Todestag von Georges Simenon / Feature auf WDR 5, Neugier genügt, 4.9.2019
https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr5/wdr5-neugier-genuegt-das-feature/audio-georges-simenon—handwerker-des-wortes-100.html
„Ein ruheloser Autor, ein behäbiger Kommissar“
Hommage an George Simenon zu seinem 30. Todestag
Am heutigen 4. September jährt sich zum 30.mal der Todestag des wohl erfolgreichsten und weltweit bekanntesten Schriftstellers des 20. Jahrhunderts: Georges Simenon. Im Gespräch mit seinem Sohn John, durch Zitate von Kommissar Maigret, seines wohl berühmtesten Protagonisten, und mithilfe von Aussagen des erfolgreichen Vielschreibers erweckt Ingrid Müller-Münch diesen unruhigen Geist zum Leben. Und beschreibt, wie Simenon als knapp 30-jähriger auf seinen plötzlichen Ruhm reagierte, welche Leidenschaften sein Leben prägten, und wie sein Verhältnis zu seinen Kindern war.
Musik Brel Infiniment Akkordeon
O-Ton Filmszene mit Musik.: Madame Barnard, Kriminalpolizei, Kommissar Maigret. 5:21 anschwellende Musik. Bernard?? Das ist Kommissar Maigret. Sehr erfreut. Essen sie ruhig weiter. Sie trinken doch ein Glas Wein, Herr Kommissar? Danke. Musik schwellt an. …
Musik Brel Infiniment Musik Schleife
Autorin: Wer war dieser Maigret, der zur meistgelesenen, meistverfilmten, am häufigsten übersetzten literarischen Figur des vergangenen Jahrhunderts wurde? Und der zurzeit auf dem englischen Markt in neuer Übersetzung erscheint, in Deutschland durch einen Verlagswechsel und die Neuauflage all seiner Werke eine Wiedergeburt erlebt?
Und wer – die Frage interessiert hier vor allem – war sein Schöpfer?
Maigret war behäbig, verbeamtet, solide verheiratet, seiner Gattin treu, auch wenn er ihr gegenüber stets etwas gleichgültig wirkte. Zu seinen Insignien gehörten seine Pfeife, der bullernde Ofen in seinem Büro am Quai dès Orfèvres, die Sandwiches und das eisgekühlte Bier aus der Brasserie Dauphine.
Ganz anders der Erfinder dieses Kommissars. Georges Simenon war ein unruhiger Geist, wechselte über 30 mal im Verlauf seines Lebens den Wohnort, reiste quer durch die Welt, schipperte auf Flüssen und Kanälen, liebte die Frauen über alles, war ein Weltbürger par excellence und hatte sich vom Lokalreporter bei der „Gazette de Liège“ zum erfolgreichsten Autor des 20. Jahrhundert emporgeschrieben. Vor allem durch seine 75 Krimis um Kommissar Maigret wurde er weltberühmt.
O-Ton Telefon: „Hallo, Ja, hier ist Maigret.“
unterlegt mit Filmmusik, die mit dem Text endet
Sprecher Erzähler: Maigret und der Polizist Lecoeur saßen um halb zwei Uhr morgens allein im Polizeirevier Saint-Georges in der stillen Rue La-Rochefoucauld. Beide hoben den Kopf, als sie von der Straße her eilige Schritte vernahmen. (Atmo eilige Schritte, eine Türe wird geöffnet) Die Tür flog auf, und ein atemloser junger Mann blinzelte geblendet ins Gaslicht. „Wo ist der Kommissar?“ fragte er keuchend. „Ich bin sein Sekretär“, sagte Maigret, ohne sich vom Stuhl zu erheben.
Er wusste nicht, dass in dieser Sekunde seine erste Untersuchung begann.
Musik unterlegt
Sprecher George Simenon: Ich entspannte mich, indem ich einen Maigret schrieb, wie jedesmal, wenn ich mich aus dem einen oder anderen Grund nicht dazu aufgelegt fühlte, einen schwierigen Roman in Angriff zu nehmen. So war es mit allen Maigrets, abgesehen von den ersten achtzehn, von denen ich jeden Monat einen geschrieben hatte. Es stimmt, dass ich zwei Kapitel am Tag schrieb, eines am Morgen und das andere am Nachmittag, so dass manche meiner Romane in drei Tagen fertig waren. Das war für mich eine Erholung, mich an meine Schreibmaschine zu setzen und meinen wackeren Kommissar wiederzutreffen, ohne über den Ausgang seiner Ermittlungen bis zum letzten Kapitel mehr zu wissen als er.
Musik hochziehen und aus
O-Ton John Simenon: Je m’appelle John Simenon…Sprecher: Ich heiße John Simenon und bin einer der Söhne von Georges Simenon. Ich bin der Geschäftsführer des Unternehmens, das sein Erbe verwaltet. Mon père écrivait toujours….Sprecher: Mein Vater hat immer und überall geschrieben. Er war in der Lage, selbst nach nur wenigen Stunden Schlaf morgens um vier Uhr aufzustehen.
Sprecher Georges Simenon: Denn ich schrieb immer, in Panama, auf Tahiti oder in Australien…Ich schrieb. Nicht über das, was ich sah. Meinen Romanfiguren war ich während meiner Kindheit in Lüttich begegnet, danach in Paris und in der französischen Provinz, wo ich mich, bald in einem Schloss, bald auf einem Bauernhof, wie für ein ganzes Leben niederließ.
Musik
Autorin: Zu Beginn seiner Karriere bekam er als unbedeutender Lokalreporter einen Hungerlohn. Musste sich, um überhaupt arbeiten zu können, eine alte Schreibmaschine ausleihen, schrieb Groschenromane im Akkord
Sprecher Georges Simenon: Romanzen für Midinettes, mit viel Leid. Aber viel Liebe und Hochzeit am Ende…Ich ernährte mich vor allem von Brot, von Camembert oder Kaldauen à la Caen, mit derer fetter Brühe man eine große Menge Brot hinunterbekommen konnte.
Autorin: Als gerade mal 20jähriger heiratete Georges Simenon in seiner Geburtsstadt Lüttich Tigy, eine kühle Schönheit, mit der er über 20 Jahre zusammenlebte. Und die er nach Strich und Faden betrog, mit Prostituierten, mit Boule, dem gemeinsamen Hausmädchen, mit fast jeder Frau, die er traf. Tigy ahnte von all dem nichts, folgte ihm nach Paris, auf seine Reisen, später in die USA. Doch zunächst lebte er in seinem geliebten Pariser Viertel Montparnasse oder am Place des Vosges, noch immer ein armer Schlucker. So wie seinerzeit Maigret, der von ihm später erfundene Kommissar:
Sprecher Erzähler: Schon im schummrigen Flur schlug Maigret ein bekannter Geruch entgegen. Als er vor vielen Jahren nach Paris gekommen war, hatte er in einer ähnlichen Unterkunft gewohnt, am Montparnasse, im Hôtel de la Reine Morte. Die Besitzer stammten aus der Auvergne und hatten streng darauf geachtet, dass auf den Zimmern nicht gekocht wurde. Es roch nach warmen Laken und zusammengepferchten Menschen. Auf dem Schild aus falschem Marmor draußen stand: „Zimmer. Monats-, wochen- oder tageweise zu vermieten. Größter Komfort. Badezimmer.“ Daraus wurde nicht ersichtlich, dass es auf jedem Stockwerk nur ein Badezimmer gab und man sich anstellen musste, wenn man es benutzen wollte.
Musik Josephine Baker
Autorin: Obschon verheiratet verliebte er sich in keine Geringere als den damaligen Cabaret-Star, in Josephine Baker,
Sprecher Georges Simenon: die ich geheiratet hätte, wenn ich es, so unbekannt wie ich war, nicht abgelehnt hätte, Monsieur Baker zu werden.
Autorin: Er floh mit seiner Frau Tigy, die seinen Liebestaumel angeblich nicht mitbekommen hatte, nach La Rochelle, um Josephine zu vergessen,
Sprecher Georges Simenon: Wir sollten uns erst dreißig Jahre später in New York wiedersehen, beide noch immer so verliebt.
Musik Baker hochziehen
Autorin: So nach und nach avancierte er zum Autor kleiner Erzählungen, die er in Pariser Zeitungen veröffentliche. Dort begegnete er der Schriftstellerin Colette. Sie riet ihm, der noch immer seine Texte als Georges Sim zeichnete, sie zu reduzieren, sie seien
Sprecherin Colette: zu literarisch, mein kleiner Sim! Einfacher, noch einfacher…
Autorin: Er wurde der Autor, der mit wenigen Worten eine ganze Welt erschuf.
Sprecher George Simenon: Schwer zu erklären, wie das gelingt. Matisse zum Beispiel kann das. Ich erinner mich noch gut an seine allerersten Aktzeichnungen. Die schienen nur aus sieben oder acht zufällig hingeworfenen Strichen zu bestehen. Und doch lebten sie. Und zwar nicht nur in körperlicher, materieller Hinsicht. Sondern auch poetisch. Im Grunde versuche ich jetzt seit 30 Jahren dasselbe mit Worten.
Musik
Autorin: Simenon hielt es nirgendwo lange aus. Er wollte die Welt erkunden, erwarb einen Kutter, schipperte mit Ehefrau und Hausmädchen durch Europas Kanäle. Gelangte an die Maas.
Musik Jacques Brel
Sprecher Georges Simenon: Das flache Land, das Brel so gut besungen hat,…..
Musik
O-Ton John Simenon: C’est quelqu’un qui toujours a été…. Sprecher John Simenon: Er war ein Mensch, der Wasser liebte. Zunächst die Meuse in Lüttich, dort, wo er herkommt. Später das Meer, zunächst die Nordsee. Er liebte das Licht dort, die Ruhe.
Musik Jacques Brel
Autorin: Wie anders sollte er später leben, wie üppig auf Schlössern mit Hauspersonal und Chauffeur. Wehmütig schrieb er Anfang der 80er Jahre im Rückblick auf sein Leben seine intimen Memoiren, eine Erinnerung an seine Tochter Marie-Jo:
Sprecher Georges Simenon: Verstehst du, warum ich sehr viel später, als ihr und deine Brüder, zu Weihnachten eure prächtigen Geschenkpakete öffnetet, manchmal unbewusst sehnsüchtig lächeln musste? Ihr wart reich. Nichts verzauberte euch, und darum hattet ihr weniger Glück als ich. Ich hatte oft Angst um euch. Manchmal bedauerte ich euch. Im Grunde ist es ein Glück, arm geboren zu sein und den Wert einer einfachen Apfelsine schätzen zu können…Ein Chauffeur fuhr euch im Auto zur Schule oder zum Collège und brachte euch wieder nach Hause. Ein Kindermädchen oder eine Gouvernante empfing euch, wenn ihr nach Hause kamt, bereit, eure Wünsche zu erfüllen.
Autorin: Vielleicht blieb Kommissar Maigret zu all dem Luxus immer der Gegenpart.
Sprecher Erzähler: Maigret liebte es, hin und wieder allein zu essen, seinen Blick über die altmodische Einrichtung schweifen zu lassen, über die Leute, die zumeist in Hinterhöfen arbeiteten, in denen man unvermutet auf Winkeladvokaten, Pfandleiher, Orthopäden und Briefmarkenhändler trifft…. Das Bistrot, in dem Maigret saß, war real, solide. Hier zeigte sich das alltägliche Leben. Einfache Leute, ja, aber es gibt mehr einfache Leute als andere. Sie fallen nur weniger auf, weil sie dunkle Kleidung tragen, leise sprechen, dicht an den Häusern entlanggehen und sich in der Metro zusammendrängen.
Musik
Autorin: Maigret entstand aus diversen Versuchen, mit verschiedenen Protagonisten im Krimigenre zu reüssieren.
Sprecher Erzähler: „Sehe ich wie ein Mörder aus“, fragte ihn sein unter Mordverdacht geratener Jugendfreund. Maigrets Antwort:
Sprecher Maigret: „Ein Mörder wird man innerhalb weniger Sekunden. Vorher ist man ein Mensch wie jeder andere.“
Musik
Autorin: Doch der Ruhm blieb aus. Verlage und Lektoren mäkelten an Maigret herum:
Sprecher George Simenon Nicht übel mein kleiner Sim. Ja, gar nicht übel. Nur, unmöglich, das kauft keiner. Erstens sind es keine Krimis. Da läuft keine logische Geschichte ab, wie in einer Partie Schach. Sie geben dem Leser nicht alle Elemente in die Hand. Es gibt nichts zu erraten. Zweitens ist ihr Kommissar einfach, wie alle anderen Kommissare. Er hat überhaupt nichts Besonderes an sich. Wer soll sich denn für so einen kleinen Beamten interessieren? Also Misserfolg vorprogrammiert.
Autorin: Langsam wurde es Georges Simenon zu bunt. Bis er auf die geniale Idee kam, die ihm letztlich zum Durchbruch verhalf.
Krimimusik ordentlich Krach
Sprecher Erzähler: Freitag. 20. Februar 1931. Georges Simenon lädt ein ins „La Boule Blanche“, einen karibischen Nachtclub mitten in Paris. Le „Tout Paris“, die Szene aus Künstlern und Meinungsmachern, Reichen und Arrivierten, drängelt sich, um ab Mitternacht an der Vorstellung der ersten drei Maigrets teilzunehmen. Das Empfangskomitee besteht aus einer Prostituierten, einem Zuhälter und einem Metzger mit einer blutverschmierten Schürze. Falsche Polizisten nehmen den Gästen die Fingerabdrücke ab. Augenzeugen berichten, man habe sich seit langem in Paris nicht mehr so gut amüsiert wie in jener Nacht „chez Simenon“.
Autorin: Von da an gings bergauf. Seine Maigrets sind plötzlich in aller Munde. Die Auflage steigt rapide. Die Filmindustrie interessiert sich für ihn. Und ein Schauspieler unter vielen anderen repräsentiert wie kaum jemand sonst im Gedächtnis der Nachwelt den pfeiferauchenden, dicklichen, nachdenklichen Kommissar in seinem schlabbrigen Trench-Coat: Jean Gabin:
O-Ton Auszug aus Film mit Jean Gabin: Wie sie sehen, sind ihre Kleider zerfetzt. Ja ich sehe, wie immer. Wurde sie? Was? Er bringt sie um zerfetzt und zerkratzt sie. Sieht nicht nach einem Lustmord aus. Tja, dann könnte man es schon eher verstehen.
Musik
O-Ton John Simenon: Au debut il a la grossette un peu…..Sprecher: Anfangs wurde er ein wenig größenwahnsinnig. Na ja, vielleicht nicht größenwahnsinnig, aber schon ein wenig abgehoben durch seinen Erfolg. Man darf nicht vergessen, dass er Maigret erfand, als er noch nicht mal 30 Jahre alt war. Er war 27, und von einem Tag auf den anderen wurde die von ihm erschaffene Figur plötzlich weltweit berühmt. Selbst wenn er einen außergewöhnlich starken Charakter gehabt hätte, so hätte ihn dieser Erfolg sicherlich berauscht. Im wahrsten Sinne des Wortes. Denn er trank auch gut und gerne.
Autorin: Von da an fuhr er Chrysler und Rolls-Royce, kleidete sich bei einem bekannten englischen Schneider ein und kaufte seine Hüte in London, die Krawatten in Mailand, verkehrte in Spielsälen, lebte in Schlössern und auf Herrensitzen.
O-Ton John Simenon: Sprecher John Simenon: Dieser Effekt hielt sich während der 30er Jahre. Andererseits ist da dieser Mann, der immer wieder zu seiner Arbeit zurückkehrt und sich von seinem Erfolg nicht abbringen lässt. Der in der Lage war, in seinem ‚Arbeitszimmer, seinem Büro wie ein Handwerker an die Arbeit zu gehen. Seine Romane entsprangen der Feder eines Handwerkers, gut eines genialen Handwerkers. Er hat sich immer so gesehen, sagte von sich: „Ich bin ein Arbeiter der Buchstaben“.
Musik
Autorin. Zwei große Leidenschaften beherrschten sein Leben: die für seine Arbeit und die für Frauen
Sprecher Georges Simenon: Ich hatte Hunger, jawohl Hunger auf alles, auf die Spuren der Sonne an den Häusern, auf die Bäume und die Gesichter, Hunger auf alle Frauen, deren Weg ich kreuzte, und deren wippender Hintern genügte, um bei mir fast schmerzhafte Erektionen zu verursachen. Wie oft habe ich diesen Hunger mit Mädchen gestillt, die älter waren als ich, in der Tür eines Hauses, in einer dunklen Straße? Oder aber ich ging verstohlen in eines dieser Häuser, an dessen Fenster eine mehr oder weniger fette und begehrenswerte Frau ruhig strickte und die gelbliche Gardine zuzog, sobald ein Kunde hereinkam.
Autorin: In Interviews ließ er ab und zu durchblicken, insgesamt mit mindestens 10.000 Frauen sexuellen Kontakt gehabt zu haben.
Sprecher Georges Simenon: Ich hätte sie gerne alle gehabt. Ich litt geradezu bei dem Gedanken, dass ich Millionen Frauen auf der Welt nie kennen würde, die mir alle eine Erfüllung geben könnten, nach der ich irgendwie strebte.
Musik
Autorin: Doch dies alles endete in einer Katastrophe. Seine zweite Ehe, geprägt von anfänglicher Leidenschaft, scheiterte. So blieb er, über viele Jahre, als stabile Größe für seine vier Kinder zurück. War er ein guter Vater?
O-Ton John Simenon: Porquerolles .Sprecher John Simenon: Ich persönlich kannte ihn vor allem als Vater. Wir bekamen kaum etwas von seiner Arbeit mit. Er schrieb meistens während wir in der Schule waren. Und den Rest der Zeit war er einfach da. Selbst wenn er an einem Roman schrieb, aß er mittags und abends gemeinsam mit uns. Nachmittags nahm er sich Zeit, um mit uns die Schulaufgaben zu machen. Also für mich war er ein sehr guter Vater. Und wenn ich sehe, welche Werte er an mich weitergegeben hat, dann bin ich ihm dafür außerordentlich dankbar.
Autorin: Es waren Werte wie das Lebensmotto von Georges Simenon, an dem sich auch Maigret orientiert: Comprendre et pas juger: Verstehen und nicht urteilen.
Musik
O-Ton John Simenon Il a souffert....Sprecher John Simenon: Er hat viel gelitten in seinem Leben. Er hatte Schuldgefühle wegen des Selbstmordes seiner Tochter Marie-Jo, er hatte Schuldgefühle wegen seiner Unfähigkeit, die Beziehung zu meiner Mutter aufrecht zu halten. Und er fühlte sich schuldig am Tod seines Bruders.
Autorin: Sein jüngerer Bruder Christian hatte sich während der deutschen Besatzung der belgischen Nazipartei angeschlossen und war wegen seiner Beteiligung an der Exekution von Partisanen nach dem Krieg verurteilt worden. Sollte er sich der belgischen Justiz stellen oder nicht? Das fragte er verzweifelt seinen älteren Bruder bei einem Treffen in Paris. Georges riet Christian, in die Fremdenlegion abzuhauen. Zwei Jahre später kam Christian im Indochinakrieg um.
O-Ton John Simenon: Mein Vater hatte immer das Gefühl, er hätte die Dinge anders angehen, anders lösen können, wenn er seinem Bruder nicht diesen Rat gegeben hätte.
Autorin: Auch das Verhältnis zu seiner Mutter verschlechterte sich zunehmend. Als Christian starb, sagte sie zu ihrem ältesten Sohn Georges: Warum musste er sterben, warum nicht du? Tief getroffen und verzweifelt reagierte er auf den Selbstmord seiner Tochter Marie-Jo, gegen deren fast inzestiöse Liebe er kaum ankam. Und nach deren Tod er einmal schrieb:
Sprecher George Simenon: Es hat lange gedauert, bis ich mich wieder daran gewöhnt habe, so wie alle anderen zu leben.
Musik
Autorin: Irgendwann wurde Georges Simenon des üppigen Lebens überdrüssig. Von Schwindelanfällen geplagt, von seiner zweiten Ehefrau getrennt und öffentlich gedemütigt, verkaufte er eines Tages seine fünf Autos, entließ den Chauffeur, den Gärtner und Küchenchef, das gesamte Personal. Mit seiner letzten Lebensgefährtin Theresa erstand er ein kleines Haus in Lausanne, ein rosafarbenes Häuschen.
O-Ton John Simenon Il était quelqu’un.…..Sprecher John Simenon: Er war verschlossener, weniger lustig. Ich führe das eher auf seinen Hirntumor zurück. Die letzten 20 Jahre seines Lebens hat er immer wieder über Kopfschmerzen und Schwindel geklagt. Damals hab es noch keinen Scanner, kein MRT. Die Ärzte hielten ihn für einem Hypochonder. Etwa um 1983 hat er sich operieren lassen. Man hat ihm den Tumor entfernt. Danach war er wie ausgewechselt. Er war fröhlich, komisch, er hatte Spaß. Er war wirklich wie neugeboren.
Autorin: Aber er schrieb nicht mehr. Hatte sich eines Tages dazu entschlossen, als seine Geschichten ihm nicht mehr in Windeseile zufielen und er sie ohne Federlesens zu Papier bringen konnte. Von da an diktierte er nur noch Biographisches. Tausende und Tausende von Seiten lang.
Musik
O-Ton John Simenon: Mon pere etait quelquun….Sprecher John Simenon: Mein Vater war davon überzeugt, dass sein Werk ihn nicht sehr lange überleben würde. Er wäre heute völlig überrascht zu sehen, wie sehr die Leser sich für seine Romane interessieren. Welche Bedeutung er in der Weltliteratur heute hat..
Musik
Autorin: Noch immer werden weltweit jährlich an die 500.000 Exemplare seiner Bücher verkauft. In Groß-Britannien werden derzeit die Maigrets in Neuübersetzung herausgegeben. Und auch für den deutschsprachigen Markt bricht eine neue Ära an. Verlag und Lektor wechselten. Der neugegründete Kampa-Verlag sowie Hoffmann & Campe teilen sich die Aufgabe, die Daniel Kampa so erklärt:
O-Ton Kampa Wir machen die erste deutsche Gesamtedition der Werke von Georges Simenon und produzieren einfach alle 117 Romane ohne Maigret, das literarische Hauptwerkt. Und natürlich auch alle 75 Romane mit Maigret, auch alle Maigret-Erzählungen, aber auch ein paar Sachen, die es noch nie auf Deutsch gab. Wir wollen auch Simenon als Fotograf vorstellen. Das hat noch keiner gemacht. Er hat viele literarische Essays geschrieben. Er hat Reportagen geschrieben. Es gibt Gespräche mit ihm über die Kunst des Schreibens. Das wollen wir alles machen in den nächsten 10 / 15 Jahren.
Autorin: Eine neue Maigret-Verfilmung ist in Arbeit. Wer wird ihn spielen, diesen schon so oft verfilmten und so leidenschaftlich von seinen Anhängern geliebten Kommissar?
O-Ton Daniel Kampa:Gerard Dépardieu. Ist toll, weil jeder ihn kennt. Ich weiß nicht, wie er das machen wird. Die Dreharbeiten beginnen dieses Jahr, und wenn alles gut geht, wird der Film nächstes Jahr in die Kinos kommen.
Musik
Sprecher Erzähler: Maigret schwindelte, als er sich wegen zu viel Arbeit bei seiner Frau vom Mittagessen abmeldete. Er wollte die Frühlingssonne mit einem Mittagessen in der Brasserie Dauphine feiern. Vor dem Essen genehmigte er sich einen Pastis am Tresen. Wenn ihnen gewaltiger Ärger blühte, wie Lapointe gesagt hatte, so begann er wenigstens auf angenehme Art.
Musik unterlegt
Sprecher Georges Simenon: Hören sie Madame, Sie mögen es nicht glauben. Aber ich bin nicht ihr Feind. Ich bin nur ein Beamter, dessen Beruf es ist, mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln die Wahrheit herauszufinden.
Musik
Sprecherin: Auf Wiedersehen Maigret. Hat mich sehr gefreut, sie kennenzulernen. Sie sind ein äußerst interessanter Mann.
Musik
ENDE