Eine kriminalistische Zeitreise auf WDR 5, Scala, im November 2020

https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr5/wdr5-scala-buecher/audio-das-verschwinden-des-dr-muehe-und-die-fck-it-liste-100.html

Zwei Krimis – eine Zeitreise. Vom Berlin der 30er Jahre hin in eine düstere Zukunft Amerikas nach zwei Amtszeiten Trump. Unsere Krimi-Expertin Ingrid Müller-Münch nimmt sie mit auf die Reise, die eine unblutig und dennoch spannungsgeladen, die andere gezielt losgeschossen.

Scala Krimi-Service, Dienstag 3-11-2020

Oliver Hilmes; „Das Verschwinden des Dr. Mühe“ – Eine Kriminalgeschichte aus dem Berlin der 30er Jahre, Penguin-Verlag, 31.8.2020, 20 Euro, 236 Seiten +

John Niven: „Die F*ck-it-Liste“, Heyne-Verlag 12.10.2020, 320 Seiten, 22 Euro, Übersetzung aus dem Englischen Stephan Glietsch,

Durch die Fernsehserie Berlin-Babylon werden die roaring-twenties wiederbelebt. Auch in dem Krimi „Das Verschwinden des Dr. Mühe – Eine Kriminalgeschichte aus dem Berlin der 30er Jahren“ geht es um genau jene Zeit vor der Machtergreifung der Nazis. Detailbesessen hat der Autor Oliver Hilmes ein Berlin nachgezeichnet, in dem die Nazis schon ihre Selbstherrlichkeit demonstrieren, Dr. Mühes Leiche nie gefunden wurde. Mit einem Zeitsprung dann führt unsere Krimi-Expertin Ingrid Müller-Münch sie in ein zerstörtes und gespaltenes Amerika nach zwei Amtszeiten Trump. Was der Verlag als thrillerartige Satire anpreist ist nichts weiter, als die düstere Wahrheit, sollte Trump die Wahl wieder gewinnen.

 

Sprecher: „Öffnen Sie bitte den Mund, und sagen Sie: ‚Hiiihh‘. Noch etwas weiter. Ja, so ist es gut. Und jetzt bitte: ‚Hiiihh.“ Während Frau Kornrumpf den Mund erneut öffnet und ‚HiiiiHh‘ sagt, drückt Dr. Mühe mit einem Holzstab die Zunge nach unten und schaut tief in den Rachen der Patientin. Es ist Montag, der 13. Juni 1932.

 

Autorin: Dr. Erich Mühe ist ein angesehener Arzt. Seine Praxis betreibt er in seiner außergewöhnlich großen Wohnung in der Oranienstraße, mitten in Berlin-Kreuzberg. In deren hinteren Räumen wohnt er mit seiner Frau und einer ihrer Freundinnen als Untermieterin. Täglich kommt ein Hausmädchen, denn Frau Dr. Mühe träumt eher von einer Karriere als Sängerin denn von einem Alltag in Küche und Kammer. Ihr Gesangslehrer hofiert sie. Im Viertel hält sich das Gerücht, der Mann sei ihr Geliebter.

 

Sprecher: An einem warmen Sommerabend verlässt Dr. Mühe noch spät abends seine Wohnung. Das tut er nicht selten, Patientenbesuche erledigen, heisst es. Doch seit diesem Tag bleibt er verschwunden. Seine Kleidung findet man am Ufer eines nahegelegenen Sees. „Was hat Erich Mühe hier mitten in der Nacht nur gewollt“, fragt sich später, als die Polizei in die Suche nach ihm eingeschaltet ist, der ermittelnde Hauptkommissar Ernst Keller.

 

Autorin:  Verdächtig ist Keller vor allem das Verhalten von Charlotte Mühe, der Frau des Verschwundenen. Von Anfang an glaubt sie an einen Badeunfall. Ungewöhnlich schnell löst sie die Praxis auf, zieht aus der Wohnung in eine preiswertere Gegend, eine kleinere Unterkunft. Denn die großzügig abgeschlossenen Lebens-Versicherungen werden nicht ausgezahlt, solange Dr. Mühes Leiche nicht gefunden wird. Und die taucht einfach nicht auf. Stattdessen wird sein Auto entdeckt. Versteckt, beschädigt. Daneben die Leiche eines üblen Gesellen, der – wie die Polizei bald schon herausbekommt – tatsächlich mal mit Dr. Mühe gesehen wurde

 

Oliver Hilmes schafft in seinem Krimi „Das Verschwinden des Dr. Mühe – Eine Kriminalgeschichte aus dem Berlin der 30er Jahre“ ein Szenario ähnlich dem der Fernsehserie „Babylon Berlin“. Dabei stützt er sich auf Akten des Berliner Landesarchivs. Deren nüchterne Sprache hat er angereichert, ausgeschmückt, herumfantasiert. Und mit jedem Satz merkt man, dass Hilmes Historiker ist. Bekannt vor allem wegen seiner Biographien berühmter Frauen wie Cosima Wagner oder Alma Mahler-Werfel.

Hilmes hat einen ungeheuren Aufwand betrieben um die damalige Zeit so authentisch wie irgend möglich zu skizzieren. Immer eingebettet in die Suche nach Dr. Mühe, dargestellt durch Interviews aller Beteiligter. So erfahren Leserinnen und Leser zum Beispiel, was Dr. Mühe in seinem Berliner Lieblingslokal, dem Aschinger,  so alles speiste.

 

Sprecher: Berliner Bratwurst mit Rotkohl für 75 Pfennige? Gedämpfte Nieren ‚pikant‘ mit Kartoffelbrei für 90 Pfennige? Kalbskotelett mit Schwenkkartoffeln für 1,50 Mark? Oder doch lieber Lachs mit Remouladensauce?

 

Autorin: Haargenau verfolgt der Autor Dr. Mühes Weg, den er Alltags gerne einschlug. Zählt auf, an welcher Bäckerei er auf dem Weg ins Aschinger vorbeikam, wo damals die Apotheke „Zum Schwan“ stand, das Kaufhaus Wertheim direkt daneben.

Oliver Hilmes kriminalistische Zeitreise erstreckt sich, vom Jahr 1932 ausgehend, über die Nazi-Diktatur bis in die frühen 50er. Und all die Jahre bleibt Dr. Mühe verschwunden. Verdächtige gibt es genug. Doch nirgends handfeste Beweise. Keine Spur von ihm. Wobei nach ihm gesucht wird, hin und wieder. Eine Suche, die allerdings, je länger sie dauert, so nach und nach aus Opfern Täter macht.

Spannender als Fiction, fantastischer als die nüchterne Realität. Ein Rückblick in eine Zeit, die Oliver Hilmes mit Akribie wieder auferstehen lässt und dabei für ein unerwartetes Finale sorgt.

 

Mit John Nivens „Die F*ck-it-Liste“ begeben wir uns nun in die Zukunft Amerikas nach dem Ende von zwei Amtszeiten Trump‘s. Der Protagonist Frank Brill ist ein einsamer Rentner.  Als sein Arzt ihm mitteilt, dass er nicht mehr lange zu leben hat, kramt er eine Liste hervor, die „F*ck-it-Liste“. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, sie abzuarbeiten.

 

Sprecher: Fünf Namen. Die Auswahl war teils persönlich, teils politisch motiviert, obwohl selbst das Politische noch ziemlich persönlich war. Frank hatte zu jedem dieser Namen eine eigene Akte angelegt. Natürlich hatten manche mehr Recherche und Planung erfordert als andere. Und als der Arzt heute Mittag die magischen Worte ausgesprochen hatte, lag die Konsequenz auf der Hand. Noch vor dem Verlassen der Praxis war die Liste von einem therapeutischen Hilfsmittel zu etwas überaus Handfestem geworden. Auf gewisse Weise, das wurde Frank nun klar, hatte er auf diese Diagnose gewartet, beinahe darauf gehofft.

 

Autorin: Ich stelle „Die F*ck-it-Liste“ des schottischen Autors John Niven nicht deshalb vor, weil sie – wie es der Verlag behauptet – politische Satire ebenso wie gnadenloser Thriller ist. Das ist der soeben erschienene Krimi über ein zukünftiges Amerika und einen biederen Bürger, der zum Mörder wird, definitiv nicht. Der angeblich gnadenlose Thriller ist eine linear erzählte Geschichte über Frank Brill, den ehemaligen Chefredakteur einer Lokalzeitung, der eines Tages eine Krebsdiagnose erhält und sich vornimmt, all jene Menschen zu töten, die sein Leben letztlich zerstörten. Und so packt er am nächsten Morgen zügig und effizient einen großen Rollkoffer mit ausreichend Kleidung und Toilettenartikeln.

 

Sprecher: In eine Umhängetasche packte er seinen Laptop, Akkus, die fünf Ordner, die übrigen Notizblöcke, seine Woodsman Kaliber .22 und eine Schachtel mit Munition. Er wusste, dass die Woodsman nicht die geeignete Waffe für sein Vorhaben war, aber seiner Meinung nach sollte sie für die Nummer eins ausreichen.

 

 

Autorin: Bevor er sein Haus verlässt dreht er sich ein letztes Mal um. Danach beginnt eine Art Roadmovie, eine blutige Reise durch ein verwüstetes, ausgebeutetes, gespaltenes Amerika, während der Frank sich dafür rächt, dass Trumps USA letztlich den Tod seiner drei Kinder zuließ, förderte, verantwortete.

Iven hat sein Zukunftsszenario ins Jahr 2026 verlegt. Der Bad Boy der englischen Literatur, der Provokateur und Bestseller-Schreiber, zeichnet ein schonungsloses, deprimierendes Portrait der zukünftigen USA. Und beim Lesen gruselt es vor einer eventuell so aussehenden Zukunft, mehr noch, als vor der blutigen Vernichtungsorgie, die der amoklaufende Frank Brill inszeniert.