Krimiservice: „Blutzahl“ und „Kein falscher Schritt“ / September 2020 WDR5 Scala

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Thomas Enger / Jorn Lier Horst: „Blutzahl“, Blanvalet, 21.9.2020, Übersetzung aus dem Norwegischen Maike Dörries und Günther Frauenlob, 477 Seiten, 11 Euro

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Brad Parks „Kein falscher Schritt“, Fischer, 26.8.2020, Übersetzung aus amerikanischem Englisch: Helga Augustin, 14,99 Euro, 431 Seiten, 3. Thriller

 Zwei Gegensätze, beide stehen für sich. Unsere Krimi-Expertin stellt diesmal einen klassischen Whodunit – also die ausschließliche Jagd nach einem Mörder – einem Thriller gegenüber, in dem sich die ganze Welt der Korruption und des Vertuschens angesichts eines drohenden Bankenskandals unschön entfaltet.

 

Muss ein Krimi ein wichtiges gesellschaftspolitisch relevantes Thema behandeln, um ernst genommen zu werden? Muss es um Ausbeutung in der Dritten Welt, Terroranschläge, korrupte Politiker, Geldwäsche oder wenigstens einen Bankencrash gehen? Oder reicht es, um unterhaltsam zu sein, einen Mörder zu suchen, dabei vor Spannung mitzubeben – und sich dabei vortrefflich zu unterhalten? Den Beweis, dass dies auch heute noch reicht – und nicht nur bei den teetrinkenden old english Ladies von Annodazumal funktionierte – tritt der von einem norwegischen Duo geschriebene, in Kürze erscheinende Krimi „Blutzahl“ an. Als Gegensatz hierzu zeigt „Kein falscher Schritt“, dass natürlich auch ein politisches Thema die Leser in Atem halten und sie für Stunden aus dem Verkehr ziehen kann. Unsere Krimi-Expertin Ingrid Müller-Münch hat sie beide gelesen:

 

 Autorin: Als die Journalistin Emma Ramm erfährt, dass genau an diesem Morgen Sonja Nordstrom verschwunden ist, klingeln bei ihr sämtliche Alarmglocken. Es muss etwas Schwerwiegendes passiert sein, warum sonst sollte die weltbekannte Spitzensportlerin die für heute terminierten Interviews mit Journalisten platzen lassen, denen sie ihr neues Buch präsentieren wollte. Für die ehrgeizige Emma Ramm gibt es kein Halten mehr. Sie kennt die Adresse der Nordstrom. Also macht sie sich auf den Weg.

 

Sprecher: Auch nach dem dritten Klingeln blieb es still im Haus. Aus einem Impuls heraus legte Emma eine Hand auf die Türklinke und stellte überrascht fest, dass die Tür nicht verschlossen war. Emma nahm die Hand von der Klinke, und die Tür glitt langsam in ihre Richtung auf. Sie machte einen Schritt nach vorne. Schob den Kopf ein kleines Stück in einen breiten Flur mit dunklen Bodenfliesen. Ein Stück weiter hinten sah sie einen umgekippten Garderobenständer. Auf dem Boden davor lagen Glassplitter, der große Spiegel an der Wand war zu Bruch gegangen. „Sonja Nordstrom?“ rief sie in den Flur hinein und merkte, dass ihre Stimme zitterte.

 

Autorin: Doch nichts rührt sich. Alles bleibt still. Und von der Nordstrom im ganzen Haus keine Spur. Eines vor allem ist merkwürdig.

 

Sprecher:  Der Fernseher lief. Irgendein Sportkanal. Mitten auf dem Bildschirm klebte eine Startnummer. Nummer eins.

 

Autorin: Zu dem Zeitpunkt, als alles begann, ahnt Emma Ramm noch nicht, welche Bedeutung diese Ziffer in Zukunft haben wird. Denn der Nummer eins folgen weitere Zahlen und damit jedesmal weitere Tote. Nur die Nordstrom bleibt verschwunden. Und irgendwann ist klar, da ist ein Serienmörder am Werk, der sich einen Spaß daraus macht, seine Opfer mit Ziffern zu markieren. Was nicht nur für Emma Ramm, die Journalistin, sondern auch für Alexander Blix vom Osloer Dezernat für Gewaltverbrechen eine Tour de Force bedeutet. Auf der Suche nach demjenigen, der seine Opfer nummeriert und dies auch schonmal per Post kundtut.

Sprecher: Blix drehte den Umschlag noch einmal um. Auf der Rückseite stand kein Absender. „Der ist heute früh mit einem Boten gekommen“, informierte sie die Frau am Tisch gegenüber. „Wie lange ist das her“, fragte Blix. „Tja, ein paar Stunden, würde ich sagen.“ Blix runzelte die Stirn, öffnete den Umschlag und nahm das Foto heraus. Ihm stockte der Atem. Es war eine Vier.

 

Autorin: „Blutzahl“ ist ein geradezu klassischer Whodunit, stand auf Platz Eins der norwegischen Bestsellerliste. Geschrieben von Thomas Enger und Jorn Lier Horst. Beide sind weit über Norwegen hinaus bekannt. Ihre Krimis wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Mit „Blutzahl“ schufen sie nun gemeinsam eine gnadenlos dichte Suche nach einem Mörder. Der Klassiker per se. Wären da nicht die Schicksale der Jäger, der Polizisten, der Journalistin. Schicksale, die sich erst nach und nach entschlüsseln und weit in die Vergangenheit hineinreichen. Denn einst, als Emmas Vater ihre Mutter tötete, spielte Kommissar Alexander Blix eine fragwürdige Rolle bei dem Geschehen.

„Blutzahl“ ist der Auftakt einer vielversprechenden, bislang gänzlich unpolitischen aber überaus unterhaltsamen Serie.

Anders als der Thriller: „Kein falscher Schritt“ des US-Amerikanischen Bestseller-Autors Brad Parks.

 

Sprecher: Diese Geschichte ist frei erfunden. Allerdings….Die Idee dazu basiert auf dem Skandal um die US-Bank Wachovia, die von 2004 bis 2007 die gesetzlich vorgeschriebenen Kontrollen zur Geldwäsche ignorierte. Dadurch konnten mindestens 378 Milliarden Dollar über mexikanische Geldwechselstuben, die casa die cambio, hin und her transferiert werden.

 

Autorin: Diese Anmerkungen macht der Autor Brad Parks gleich zur Einführung in seinen Thriller. So weiß gleich jeder, dass es hier nicht um Kinkerlitzchen und Fantastereien geht, sondern um die knallharte Wirklichkeit. Der ehemalige Journalist der Washington Post malt sich auf über 400 Seiten aus, wie es ist, wenn mexikanische Drogenbosse und nordamerikanische Banker gemeinsame Geschäfte machen.

 

Sprecher: Als Erstes muss ich klarstellen, wie absolut wahnwitzig ich es finde, dass die Bankenaufsicht es den Banken überlässt, sich selbst zu regulieren. Die Behörden gehen davon aus, dass Banker ehrlich sind und es der Kunde ist, der die ahnungslose Bank betrügt.

 

Autorin: An dieser Stelle nun kommt der arbeitslose Schauspieler Tommy Jump ins Spiel. Eines Tages lauern ihm zwei FBI-Agenten auf, locken mit viel Kohle und bieten ihm einen Job an, den er genau wegen der Dollars nicht ablehnen kann. Einen Job, in dem seine Fähigkeiten als Schauspieler gefragt sind. Seine Freundin ist ebenso erfolglos als Malerin wie er brotlos als Schauspieler lebt. Außerdem ist sie schwanger. Mit dem Geld könnte er eine Weile seine neue Familie ernähren. Die Sache hat nur einen Haken: Er soll, unter neuer Identität, in ein US-Gefängnis eingeschleust werden und dort einen einsitzenden ehemaligen Banker, der an Geldwäsche-Transaktionen beteiligt war, aushorchen. Der Mann hat, als ihm der Boden zu heiß wurde, Beweismittel beiseitegeschafft, mithilfe derer er so einigen Bankern zu einem Freifahrtschein in den Knast verhelfen könnte. Und genau diese Beweise soll Tommy Jump, unser arbeitsloser Schauspieler, nun heranschaffen. Im Rücken das mexikanische New Colima Kartell, an seiner Seite das FBI. Langsam wird ihm etwas mulmig zumute.

 

Sprecher: Das hier war kein Gangsterfilm. New Colima war kein Haufen flotter Mexikaner in weißen Leinenanzügen, die auf einer malerischen Hazienda mit Meerblick Zigarren rauchten und Sangria tranken. Es waren brutale, seelenlose Killer, denen ein Menschenleben absolut nichts wert war. Sie folterten die Todgeweihten allein wegen des Entsetzens, das es bei den Lebenden auslöste. Sie respektierten kein Gesetz, keine Regierung und hatten nicht das geringste Bedürfnis, wie andere anständige Menschen in Frieden zu leben. Und ich war dabei, mich in ihr Universum zu begeben – in ihre Nähe, wenn nicht sogar in ihr Fadenkreuz.

 

Autorin: Detailreich bis ins Groteske schmückt Parks die Gefängnisszenen aus. Der Thriller „Kein falscher Schritt“ ist wie das Balancieren auf der Schneide eines Messers. Die Gefahr, abzustürzen, lauert ständig.  Geschrieben von einem vor Phantasie berstendem Schreibgenie.