Verweigerung und Der Tausch – 2 Rezensionen auf WDR 5 Scala, 23.02.2021
Auf WDR 5 im Kulturmagazin Scala läute ich das Krimi-Jahr 2021 mit vielversprechender Spannungsliteratur ein. Im ersten Fall ringen zwölf Geschworene um die Wahrheit, werden von einem Freispruch überzeugt und müssen mit den unerwarteten und tödlichen Folgen klarkommen. Im zweiten Fall, ebenfalls aus den USA, tauschen zwei Frauen auf der Flucht am Flughafen ihre Tickets. Keine hat mit dem gerechnet, was sie von nun an erwartet.
Graham Moore: „Verweigerung“, Eichborn, erschienen 21.12.2020, Übersetzung amerikanisches Englisch André Mumot, 22 Euro, knapp 400 Seiten.
„Wenn jemandem klar wurde, wer sie war, gab es nur noch ein Gesprächsthema. Männer hatten bei ersten Dates Bemerkungen darüber fallen lassen. Bei Geburtstagsfeiern vermied Maya Eckplätze, um nie wieder am Ende der Tafel in der Falle zu sitzen und mit gequältem Gelächter über einen Witz hinweggehen zu müssen, den der Freund eines Freundes darüber riss. Alles, was in ihrer Macht stand, hatte sie getan, um diese Geschichte hinter sich zu lassen, aber es hatte nicht genügt.“
Zehn Jahre ist es her, da betrat Maya Seale das Gerichtsgebäude von Los Angeles. Sie hatte eine Vorladung als Geschworene bekommen, auf dem Formular ihr Kreuz gemacht und den vorfrankierten Umschlag in den Briefkasten gesteckt. Nicht ahnend, was das für Konsequenzen haben würde, betrat sie am Tag ihrer Vorladung das Gerichtsgebäude. Um es fünf Monate später als jemand zu verlassen, der landesweit zum abendfüllenden Gesprächsstoff geworden war. Maya Seale hatte sich durch ihr Verhalten in einem der seinerzeit spektakulärsten Prozesse zum Gespött gemacht. Dank ihrer Überredungskunst war es ihr gelungen, alle Geschworenen von Zweifeln an der Schuld des angeklagte Afroamerikaners Bobby Nock zu überzeugen, Nock wurde vorgeworfen, die 15-jährige Jessica Silver, Erbin eines Immobilienvermögens, vergewaltigt und ermordet zu haben. Die Crux an der Sache war: es gab zwar Indizien, die für seine Schuld sprachen. Es blieben aber auch Fragen offen. Was allerdings fehlte war die Leiche des Mädchens.
Monatelang hatte sich der Prozess hingezogen, abgeschottet von der Umwelt waren die Geschworenen ganz auf sich gestellt.
Die Presse stürzte sich auf das Verfahren. Ein Schwarzer der eine weiße Minderjährige sexuell missbrauchte, allein das hätte für Schlagzeilen gereicht. Dass er sie ermordete, lag für die Öffentlichkeit geradezu auf der Hand. Als dann der Freispruch kam ging ein Aufschrei der Empörung durch die Medien. Der öffentliche Rummel verleitete daraufhin den ein oder anderen Geschworenen, Mayas Rolle bei der Urteilsfindung öffentlich zu machen. Eine Hetzjagd auf sie begann.
Zehn Jahre später ruft sie der Chef der Anwaltskanzlei, in der Maya Seale inzwischen als Strafverteidigerin arbeitet, zu sich, informiert sie, dass eine eine achtstündige Dokuserie über den Fall Jessica Silver geplant sei. Die Filmcrew wolle die einstigen Geschworenen portraitieren, nachfragen, ob sie auch heute noch zu ihrem damaligen Veto stehen. Doch die Sache gerät aus dem Ruder. Maya Seale findet einen der Mitgeschworenen ermordet in ihrem Hotelzimmer.
Maya Seales Rolle in Graham Moore‘s Krimi „Verweigerung“ ähnelt zwar stark der von Henry Fonda in dem 1957 ausgestrahlten US-amerikanischen Film „Die 12 Geschworenen“. Die Perspektive ist die Gleiche: Es ist die Sicht eines der Geschworenen. Dennoch ist „Verweigerung“ nicht einfach ein Remake, sondern ein Justizkrimi, der seine Eigenständigkeit hat, voller zwischenmenschlicher Abgründe, aufs Heute hin aktualisiert, nicht ausschließlich begrenzt auf den Gerichtssaal, sondern weit darüber hinaus das Leben der Geschworenen mit einbeziehend. Schillernd, alltäglich banal, voller dunkler Flecken. Und geradezu atemlos warten die Leser bis zur letzten Seite auf die alles bewegende Frage: War Bobby Nock tatsächlich unschuldig oder nicht?
Julie Clark: „Der Tausch.“, Heyne, erschienen 11.1.2021, Übersetzung amerikanisches EnglischGabriele Burkhardt/ Astrid Gravert, 12,99 Euro, 294 Seiten
“John F. Kennedy Airport, New York. In Terminal 4 wimmelt es von Menschen, der Geruch von feuchter Wolle und Kerosin umgibt mich. Ich warte direkt hinter der Glasschiebetür, und jedes Mal, wenn sie sich öffnet, schlägt mir eine kalte Winterluft entgegen. Ich stelle mir stattdessen eine milde puerto-ricanische Brise vor, die den Duft von Hibiskus und Meersalz trägt. Das weiche Spanisch, das dort gesprochen wird, hüllt mich ein und löscht die Person aus, die ich vorher war.“
Der zweite Krimi aus den USA, den ich heute hier vorstelle, beginnt auf dem New-Yorker John-F.-Kennedy Flughafen. Claire ist auf dem Weg nach Puerto-Rico, wo ihr Mann, Rory Cook, sie in geschäftlicher Mission hinschickt. Damit hat er ihre Pläne durchkreuzt. Seit Monaten bereitete sie sich auf genau diesen Tag vor. Sie wollte verschwinden aus seiner Welt, wollte vor ihm abhauen, seine Gewaltexzesse, sein ständiges Überwachen hinter sich lassen. Doch so einfach ist das nicht, denn Cook ist mächtig, geht notfalls über Leichen und hätte sie niemals gehen lassen. Also hat sie alles getan, um ihre Spuren zu verwischen. In einem Hotelzimmer in Detroit liegen Papiere bereit, die sie für ihre neue Identität benötigt. Alles ist bis ins kleinste Detail geplant. Doch dann informiert sie der Assistent ihres Mannes, dass es eine Planänderung gibt. Ihr Mann will den Termin in Detroit selbst wahr nehmen. Sie soll nach Puerto Rico fliegen. Damit werden alle ihre Pläne zunichte gemacht.
Claire ist verzweifelt. Plötzlich taucht am Flughafen eine Frau auf, spricht sie an. Eva, so heiße sie, habe ihren schwerkranken Mann bis zu seinem Tode gepflegt. In der Nacht, in der er besonders litt, habe sie ein wenig nachgeholfen. Nun würden Fragen gestellt, sie müsse raus, raus aus allem. Ob sie nicht ihre Flugtickets tauschen sollen, um ihre Spuren besser zu verwischen? Eva würde nach Puerto Rico fliegen und Claire solle doch bei ihr zu Hause in Oakland untertauchen.
Ein grandioser Einstieg. Eine Geschichte, die sich überraschend wendet, voller scharfer Kurven und unerwarteter Abzweigungen. Eine Zitterpartie bis zuletzt. Mit zwei Frauen, kraftvoll, willensstark und fantasievoll. Wird Rory Cook seine Frau aufspüren? Wird das Täuschungsmanöver der angeblichen Eva auffliegen? Wird Claire das alles überleben? In ihrem ersten Krimi, der in den USA die Bestsellerlisten stürmte, ist die erfolgreiche Roman-Schriftstellerin Julie Clark fasziniert von der Frage, ob jemand für lange Zeit einfach so aus seinem Leben verschwinden kann. Eine Faszination, die sich durch das ganze Buch zieht und in Atem hält, bis zur letzten, wirklich bis zur allerletzten Zeile.