Vortrag in Heidelberg über Todesschüsse von Polizisten auf Sinti und Roma 1945 – 1980

Vortrag HD 3-2024 von Ingrid Müller-Münch

 

 

Im März 2019 beschloss der Deutsche Bundestag, die Problematik von Antiziganismus, also von Ressentiments gegenüber Sinti und Roma in der deutschen Nachkriegsgesellschaft, untersuchen zu lassen. Hierzu wurde eine beim Bundesinnenminister angegliederte Unabhängige Kommission ins Leben gerufen. Und die vergab nun 15 Aufträge, sich diesem Thema zu widmen. Einer davon ging an mich.  Ich sollte herausfinden, wie viele Sinti und Roma in den Jahren 1945 bis 1980 durch Polizisten getötet wurden.

Also machte ich mich auf die Suche nach tödlichen Polizeischüssen auf Roma oder Sinti in der damaligen Zeit. Vor dem Hintergrund der personellen Kontinuitäten und fortgesetzten rassistischen Praktiken in Ämtern, Politik, Polizei und Justiz, in denen sich vorwiegend alte Nazis tummelten; vor dem Hintergrund einer Gesellschaft, die ihre Ressentiments gegenüber Sinti und Roma aus einem tödlichen Rassismus nährten, fielen die von mir aufgestöberten tödlichen Schüsse von Polizisten auf Sinti oder Roma. Um sie zu rekonstruieren kontaktierte ich Kriminologen, die sich mit Polizeigewalt befassen, Kollegen und Kolleginnen, Archivare und Archivarinnen, Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, Antisemitismusbeauftragte in verschiedenen Bundesländern ebenso wie Organisationen, die Überlebende des Holocaust unterstützen. Politiker wurden angefragt, Stiftungen und Polizeihochschulen angeschrieben, Staatsarchive aufgesucht. Das Internet wurde durchforstet. Eine Recherche, die mich quer durch Deutschland führte. Sie ließ mich monatelang herumtelefonieren, in staubigen Akten von Staats- und Landesarchiven wühlen, Roma- und Sinti interviewen, Experten und Historiker befragen.

 

Zu guter Letzt hatte ich dann fünf Beispiele beisammen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Die aber genau das zeigen, so interpretierte sie Romani Rose:

„mit welcher Angst auch die Polizeibeamten in die Konfrontation geschickt worden sind, von den Lehrern, die früher die SS-Uniform getragen haben“.  

 

Eine Aussage, die sicherlich treffend ist, bedenkt man, dass in den Jahren zwischen 1945 und 1980 innerhalb von Polizei, Staatsanwaltschaft und Justiz vorwiegend ehemalige Nazis agierten und die jungen Nachwuchskräfte in ihrem Gedankengut ausbildeten. Und das beinhaltete damals noch so gut wie uneingeschränkt heftigste Vorbehalte gegenüber sogenannten „Landfahrern“, geradezu panische Ängste vor der Konfrontation mit diesem „Gesindel“, vor ihrer angeblichen „Blutrache“, ihrer „Sippschaft“ und ihrer ihnen zugeschriebenen

Gewalttätigkeit.

 

Von den kommunalen Verwaltungen erfuhren die teils schwer traumatisierten Sinti und Roma keine Unterstützung, sondern wurden in der Regel an die Stadtränder verdrängt, wo sie in improvisierten Behausungen oder auf Lagerplätzen leben mussten. Aus den Provisorien entstanden vielerorts dauerhafte Wohnstätten, weil die Kommunen ihre Ausgrenzung fortsetzten.

Im Oktober 1955 korrespondierte beispielsweise der Regierungspräsident Arnsberg mit dem Nordrheinwestfälischen Innenminister unter dem Betreff: „Landfahrerplage“ über die Möglichkeit einer Ausweisung dieser sogenannten „Landfahrer“ aus dem Stadtgebiet.

 

Auch in Baden-Württemberg war 1953 eine „Zentralkartei zur Bekämpfung von Landfahrerdelikten“ eingerichtet worden. 1954 plante das Bundesland ein Gesetz gegen „Landfahrer“. Auch wenn sich bald schon herausstellte, dass diese sogenannten „Landfahrer“ nur einen geringen Anteil an der Gesamtkriminalität hatten, blieben grundgesetzwidrige Maßnahmen gegenüber Sinti und Roma in Baden-Württemberg teils weit bis über die 1970er Jahre hinaus bestehen.

 

Die Abneigung ihnen gegenüber geht besonders deutlich aus einem Schreiben des Dienststellenleiters beim Haupternährungsamtes der Gemeindeverwaltung Harburg, hervor, das er am 3. August 1945 an den Bürgermeister des Ortsamtes schickte. Darin heißt es:

In der Waßmerstraße befindet sich eine Kolonie von 234 Zigeunern. Viele dieser Leute sind, wie nicht anders zu erwarten war, KZ-Häftlinge gewesen. Diese minderwertigen Kreaturen (sind) ja jedem als Nichtstuer, Bettler und Tagediebe bekannt. (Sie machen) Bezugsrechte (als NS-Verfolgte) geltend. (Oft) werden die Brüder (dabei) frech. (Wir würden gerne) Vorschläge vortragen, um Wilstorf endgültig von der Zigeunerplage zu befreien.“

Ein Beispiel unter vielen.

Kein Wunder, dass da die Waffe locker saß.

 

 

 

Die Familie Lehmann gehörte zu den etwa 100 Sinti, die 1933 in Heidelberg lebten. Die meisten Heidelberger Sintifamilien wohnten damals in der Altstadt. Nachdem

man vielen Berufstätigen die notwendigen Gewerbescheine entzogen hatte, mussten zahlreiche Familien die Stadt verlassen. 1936 waren von ursprünglich 15 Sinti-Familien mit 99 Personen (darunter auch Angehörige der Familie Lehmann) lediglich noch fünf Familien übrig, darunter vornehmlich alte Leute und Kinder. 1940 wurden die meisten in das besetzte Polen deportiert. Ab 1943 wurden weitere Sinti in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau verschleppt.

 

Über die Verfolgung von Anton Lehmann und Familie erzählte der Neffe Johann Lehmann:

 

„1938, nachdem die Heidelberger Synagoge durch einen Brandanschlag völlig zerstört worden war, sind meine Eltern und Großeltern aus Heidelberg nach Holland geflohen. Die Mutter meines Cousins […], der mich am 31. Mai 1973 angerufen und über die Schüsse auf meinen Onkel Anton informiert hatte, wurde in Auschwitz ermordet, dessen Familie fast ganz ausgerottet. Er (der Cousin) konnte gerettet werden, wurde von seiner Großmutter großgezogen.“

 

1945 stand die Familie Lehmann vor dem Nichts. Anders als die sogenannten „Kriegsheimkehrer“ gab es für sie als Sinti, die den Völkermord überlebt hatten, weder ein Willkommen noch materielle Hilfen. Im Gegenteil: Wie alle damals in Heidelberg lebenden Sinti waren sie den alten Anfeindungen ausgesetzt. Die Behörden blockierten ihre Wiedergutmachungsanträge. Die Nachbarschaft schaute auf sie herab. Ihre früheren Berufe konnten sie kaum noch ausüben. Sie mussten in Behelfsheimen und Obdachlosenunterkünften leben.

 

Sein Onkel Anton Lehmann hatte einen Sohn mit seiner in Auschwitz getöteten ersten Frau. Dieser Sohn hat Auschwitz überlebt. Anton Lehmann hat dann nochmal geheiratet und sechs weitere Kinder bekommen. Von den Söhnen, die damals angeschossen wurden, lebt nur noch einer.

 

Anton Lehmann war nach dem Tod seiner Mutter Ende der 1960er Jahre zurück nach Heidelberg zu seinem Vater gezogen. Er war von Beruf Polsterer und Möbelbauer:

„Pendelte zwischen Allgäu und Heidelberg hin und her. Dort kaufte er kaputte Möbel auf, Schlitten und so Sachen, hat sie restauriert und dann hier verkauft.“

Johann kannte seinen Onkel sehr gut, fuhr mehrmals wöchentlich von Mannheim nach Heidelberg, um die dortige Familie zu besuchen.

Über den Tag, an dem sein Onkel Anton Lehmann starb, über den „haben wir gar nicht […] gesprochen. Innerhalb der Familie war das so, die haben nicht drüber geredet, weil es hat so arg wehgetan. Stellen Sie sich mal vor, jahrhundertelang wird die Familie ausgerottet,“ so Johann Lehmann, „und dann das.“

Johann Lehmann berichtet, er sei „der einzige, der die Kraft hat, sich um die Gräber in Heidelberg zu kümmern“. Eben wegen dieser Gräber seiner Familienangehörigen sei er zurück nach Heidelberg gezogen. Hier seien alle Onkel, auch der erschossene Anton Lehmann, seine Großeltern und sein Vater begraben. Seinen Verwandten sei es aufgrund der erlittenen Verfolgung emotional nicht möglich, die Gräber aufzusuchen und zu pflegen.

 

 

 

 

 

 

 

 

Heidelberg Anton Lehmann

 

Zu Beginn meiner Recherche gab es zunächst nur einen Anhaltspunkt: Ich kannte den Heidelberger Fall des Sintos Anton Lehmann, der am 31. Mai 1973 von einem Polizisten getötet worden war.  Im Fall Anton Lehmann erhielt ich das schriftliche Urteil im Prozess gegen die Söhne Lehmanns ebenso wie die Einstellungsverfügung der Ermittlungen gegen den Polizeischützen. Das wiederum stellte ich dem gegenüber, was mir der Neffe des erschossenen Anton Lehmann erzählte. Kombiniert mit Zeitungsausschnitten und Archivdokumenten war damit erstmals ein Fall ausrecherchiert, soweit dies fast 50 Jahre nach den Geschehnissen noch möglich war.

 

 

 

Der 31. Mai 1973 fiel auf einen Donnerstag. Es war Christi Himmelfahrt, wie üblich wurde Vatertag gefeiert. So auch im Notwohngebiet Mörgelgewann, das die Stadt Heidelberg 1957 zur Unterbringung von Flüchtlingen aus Ostdeutschland im Heidelberger Stadtteil Kirchheim errichtet hatte und das kurz danach auch als Obdachlosenunterkunft genutzt wurde. Auf dem dortigen „Landfahrerplatz“ – wie dieses Areal im Volksmund genannt wurde – lebte zu der Zeit eine Familie Lehmann. Mehrere Familienmitglieder waren in Auschwitz ermordet worden, die Überlebenden waren nach der Befreiung an den Ort zurückgekehrt, an dem sie zuvor gelebt hatten und von dem sie vertrieben worden waren.

 

An dem Tag, so erinnert sich der damals 26 Jahre alte Sinto Johann Lehmann, hatte seine Oma Geburtstag. Das sollte gefeiert werden. Sein Onkel Anton Lehmann machte sich also mit einem seiner Söhne auf, in der nahegelegenen Gaststätte „Union“ einen Kasten Bier zu besorgen. Es kam zum Streit. Dabei soll der Satz gefallen sein: „Ihr dreckigen Zigeuner gehört vergast.“ Aufgewühlt und aufgebracht gingen die Lehmanns zurück zum Gelände des Großvaters. Inzwischen hatte die Wirtin die Polizei verständigt.

 

Das martialische Polizeiaufgebot, das für die anstehende simple Personenüberprüfung und einen Alkoholtest völlig überdimensioniert war, zog gleich die Gummiknüppel. Was sicher nichts zur Beschwichtigung der Lage beitrug. Im Gegenteil: Die Lehmanns sahen in den Polizisten das Abbild der Nazis, die sie jahrelang verfolgt und bedroht hatten. Der später erschossene Anton Lehmann hatte noch versucht zu argumentieren und einem Polizisten zugerufen:

 

„Du Dreckspatz, junger Rotzer, du hörst mir ja gar nicht zu, wenn ich dir die Sache erzähle! Ihr seid Nazischweine!“

 

Der Streit eskalierte. Die Sinti setzten sich zur Wehr. Ein Polizist reagierte tödlich, erinnert sich Johann Lehmann, Neffe seines getöteten Onkels.: „Und dann haben sie sich wegen dem Pfand, was weiß ich, wegen dem Flaschenbier, ein Wort nach dem anderen, dann sind die immer aggressiver geworden. Und der eine davon hat gleich die Kanone rausgenommen und hat gleich angefangen zu schießen. Bei uns zu Hause. Wir waren bei meinem Großvater zu Hause. Da ging es dann schon los.“

 

 

Ohne auch nur einen Warnschuss abzugeben schoss der Polizist sein ganzes Magazin leer. Acht Schüsse feuerte er wild in der Gegend herum, vier davon trafen Anton Lehmann tödlich. Weitere verletzten drei seiner Söhne teils schwer. Einen Tag später verkündete die Staatsanwaltschaft, der Polizist habe in Notwehr gehandelt. Zu einem Zeitpunkt, als die Ermittlungen gerade erst begannen, noch kein Roma als Zeuge gehört worden war.

 

Nicht etwa der Todesschütze wurde angeklagt und zur Rechenschaft gezogen. Vielmehr wurden die zum Teil schwer verletzten Söhne des erschossenen Sinto Anton Lehmann ein Jahr später vor Gericht wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und Raufhandels teils zu Haftstrafen verurteilt.

 

Was an diesem Tag geschah, hatte nicht nur juristische Folgen. Im heutigen Jargon ausgedrückt löste der Todesschuss auf Anton Lehmann einen wahren Shitstorm aus. Zum ersten Mal gingen Sinti und Roma auf die Straße, demonstrierten in der Heidelberger Altstadt für ihre Rechte, hielten Plakate hoch auf denen stand: „Sind wir Zigeuner vogelfrei?“  oder „Sind wir Zigeuner Menschen zweiter Klasse“.

 

Bis heute ist die Heidelberger Familie Lehmann traumatisiert. Außer dem Neffen des Erschossenen geht niemand mit seiner Version des Geschehenen an die Öffentlichkeit.  Anton Lehmann erklärt es sich so:

„Innerhalb der Familie war das so, die haben nit drüber geredet, weil es hat so arg weh getan. Bin der einzige, der die Kraft hat. Die halten das nicht aus.“

 

Hamburg

 

  1. November 1960. Samstagvormittag. Im Laden von Schlachtermeister Kröger wartet Kundschaft. Hinter der Theke bedient der Chef selbst. Die Metzgerei liegt in der Hamburger Vorstadt Niendorf, ganz in der Nähe eines Wohnlagers, in dem unter anderem aus Polen erst kürzlich geflüchtete Roma untergebracht sind.

 

Es gab damals viele Wohnwagenplätze in Hamburg. Der in Niendorf war nicht großartig anders. Wenn Einer Glück hatte, dann hat er einen Bauwagen gehabt. Sonst alte Busse, die kaputt waren. Es waren auch nicht nur Roma drauf, es waren auch Ausgebombte“; so Rudko Kawczynski, Vorsitzender der Roma- und Cinti-Union in Hamburg.

 

An jenem Samstagvormittag im November 1960 jedenfalls betreten der 27-jährige Roma Joska Czori und sein 26 Jahre alter Schwager Karol Kwiek die Metzgerei in Niendorf. Sie scheinen sich vorgedrängelt zu haben, wirken angetrunken, so berichten Kunden später. Es entsteht Unruhe. Irgendjemand ruft die Polizei. Um 11 Uhr 15 geht von der Hamburger Polizeizentrale folgender Einsatzbefehl raus.

Hamburg-Niendorf, Garstedter Weg 270, Schlachterei K., polizeiliche Hilfe. Es handelt sich um Zigeuner.“

 

 Sollte der Hinweis darauf, dass es sich um Zigeuner handelte, eine Warnung sein? Jedenfalls lief der Einsatz von Anfang an schief. Schon der Funkspruch ließ Eskalation erwarten.

 

Entsprechend eingestimmt treffen zwei Polizeibeamte in ihrem Streifenwagen vor Ort ein. Wie es im späteren Einsatzprotokoll heißt, ist da schon „eine Massenschlägerei im Gange“. Das Ganze gerät aus dem Ruder. Irgendwann im Verlauf der Auseinandersetzung zückt ein Polizist seine Waffe und erschießt die beiden jungen Männer.

 

Kawczynski erklärt das so: „Es ist ganz schnell gegangen. Die sind gerufen worden, ich geh mal davon aus, dass man gesagt hat, hier überfallen Zigeuner den Laden. Und die Polizei ist gleich darauf mit Waffen und auf die Leute geschossen. Haben sich wohl auch bedroht gefühlt. Und daraus ist ‚ne Situation entstanden, wo ein Polizist überreagiert hat.

 

Bei der Einschätzung dessen, was geschehen war, standen sich anschließend zwei unterschiedliche Positionen gegenüber: Für die Ermittler war es Notwehr, aus der heraus die Schüsse fielen. Für die Roma war es Mord – und bleibt es bis heute.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Hagen

 

Der Hamburger Kaufmann Karl Mettbach war am 8. Mai 1979 zu Besuch auf dem Hof seines Kumpels Bodo Menzel, in der Nähe von Hagen. Menzel, verheiratet mit einer Sinti, war der hiesigen Polizei schon lange ein Dorn im Auge. Den Besucher hatten die Polizisten ebenfalls im Visier. Sie hatten den Hinweis bekommen, sein Opel sei als gestohlen gemeldet.

 

Als Karl Mettbach mit seiner Tochter Ramona in dem Commodore abends so gegen 23 Uhr vom Hof des Bodo Menzel aufbrach, verfolgten ihn zwei Streifenwagen. Mettbach gab Gas und fuhr zurück zu den Menzels. Inzwischen fuhren drei Polizeiwagen hinter ihm her auf das Grundstück. Für das, was nun geschah, gibt es einen direkten Zeugen: Bodo Menzel, dem der Hof gehörte, auf dem der Hamburger Kaufmann Karl Mettbach einer Hinrichtung gleich erschossen wurde. Veröffentlicht wurde seine Zeugenaussage zuerst in der Zeitschrift „Pogrom“ von Oktober 1979, herausgegeben von der „Gesellschaft für bedrohte Völker“. Später berichtete auch der „Stern“ hireüber. Bodo Menzel beschreibt darin, wie Karl Mettbach erschossen wurde.

 

 „Von hinten nicht, von vorne. Der Mann ist bei uns vor den Pferdestall gefahren, drei Wagen haben ihn verfolgt. Karl Mettbach saß noch am Steuer. Zwei Beamte sind rechts und links neben den Wagen gesprungen und haben gesagt, er solle mit erhobenen Händen aus dem Wagen steigen. Das hat er auch gemacht. Der eine Polizist ist zu ihm gegangen und hat ihn von hinten abgetastet, ob er Waffen hat. Wir hatten vorher noch zusammen Kaffee getrunken und Abendbrot gegessen. Der Polizist, der vor ihm stand, sagte dann, er solle sich langsam umdrehen. Als er sich umdrehte, schoss er ihn von vorne rechts in die Stirn, in die Schläfe. Aus anderthalb Meter Entfernung. Das war direkt Mord!.“

 

Über dem polizeilichen Todesschützen wusste Menzel nur, dass der auch drei Tage später noch im Dienst war. Von einem Ermittlungsverfahren gegen diesen Polizisten habe er nie etwas gehört.

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Bayern

 

Über Paul Kirsch war nur sehr wenig zu erfahren. Zu lange lag die Tat zurück. Die einzige noch lebende Person, eine Verwandte, war zur Zeit der Recherche schwer erkrankt und daher leider nicht ansprechbar. Deshalb kann der Streit, in dessen Verlauf der tödliche Schuss fiel, nur noch rudimentär nachvollzogen werden.

Eine der wenigen Erinnerungen an den jungen Mann findet sich beim Standesamt in Neustadt a.d. Donau. Dort heißt es in einem Eintrag:

„27. Juli 1950 Scherenschleifer Paul Kirsch, katholisch, ohne festen Wohnsitz, ist am 25. Juli 1950 um 19 Uhr 30 verstorben. Geb. 15. Januar 1927 in Oboli / Tschechoslowakei. Über die Eltern konnten keine Angaben gemacht werden. Todesursache: Kopfschuss. „

Der Bürgermeister von Neustadt a.d. Donau informierte am 23. November 1950 das Zentralamt für Kriminal-Identifizierung und Polizeistatistik des Landes Bayern über den Sterbebuch-Eintrag zu Paul Kirsch, der da lautet:

„Kirsch wurde bei einer Schlägerei mit der hiesigen Polizei von einem Polizisten erschossen.“

Am aufschlussreichsten waren die Recherchen des Neustädter Stadtarchivars Anton Metzger, der mir am 17. Dezember 2019 folgendes schrieb:

„Der von Ihnen geschilderte Vorfall ereignete sich am 25. Juli 1950 vor dem Gasthof Attenberger in Neustadt a.d. Donau. Laut Pressebericht im damaligen Altmühlboten vom 20. Juli 1950 wurde die Polizei von dem Gastwirt zu Hilfe gerufen, in dessen Wirtschaft eine Gruppe Landfahrer zechte. Beim Eintreffen der Polizei kam es zu einem Handgemenge mit den zum Teil stark angetrunkenen Landfahrern. Während dessen Verlauf wurde einem Polizisten der geladene

Karabiner entrissen. Als der Landfahrer Paul Kirsch den Karabiner durchlud und auf einen zweiten Polizisten zielte, erschoss ihn dieser durch einen Kopfschuss. Anstatt nun Ruhe zu geben, bewaffneten sich die Landfahrer mit Steinen und Knüppeln und gingen abermals auf die Polizisten los, die sich, um ein weiteres Handgemenge zu vermeiden, in die Polizeistation zurückzogen. Nach dem ‚Angriff’ der Zivilisten, dem noch ein Fahrrad, ein Fahrradständer und mehrere Fensterscheiben der Station zum Opfer gefallen waren, hatte die Landpolizei vier der Anführer festgenommen und lieferte sie noch in der gleichen Nacht ins Amtsgerichtsgefängnis Kelheim ein. Auf Grund der Brisanz des Falles wurden die weiteren Ermittlungen nicht mehr vom zuständigen Amtsgericht Abensberg sondern von der Kriminal-Außenstelle Regensburg bearbeitet.“

 

 

Der Archivar bemühte sich auch darum, Zeugen des damaligen Geschehens ausfindig zu machen: „Selbst die ältesten Bürger von Neustadt a.d. Donau mit über 90 Jahren können sich zwar an den Vorfall erinnern, aber keine konkreten Aussagen treffen, weil sie die Rauferei nicht persönlich miterlebten. Laut Aussage eines Zeitzeugen, der als Vierzehnjähriger nach der Tat die Menschenansammlung vor der Gaststätte sah, soll der Zigeuner den Polizisten angegriffen haben, so dass ihn dieser in Notwehr erschossen hat. Bei dem Polizisten soll es sich um den Wachtmeister der Landpolizei, Johann A. gehandelt haben.“

 

Mit einer Verwandten von Paul Kirsch telefonierte ich am 27. Februar 2020. Sie sagte: „Paul Kirsch war der Cousin meiner Mutter. Alles was ich sage, weiß ich durch Erzählungen meiner 93jährigen Mutter und einer Tante.“ Ich sprach sie auf die Presseberichte an, wonach die beteiligten Männer betrunken gewesen sein sollen. Das wies sie vehement als falsch zurück und sagte:

„Nein, nein, das stimmt nicht. Die haben Kegel gespielt. Es waren Einige. Ein Junge, zwischen 12 und 14 Jahren alt, hat die Kegel aufgestellt. Das ging ja damals noch nicht automatisch. Paul Kirsch war 23 Jahre alt. Er war beim Kegeln gar nicht dabei. Er wollte seinen Onkel besuchen. Jemand hat ihn angesprochen, er solle doch kurz reinkommen. Paul Kirsch wollte erst nicht, tat es dann doch, machte aber klar, dass er nicht mitspielen werde, weil er ja seinen Onkel besuchen wolle. Kurz darauf brach ein Streit aus. Es ging um die Kegel. Irgendwas wie, dass sie falsch aufgestellt worden sein sollen. Jemand hatte die Polizei gerufen. Die kam dann. Zu dem Zeitpunkt wollte Paul Kirsch gehen. Ist dann raus. War vor dem Lokal. Ein Polizist stand ihm plötzlich gegenüber, zog eine Pistole. Paul Kirsch wollte sie ihm entreißen. Und da hat der Andere geschossen. Genauso ist es mir erzählt worden. Paul Kirsch kam aus der Tschechoslowakei, war verheiratet. Er war in Auschwitz gewesen, nach allem was ich weiß. Meine Mutter sagte häufig: ‚Er hat mehrere KZs und auch Auschwitz überlebt und dann muss ihm das widerfahren.’“

Ob jemals gegen den Polizeischützen ermittelt wurde, konnte ich nicht feststellen.

 

Aber einer Nachricht in der Mittelbayerischen Zeitung vom 2. November 1950 ist zu entnehmen, dass drei der an dem Streit beteiligten Roma angeklagt und zwei auch verurteilt worden waren: Zwei Roma, ein Artist und ein Scherenschleifer, wurden zu fünf beziehungsweise drei Monaten Gefängnis wegen „Volltrunkenheit“ verurteilt. Der dritte Angeklagte wurde mangels Beweise für seine Teilnahme an der „Rauferei“ freigesprochen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Beispiel Heidelberg Lehmann / Schlussfolgerungen nach der Recherche

 

Bei näherer Betrachtung dessen, was am 31. Mai 1973 in Heidelberg geschah, wird schnell klar, wieviel die rasante Eskalation damit zu tun hatte, dass sich der polizeiliche Einsatz gegen Sinti richtete.

 

Nicht nur, dass sich Angehörige der Familie Lehmann durch rassistische Beschimpfungen und Angriffe in der Gaststätte diskriminiert fühlten und entsprechend erregt waren. Als dann auch noch das zum Haus der Lehmanns geschickte, für eine simple Personenüberprüfung und einen Alkoholtest überdimensionierte Polizeiaufgebot entsprechend bedrohlich auftrat und „gleich den Gummiknüppel“ zog“, trug dies nichts zur Beschwichtigung der Lage bei. Im Gegenteil: Die Lehmanns sahen in den Polizisten das Abbild der Nazis, die sie jahrelang verfolgt und bedroht hatten.

 

Umso unverständlicher ist daher die Einschätzung der Justiz im späteren Strafprozess gegen drei Söhne des erschossenen Anton Lehmann, die Familie habe das Erscheinen von fünf Polizeibeamten in ihrem Vorgarten als eine Provokation

 

empfunden, obgleich dafür nicht der geringste Anlass

bestanden habe. Diese Behauptung zeigt, dass die Richter die Verfolgungsgeschichte dieser Familie sowie den Genozid an Sinti und Roma während des Nationalsozialismus in keiner Weise in ihre Betrachtung einbezogen. Denn vor diesem Hintergrund bestand für die Familie durchaus Anlass, sich vor einem solchen Polizeiaufgebot zu fürchten und dagegen zu wehren.

 

 

Die auf die Tat folgende Presseberichterstattung war geprägt von verhalten bis offen geäußerten rassistischen Zuschreibungen gegenüber den Lehmanns. Immer wieder wurde in der Lokalpresse darauf hingewiesen, dass es sich bei ihnen um „Zigeuner“, um eine „Sippe“ handele. Die Stimmung wurde zusätzlich angeheizt durch die am folgenden Tag öffentlich geäußerte Ansicht der Staatsanwaltschaft, der Polizist, der Anton Lehmann erschoss und weitere Personen verletzte, habe durch Angriffe der „Zigeuner“ einen Schädelbruch erlitten, wie die Lokalpresse übereinstimmend berichtete.

 

Das erwies sich später als falsch. Außerdem hieß es vorschnell, der Beamte habe in Notwehr gehandelt, was allerdings einen Tag nach dem Vorfall noch niemand wissen konnte, da Ermittlungen gerade erst aufgenommen worden waren.

 

Das Absurde und Skandalträchtige an diesem Fall ist allerdings nicht nur die Tatsache, dass ein Polizist acht Schüsse aus seiner Dienstpistole abgab, ohne zunächst auch nur einen Warnschuss abzufeuern. Was das Ereignis vom 31. Mai 1973 noch ungeheuerlicher macht ist die sich anschließende juristische Aufarbeitung.

 

Nicht etwa der Todesschütze wurde angeklagt und zur Rechenschaft gezogen. Vielmehr wurden die zum Teil schwer verletzten Söhne des erschossenen Sinto Anton Lehmann ein Jahr später vor Gericht wegen Widerstands gegen die

Staatsgewalt in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und Raufhandels zu teils mehrjährigen Haftstrafen verurteilt.

 

Das Verhalten der Söhne, so geht aus der schriftlichen Urteilsbegründung des Landgerichts Heidelberg hervor, habe den tätlich mit einer Schaufel angegriffenen

Polizisten so verängstigt und provoziert, dass der nicht anders konnte als sich durch acht Schüsse zu wehren. Somit also sein ganzes Magazin leer zu feuern. Aus Notwehr – wie die Strafrichter und auch die Staatsanwaltschaft dem Polizeibeamten zubilligten. Folgerichtig wurde das gegen den Polizeischützen eingeleitete Ermittlungsverfahren eingestellt.

 

In ihrer Einstellungsverfügung bezeichnete die Staatsanwaltschaft den Erschossenen als den „tödlich verunglückten“ Anton Lehmann. Eine Formulierung, dazu angetan, den Tathergang zu beschönigen, die Schüsse herunterzuspielen und Verständnis für den Polizeischützen aufzubringen.

 

Urteil und Einstellungsverfügung machen deutlich, dass weder Staatsanwaltschaft noch Richter den Lehmanns glaubten, sondern sich stattdessen ausschließlich auf die Aussagen der Polizisten stützten. Die Strafkammer zum Beispiel war davon überzeugt, dass die Lehmanns im Zeugenstand und als Angeklagte „nach Kräften bemüht waren, ihre Beteiligung an den Tätlichkeiten zu verharmlosen und zu verschleiern.“ Den Polizisten hingegen wurde attestiert, ihre Aussagen würden keinerlei Widersprüche aufweisen. Somit bestehe nicht der geringste Zweifel, dass sie bemüht wären, nichts zu beschönigen, sondern sich an den Tatsachen orientierten. Die Strafkammer folgt hier einseitig den Darstellungen der Polizisten, die ein großes Interesse daran hatten, die Schüsse des Kollegen in für ihn besonders günstigem Licht darzustellen.

Alles in allem waren die Lehmanns angesichts der Geschlossenheit von Polizei und Justiz von vornherein im Nachteil. Sowohl gegenüber der bedrohlich auf sie wirkenden Polizei, gegen die sie sich mit Latten und Schaufeln glaubten, zur Wehr setzen zu müssen, als auch gegenüber der Justiz, die von Anfang an in den Lehmanns die Verursacher der tödlichen Schüsse sah. Während der Polizeischütze insgesamt auf Zustimmung und Verständnis stieß und von einer justiziellen Verfolgung verschont blieb.

 

Die Darstellung in der Lokalpresse und aus Sicht der Staatsanwaltschaft25

Schon in der Lokalberichterstattung finden sich unmittelbar nach den Schüssen rassistische Darstellungen gegenüber den betroffenen Sinti. So heißt es über drei Vertreter des „Verbands deutscher Cinti“, die an einer Pressekonferenz gleich nach den tödlichen Schüssen teilgenommen hatten: „Alle drei gaben sich höflich.“ Eine Formulierung, die unterschwellig beinhaltet, dass die Drei Höflichkeit nur simulierten, in Wirklichkeit aber verschlagen seien.

 

Der Polizist, der die tödlichen Schüsse abgab, wird hingegen verständnisvoll als „junger Polizeibeamter“ beschrieben. Wobei das Attribut „jung“ auch darauf anspielt, er sei unerfahren, naiv, überfordert gewesen. „Schwer verletzt, unter anderem mit einem Schädelbruch durch Schläge mit einem Spaten“, liege er „in der Klinik und ist noch nicht vernehmungsfähig“, schrieb die Rhein-Neckar-Zeitung weiter.

 

Protest der Bürgerrechtsbewegung

Ausgelöst durch den Tod von Anton Lehmann gingen am 18. Juni 1973 zum ersten Mal Sinti und Roma in der Bundesrepublik auf die Straße. „Mit schwarzen Fahnen an der Spitze marschierte ein kleiner Zug von knapp 100 Zigeunern durch Heidelberg. Der Schweigemarsch sollte der Protest darauf sein, dass vor zwei Wochen der 53jährige Zigeuner Anton Lehmann bei Auseinandersetzungen mit der Polizei von einem 23-jährigen Wachtmeister erschossen worden ist.

 

Auf Transparenten hieß es: „Sind wir Zigeuner vogelfrei?“. oder „Sind wir Zigeuner Menschen zweiter Klasse?“ Der Protest richtete sich aber auch dagegen, „dass wir wie die Hasen einfach abgeknallt werden.“

 

Vinzenz Rose, damals Vorsitzender des „Verbandes deutscher Cinti“, appellierte an die Angehörigen der Sinti und Roma, zusammen zu halten. Was in Heidelberg den Lehmanns passiert sei, sei ein Beispiel dafür, „wie es uns geht. Die Schüsse von  Heidelberg haben jeden von uns getroffen; es ist höchste Zeit, uns zusammenzuschließen‘.“

 

In seiner Rede auf der Demonstration fragte Rose nun in aller Öffentlichkeit: „Wer von uns kann schon sagen, dass er auf jedem Campingplatz zelten darf, wer von uns kann sagen, dass er die Wiedergutmachung erhalten hat, wer kann sagen, dass er behandelt wird, wie jeder andere Deutsche? Und weiter: „Wir wollen keine Rache, wir wollen Gerechtigkeit. Wir wollen erreichen, dass auch Zigeuner endlich als das angesehen und behandelt werden, was sie sind: deutsche Staatsbürger – mit allen Pflichten, aber auch mit allen Rechten.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ergebnis der Recherche

Was ist nun das Ergebnis dieser Recherche? Sind die tödlichen Schüsse auf Sinti und Roma Zeugnis für Antiziganismus jener Zeit?

 

Ja, das sind sie. Auch wenn die Antwort im Detail erst bei genauerem Hinsehen ersichtlich wird und sich dieser Rückschluss nur im Kontext dessen ergibt, was vorher und nachher geschah und wie der Zeitgeist das Geschehen prägte. Allein der tödliche Schuss auf Karl Mettbach, soweit er rekonstruiert werden konnte, kommt für mich fast einer standrechtlichen Erschießung gleich. In allen anderen Fällen gab es Auseinandersetzungen, Schlägereien, ein unübersichtliches Durcheinander. An dessen Ende standen sich dann Aussage gegen Aussage gegenüber.

Was bleibt, sind zahlreiche Fragen:

  • Warum schoss ein Polizist, der sich bedrängt fühlte, gleich sein ganzes Magazin leer, tötete einen Menschen und verletzte andere schwer? Hätte da nicht ein Warnschuss genügt?
  • Warum wurden die Ermittlungen gegen diesen Polizisten eingestellt, drei seiner verletzten Opfer aber angeklagt und verurteilt?
  • Waren die damaligen Schüsse auf zwei Hamburger Roma lediglich unglückselige Begleiterscheinungen eines schiefgelaufenen Disputs in einer Metzgerei? Handelte es sich hierbei um eine Ausnahme? Oder saß bei den Ordnungshütern der Nachkriegszeit der Colt besonders locker, sobald sie es mit sogenannten Zigeunern zu tun bekamen?
  • Warum endete ein Streit um Pfand für einen Kasten Bier, eine Auseinandersetzung wegen des Vordrängelns in einem Metzgerladen oder ein

Disput um das Aufstellen von Kegeln in einer Gastwirtschaft mit tödlichen Schüssen aus Polizeiwaffen? Lag es daran, dass die Gegenüber der Polizisten Roma oder Sinto waren?

  • Wäre die Polizei ebenso martialisch, wie sie es in den meisten der von mir recherchierten Fälle tat, auch in anderen Zusammenhängen aufgetreten?
  • Hatte dies womöglich etwas damit zu tun, dass sie schon vor ihrem Einsatz von Kollegen in Alarmbereitschaft versetzt worden waren durch den Hinweis, es handele sich um „Zigeuner“? Kann es sein, dass sie sich daraufhin entsprechend wappneten? Aus Angst, Unsicherheit, Rassenhass?
  • Glaubte man gegenüber Sinti und Roma zu schärferen Mitteln und Maßnahmen greifen zu müssen, um einen Einsatz erfolgreich durchzuführen?
  • Wie traumatisch waren die Ereignisse für die Angehörigen der Erschossenen und welche Rolle spielt es dabei, dass die Taten nicht bzw. in den Augen der Sinti und Roma nur unzureichend juristisch verfolgt und geahndet worden sind?

Auffällig ist, wie schnell nach den Todessschüssen Polizei und Staatsanwaltschaft öffentlich kundtaten: Der Polizist schoss in Notwehr. Meist wurde dies schon einen Tag nach den Schüssen verkündet, also noch bevor die Ermittlungen richtig aufgenommen, beteiligte Sinti oder Roma überhaupt gehört worden waren. Und wenn man die Betroffenen Tage später vernahm, dann geht aus den Ermittlungsakten klar hervor, wie wenig man ihnen glaubte. Sie hatten keine Chance, mit ihrer Version der Geschehnisse Gehör zu finden.

 

 

 

 

 

 

 

Konsequenzen

Rudko Kawczynski berichtete, dass die Schüsse in Hamburg Niendorf einen Einschnitt markierten:

„Das war ja sozusagen der Auftakt. Danach begann man massiv mit Romaverfolgung. Ständig Polizeikontrollen gehabt. Es war eine weitergehende Zigeunerverfolgung, bloß dass es Auschwitz nicht gab. […] Die Menschen wurden willkürlich festgenommen, es gab willkürliche Hausdurchsuchungen.  Ich kann mich noch daran erinnern, wie schwierig das war überhaupt an den Schulen. Weil, man wurde dann gleich abgestempelt, Sonderschule. Es hat nicht aufgehört. Das kann man sich gar nicht vorstellen, heutzutage, dass es keinen Bruch gab ’45.

Ich habe bis heute noch eine Manie. Ich bewahre ständig Quittungen auf. Für alles. Wurde man angehalten, hatte eine Jacke im Wagen gehabt. Quittung. Keine Quittung − gestohlen. […] Ich kann mich erinnern, 1961 ist meine Großmutter gestorben. Sind viele Menschen angereist, und da kam Polizei, damals hieß das Überfallkommando. Mit einem Lastwagen angekommen, runtergesprungen, rein in die Wohnungen, und die sind darein gestürmt, haben die Leute an die Wand gestellt. Es war fürchterlich. Und meine Großmutter lag da im Sarg. Daran kann ich mich noch erinnern als kleines Kind.  Das kenne ich aus vielen anderen Situationen.  So bin ich aufgewachsen.“

 

 

Und nun?

 

Anfang 2021 wurde ein 11-jähriger Sinto in Singen bei Konstanz mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt und abgeführt, nur weil er ein Taschenmesser bei sich trug. Aus Baden Württemberg war zu hören, dass Polizei bei einer Ruhrstörung durch eine Geburtstagsfeier mit 14 Einsatzfahrzeugen und fünf Hunden angerückt ist. Und bei Ermittlungsbehörden ist nicht ausgeschlossen, dass Sinti und Roma durch Vermerke wie „reisender Täter“, Südosteuropäer“ oder HWAO = häufig wechselnder Aufenthaltsort markiert werden.

 

E N D E