicht zu verurteilen. Es war falsch. Und nur weil damals Fehler gemacht wurden, diesen Fehler jetzt fortzusetzen, würde ich wiederum auch für falsch halten. Gleichheit im Unrecht gibt’s nicht.

 

Autorin: Klammheimlich, so kann man wohl sagen, hatte ein Umdenken stattgefunden. Ohne dass irgendein Gesetz geändert worden war. Vielleicht war ja jetzt, wo die mutmaßlichen Täter allesamt Greise, an die 90 Jahre alt sind, die Zeit reif, sie vor Gericht zu stellen? Oder lag es einfach daran, dass eine neue Generation sich daran machte, die juristischen Hürden bei der Verfolgung von KZ-Aufsehern einzureißen? Und nicht länger so dachten, wie dies laut Strafrechtler Cornelius Nestler bislang der Fall gewesen war:

 

O-Ton-Nestler: Es gab eine lange Tradition oder Gewohnheit insbesondere auch in der Zentralstelle für die Verfolgung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg, Wachleute oder Wachmänner gewissermaßen gar nicht in den Blick zu bekommen.

 

Autorin: Natürlich hatte ich mitbekommen, dass in München der Prozess gegen den Aufseher des Vernichtungslagers Sobibor, John Demjanjuk, an dem Cornelius Nestler als Nebenklagevertreter teilnahm, ganz anders abgelaufen war, als all die Verfahren, die ich beobachtet hatte.  

 

O-Ton-Nestler: Das Besondere war, dass nach so langer Zeit, jemand angeklagt wurde, dem nicht eine spezifische Einzeltat, also ein spezifisches Tötungsdelikt vorgeworfen wurde, sondern dem vorgeworfen wurde, dass er in seiner Funktion, also als Wachmann in dem Vernichtungslager Sobibor, Beihilfe zu dem Mord an den Menschen begangen hatte, die in dem Vernichtungslager, in dem Zeitraum, in dem er dort tätig war, ermordet wurden.

 

Autorin:  Schon in den 60er Jahren hatte der Frankfurter Oberstaatsanwalt Fritz Bauer diese Sichtweise vor Gericht durchsetzen wollen. Ist damit aber am Bundesgerichtshof gescheitert. War die Zeit damals noch nicht reif? Waren damals noch zu viele Altnazis in wichtigen Schlüsselpositionen, von denen aus sie derartige Veränderungen boykottieren konnten?

1987 verurteilte ein Krefelder Schwurgericht einen KZ-Aufseher aus Buchenwald allein deshalb wegen Beihilfe zum Mord an dem Kommunistenführer Ernst Thälmann, weil der SS-Mann am Tatort dabei gewesen war. Das Gericht hatte zwar nicht klären können, welche Rolle der Angeklagte KZ-Aufseher bei der Erschießung Thälmanns gespielt hatte, aber ihm reichte dessen bloße Anwesenheit durch die er „die übrigen Teilnehmere mindestens psychisch unterstützt hat“. Der Bundesgerichtshof hob das Urteil auf. Hielt an der umstrittenen Rechtsprechung fest, wonach ein konkreter Tatnachweis erbracht werden musste. Und auch heute noch ist unklar, wie die Karlsruher Richter letztendlich entscheiden würden. Denn bevor sie über das Demjanjuk-Urteil befinden konnten, verstarb der KZ-Aufseher aus Sobibor. Sein Urteil wurde somit nie rechtskräftig.

Wie dem auch sei: Zumindest bei der Strafverfolgung setzt sich eine neue Sichtweise durch. Und auch das Münchner Gericht, das den Sobibor-Aufseher Demjanjuk verurteilte, ohne dass ein Überlebender ihn noch identifizieren konnte, schloss sich dem an. Die treibende Kraft hinter dieser neuen Herangehensweise war Thomas Walther, ein unbedeutender bayerischer Amtsrichter, der sich auf eigenen Wunsch kurz vor seiner Pensionierung in die Ludwigsburger Zentralstelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen hatte versetzen lassen.  

 

O-Ton Walther:  Das haben wir schon immer so gemacht, Herr Walther. Das, was mir gesagt worden ist, am Anfang meiner Tätigkeit in Ludwigsburg, war eigentlich nichts anderes als das. Ich hab im Zusammenhang mit Sobibor und mit Demjanjuk sehr früh mir gesagt, irgendwie kann das ja wohl alles gar nicht sein. Nach allgemeinen Beihilferegeln bei einem Banküberfall oder bei ‚ner Mordaktion ist doch derjenige, der Schmiere steht, der fördert die Haupttat. Und derjenige, der aufpasst, dass niemand wegrennt, bevor ihn sein Schicksal ereilt, ist dann auch, nach meinem Verständnis, in der Nähe einer  Beihilfe. Das waren Gedanken, die dem was üblich war, wir haben das schon immer so gemacht, widersprochen haben. Also diese Kraft des Faktischen ist schon ein ganz erheblicher Hemmschuh für eigenes Denken.

 

Autorin: Lautet so die Erklärung dafür, dass Tausende und Abertausende von  Handlangern ungeschoren davon gekommen sind? An einem Beispiel erläuterte mir Strafrechtler Cornelius Nestler, wie verbohrt und verblendet die Ermittler in all den Jahrzehnten waren.

 

O-Ton Nestler: Es hat eine Person gegeben, Samuel Kunz, der wurde in den 60-iger Jahren mehrfach als Zeuge vernommen. Und wie das üblich ist bei Zeugenvernehmungen wird erst mal ganz grob gefragt, wo haben sie sich wann befunden? Und Samuel Kunz hat dann immer geschildert,  ja ich bin im Sommer 1942 nach Belzec gekommen. Und dann war die Frage, des vernehmenden Beamten: ja und was haben sie da gemacht? Da war ich Wachmann. Und dann war die Anschlussfrage: Wann haben sie gemerkt, was in Belzec passiert ist? Und dann hat der gesagt: nach 2 / 3 Wochen war mir auch klar, was in Belzec passiert ist, die fabrikmäßige Vernichtung von ungefähr 500.000 jüdischen Menschen. Nächste Frage des Vernehmenden: Wie lange waren sie da? Bis das Lager geschlossen wurde. Also Sommer 43. Es gibt drei Vernehmungsprotokolle, die nach diesem Schema ablaufen. Auf die Idee, dass jemand, der über ein Jahr als Wachmann in einem Vernichtungslager dafür gesorgt hat, dass die Menschen, die dort hinkamen, vernichtet werden konnten, dass der sich wegen Beihilfe zum Mord strafbar gemacht haben könnte, dass man deswegen weiter ermitteln muss, dass man deswegen anklagen muss, sind die Vernehmungsbeamten der Staatsanwaltschaften in den 60-iger Jahren nicht gekommen. Und erst im Kontext des Demjanjuk-Verfahrens ist es dann zum Ermittlungsverfahren und zur Anklage gegen Samuel Kunz gekommen, der dann 2010 verstorben ist.

 

Atmo unterlegt wie Richter Bogen die Strafen verliest

O-Ton Tagesschau   Im Düsseldorfer Prozess um die Ermordung von mindestens 250.000 Häftlingen in Majdanek wurden heute die Urteile gesprochen. Die Urteile lagen deutlich unter den Anträgen der Staatsanwaltschaft. Deshalb gab es  lautstarke Proteste

 

Atmo Sprecherchöre „Nazimörder hinter Gittern

Autorin: Das Ergebnis, verkündet am 30. Juni 1981: Einmal lebenslänglich und sieben zeitlich begrenzte Freiheitsstrafen, darunter lediglich 12 Jahre Haft für Hildegard Lächert. Und das angesichts der Ermordung von über einer viertel Million Menschen in Majdanek. Als ich 1991 den ehemaligen Schwurgerichtsvorsitzenden Günter Bogen danach fragte, wie er sein damaliges Urteil im Rückblick empfinde, sagte er:

 

O-Ton-Bogen: Traurig, traurig. Schlicht traurig. Und das ist eigentlich son Punkt, mit dem ich wahrscheinlich für den Rest meines Lebens nicht fertig werden werde. Im Nachhinein so das Gefühl zu haben, als Richter ein verkehrtes Urteil gesprochen zu haben, das belastet schon erheblich.  Wir haben damals alle Mühe daran gesetzt, das mit Sicherheit nach unserer Überzeugung vorhandene weitere Beweismaterial ausfindig zu machen. Das lag in irgendwelchen polnischen Archiven. Wir haben einen historischen zeitgeschichtlichen Sachverständigen in den Archiven wochenlang herumstöbern lassen. Er ist nicht fündig geworden.

 

Autorin:  Eberhard Fechner, ein inzwischen verstorbener renommierter Dokumentarfilmer, dagegen schon. Er hatte die Erlaubnis der Verteidiger und der nordrhein-westfälischen Landesregierung, Prozessbeteiligte zu interviewen. Fechner musste allerdings zusagen, seinen Film erst nach dem rechtskräftigen Urteil  auszustrahlen. Als Richter Bogen sich am Abend des 21. Novembers 1984 – also drei Jahre nach der Urteilsverkündung – die Dokumentation  „Der Prozess“ im Fernsehen ansah, wurde ihm klar, welch verhängnisvollen Fehler seine Kammer begangen hatte.

 

O-Ton Bogen:  Es spielte also eine ganz erhebliche Rolle die Frage, ob diejenige, die nun bei uns als Lächert angeklagt war, mit einem Pferd durch das Lager geritten sei. Wir hatten zig-Zeugenaussagen, die das bekundet haben. Wir hatten aber nichts darüber, dass es tatsächlich so war. Wir hatten Fotos, alle möglichen Fotos von den weiblichen Angehörigen des Aufsichtspersonals. Aber keines von der Lächert auf ‚nem Pferd. Und wir konnten uns das damals auch nicht vorstellen, dass eine ganz ordinäre, schlichte SS-.Aufseherin ein Reitpferd zur Verfügung hat. Und das ergab sich aus den Fotos, die der Fechner ausfindig gemacht hat, dass sie tatsächlich eins hatte.  

 

 

Autorin: Dokumentarfilmer Eberhard  hatte nicht nur ein Foto mit der reitenden Hildegard Lächert ausfindig gemacht. Ihm gegenüber hatte die Blutige Brygida sich auch noch mit ihren Ausritten gebrüstet. Ebenso wie Richter Bogen hatte auch ich  damals im Film die Stimme der Lächert gehört:

 

O-Ton Hildegard Lächert:  Wenn wir dann nach Hause gingen, also  in unsere  Baracken, hat jeder ein einzelnes Zimmer gehabt, dann war man müd, dann mussten sie Wäsche waschen. Nun ja, dann hat man ja wirklich genug. Und dann sind wir ausgeritten dort. Sind wir jeden Tag durch die Wälder geritten. Die haben diese arabischen Vollblüter gehabt, und die mussten ja jeden Tag ausgeritten werden. Und da waren sie mir sehr dankbar, dass ich mir auch eins genommen habe und damit reiten durfte.

 

O.Ton Bogen: Und bei ganz bestimmten Scheußlichkeiten spielte die Frage eine ganz entscheidende Rolle, sind sie von einer Aufseherin, die auf einem Pferd saß, begangen worden oder nicht. Das war der Punkt.  

 

Autorin: Da dieses Detail nicht geklärt werden konnte, kam eine der brutalsten KZ-Aufseherinnen mit gerade mal 12 Jahren Haft davon. Im Jahr davor hatte in Köln der Prozess gegen Kurt Lischka und andere stattgefunden. Zwischendurch immer wieder kleinere Verfahren gegen Handlanger von Deportationen, Verantwortlichen der sogenannten „Endlösung der Judenfrage“. Ich hatte genug. Konnte mir einfach nicht länger die Grauen anhören, aus dem Mund von Menschen geschildert, die sie selbst erlebt hatten. Albträume unterbrachen damals meinen Schlaf. Ich brauchte Abstand. Doch dann, eines Tages, klingelte mein Telefon. Am Apparat war Susanne v. Paczensky, die damals einzige Frau, die über die Nürnberger Prozesse für ein deutsches Medium berichtet hatte. Inzwischen war sie Lektorin bei Rowohlt. Nein, nein, das mache ich nicht, entgegnete ich auf ihre Bitte, ich solle doch über die fünfeinhalb Jahre Majdanek-Prozess unbedingt ein Buch schreiben. Nein, nein. Und dann saß ich doch da, ließ alles noch einmal Revue passieren. Die vielen Zeugen und Zeuginnen, die sich mit ihren Erinnerungen gequält hatten. Heute weiß ich, dass dies zu einer anderen Zeit, Jahrzehnte später, womöglich gar nicht notwendig gewesen wäre. Dass es auch anders hätte gehen können. Wenn es damals schon einen Thomas Walther gegeben hätte, einen Cornelius Nestler und andere aufgeschlossenere und weniger in vorgegebenen Denkstrukturen verhaftete Juristen.

 

Musikklänge

Schauspielerin: „Wir registrierten keine Angaben. Wir hatten keine Hoffnung, dass es uns gelingt, sie aus dem Lager hinauszutragen, sie einmal in Rechnung stellen zu können. Wir dachten damals nicht in Kategorien der Prozesse und Gerichte. Wir versuchten bloß zu überleben.“

Musikklänge

 

E N D E