Laudatio auf Heinrich Hannover
Laudatio für Heinrich Hannover
Von Ingrid Müller-Münch
Anläßlich der Verleihung des Hans-Litten-Preises der Vereinigung Demokratischer Jurstinnen und Juristen e.V. am 4.10.08, 18.30 Uhr, in den Räumen von Ver.di in Berlin
O-tibbele-tabbele-tobbele-teer,
Es war einmal ein kleiner Bär.
Der hat’ seine Brille vergessen
Und hätt’ doch so gern was gefressen.
Da sah er – o-trippele-traum-
Im Garten den hohen Baum.
Er dachte – o-kippele-kirnen-:
„Der Baum hängt bestimmt voller Birnen.“
O-wibbele-wabbele-wettern,
Und so fing der Bär an zu klettern.
Doch- o-tibbele-tabbele-tirke –
Der Baum, der war leider ‚ne Birke.
Der Mann, aus dessen Feder dieses Kindergedicht über den kurzsichtigen Bären stammt, dieser Mann gibt einfach keine Ruhe. Ob neulich erst auf der Tanzfläche, auf der er mich mit seinen 82 Jahren so herumwirbelte, dass mir schier der Atem stockte. Oder vor einiger Zeit, als ich ihn zu Hause in Worpswede telefonisch zu erreichen versuchte, schon glaubte, ihm sei etwas geschehen, weil nie jemand abhob. Um dann zu erfahren, dass er stundenlang mit seiner geliebten Doris zu Fahrradtouren unterwegs war.
Heinrich Hannover reist noch immer quer durch die Republik. Nicht mehr zu Prozessen. Die Zeit ist längst vorbei. Aber zum Beispiel ins Kölner Humboldtgymnasium, wo er mit einem Jugendfreund in der Klasse eines seiner Enkel über die gemeinsame Kindheit im Vorpommerschen Anklam plauderte. Über die Zeit damals, als die Jungvolkdevise lautete: „Zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl und flink wie die Windhunde“; die bürgerliche Welt des 1925 Geborenen langsam anfing zu bröckeln, und sein Vater, Chefarzt im städtischen Krankenhaus, dafür sorgte, dass die Putzfrau, deren Mann Kommunist war, aus der Haft der Nazis wieder entlassen wurde.
Ja, „eine gewisse Liberalität herrschte schon in unserem Haus“, daran kann sich Heinrich Hannover gut erinnern. Auch wenn der Vater gleich nach ‚33 in NSDAP und SS eingetreten war. Der Drill des Jungvolkes, in das ihn seine Eltern drängten, Rechtsrum, Linksrum, war so gar nicht nach dem Geschmack des jungen Heinrich. Ganz entgegen den Ratschlägen des Vaters, der ihn stets ermahnte: „Jung, das ist Deine Zukunft“. Besorgt erkundigten sich die Eltern schonmal aus dem Urlaub: „Gehst Du auch zum Dienst?
Nein, er ging nicht zum Dienst. Jedenfalls nicht freiwillig. Als sie ihn dann doch einzogen, 1943, in den Arbeitsdienst, später dann – nur weil er Förster werden wollte – in die Division Hermann Görings, des Reichsforstmeisters, da lernte er den Krieg kennen. 1944 kam er zum Fronteinsatz nach Italien und wurde bald schon mit einer Lungenentzündung ins Lazarett eingeliefert. Seine Kriegserlebnisse haben aus ihm einen lebenslangen Pazifisten gemacht. Der Freitod seiner Eltern 1945, aus Angst vor einer möglichen Internierung durch die Russen, hat ihn darin noch bestärkt.
„Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus“ lautet seither seine Lebensdevise. In einer Art Zwischenbilanz als Strafverteidiger schrieb er 1978: „Im Mai 1945, als das Hitlerreich zusammenbrach, war ich 19 Jahre alt. Ich gehörte also zu denen, die noch umlernen konnten.“ Er war, so seine Worte, vor seinem 19. Lebensjahr ein anderer Mensch gewesen als danach.
Jurist wurde er aus Verlegenheit. Eigentlich wollte er in die höhere Forstlaufbahn, doch das klappte nicht, in den Wirren der Nachkriegszeit. „Und was wird man, wenn man nichts anderes werden kann: Mann wird Jurist“, schrieb er einmal, und wer das heute liest spürt förmlich sein Schmunzeln bei diesen Worten. Seine Vorbilder wurden der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer und der Politikwissenschaftler Wolfgang Abendroth.
Nach dem Jurastudium zerschlugen sich bald seine Vorstellungen von bürgerlicher Karriere und gewinnträchtigen Mandanten. Gleich mit seiner ersten Verteidigung setzte er sich ins Wespennest: 1954, soeben erst als Anwalt zugelassen, stritt er für einen Kommunisten, der wegen Landfriedensbruch vor Gericht stand. Ein Mandat, das er „mit dem Gefühl übernommen hatte, als Verteidiger musst du unter Umständen Mörder und Sittlichkeitsverbrecher verteidigen, warum nicht einen Kommunisten“, erinnert er sich.
Der Ablauf des Prozesses war für ihn ein Beispiel politischer Vorverurteilung, von denen er noch viele im Gerichtssaal erleben sollte – bei seinen Auftritten als Nebenkläger in Naziprozessen, bei seiner terroristischen Mandantschaft in den 70er Jahren. Günter Wallraff, Ulrike Meinhof und Otto Schily gehörten zu seinen Mandanten. Er war Anwalt der kleinen Leute ebenso wie der von Kollegen, die in der Hysterie der Terroristenfahndung Ende der 70er Jahre ins Kreuzfeuer der Strafverfolger geraten waren. Damals schlug er sich mit den Spitzenmanagern deutscher Großbanken vor Gericht herum. Er versuchte vergeblich, Hermann Josef Abs als Zeugen für die Verstrickung bestimmter deutscher Geldinstitute in die Verbrechen der Nationalsozialisten vor Gericht zu zitieren. Eine damals heftig unterdrückte Wahrheit, heute allgemein bekannt.
Später verteidigte er Richter, die vor Mutlangen demonstriert hatten, oder kämpfte dagegen, dass deutsch-deutscher Landesverrat mit zweierlei Maßstäben gemessen wurde – je nachdem, ob er sich gegen den Westen oder den Osten gerichtet hatte. In Gerichtssälen lernte er den sanften Umgang der Justiz mit Naziverbrechern kennen. Leidenschaftlich konterte er juristische Spitzfindigkeiten, mit denen das Wiederaufnahmeverfahren in Sachen Carl von Ossietzky verhindert werden sollte. Er kämpfte gegen bornierte Richter, sture Staatsanwälte, eine zu seiner Zeit noch durch eine braune Tradition verdorbene Justiz.
Stolz erinnert er sich, dass er wohl über 1.000 Kriegsdienstverweigerer vertreten hat. „Das hat die Bundeswehr einen kleinen Panzer gekostet“, gestand er mir kürzlich und dabei lächelte er verschmitzt. Die musste nämlich, wenn sie den Prozess verlor, sein Honorar bezahlen.
Seine Anwaltstätigkeit hat ihn einiges gelehrt: Zum Beispiel, dass es vor Gericht nicht unbedingt um Gerechtigkeit geht, sondern nur um Recht. Und dass Beides, Gerechtigkeit und Recht, nicht unbedingt das gleiche sein müssen. Außerdem begriff er bald schon, dass nicht jeder, dem Unrecht getan wird, dies durch die Justiz wieder ins rechte Lot gerückt bekommt.
So hat er im Laufe seiner Anwaltspraxis vielen Menschen ausreden müssen, sich gegen prügelnde und übergriffige Polizeibeamte mit Strafanzeigen zu wehren. Weil ihm das Muster, nachdem solche Verfahren abzulaufen pflegten, irgendwann zur Genüge bekannt war. Polizeibeamte haben , das wurde ihm zu seinem Leidwesen immer wieder bestätigt, bei deutschen Gerichten einen kaum einholbaren Glaubwürdigkeitsvorsprung, gleichviel ob sie als Zeugen oder als Beschuldigte auftreten.
Heinrich Hannover hat den unbequemen Weg gewählt. Den Weg, der ihn nicht beliebt machte, ihm dafür aber Achtung einbrachte. Er musste sich immer wieder beschimpfen lassen. Von rechts ebenso wie von links. „Solche Leute sind zum Kotzen!“ schrieb ein wütender Leser, auf ihn gemünzt. Ein anderes mal wetterte jemand: „Gegen die Kapitalisten hilft nur die Revolution, gegen die Bolschewisten nur die Anarchie, gegen Heinrich Hannover erst mal nur Prügel“. Seine Familie wurde durch Drohanrufe terrorisiert. Man beschimpfte ihn als „Apo-Anwalt“ und „Terroristen-Verteidiger“.
Und inmitten dieser Schmäh stand er da vor Gericht – ich habe es oft genug erlebt – aufrecht, wirkte ganz wie ein Gentleman der alten Schule, der Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit ebenso verpflichtet wie seinen Mandanten. Und niemand hätte es gewagt, sich ihm schulterklopfend, kumpelhaft, anbiedernd zu nähern. Das war nicht sein Stil. Stattdessen war er zugewandt, aufmerksam, höflich und zuvorkommend, von vornehmer Gradlinigkeit.
Als zeitweiliger Anwalt von Ulrike Meinhof musste er demütigende körperliche Durchsuchungen über sich ergehen lassen, bevor er mit seiner Mandantin reden konnte. Es war für ihn, so notierte er hierüber in seinen Memoiren,
„eine neue, verstörende Erfahrung, als Angehöriger eines Berufsstandes, der ein hohes Sozialprestige genießt, und in dem sicheren Bewusstsein, alle Berufspflichten gewissenhaft beachtet zu haben, plötzlich als potentieller Verbrechenskomplize behandelt und diffamiert zu werden.“
Wer ihn kennt, weiß, wie sehr ihn dieser Umgang empört, ja geradezu fassungslos gemacht haben muss. Als ihn dann 1972 die Springer-Presse in einer regelrechten Hetzkampagne zu den „45 namentlich bekannten linksradikalen Anwälten“ zählte ,die Sprengstoff und andere der Ausübung von Straftaten dienende Gegenstände transportiert und Kassiber in die Zellen der RAF-Häftlinge geschmuggelt hätten, platzte ihm der Kragen. „Nichts davon ist je bewiesen worden, es war schlicht gelogen“, polterte er.
Irgendwann damals reichte es ihm. Er stellte Strafanzeige wegen Volksverhetzung gegen den Verleger Axel Cäsar Springer bei der Staatsanwaltschaft Hamburg. Und zwar am 12. Juni 1972 – drei Tage vor Ulrike Meinhofs Festnahme. In einer aufgeputschten Atmosphäre, an die sich sicherlich noch Einige hier im Saal erinnern werden, die allerdings später Geborene sich kaum noch vorstellen können. Seine Anzeige verlief im Sande, wie hätte es auch damals anders sein können.
Es war die Zeit, in der Anwälte, deren Mandanten dem linken politischen Spektrum angehörten oder die in sogenannten RAF-Prozessen verteidigten, mit Ehrengerichtsverfahren überhäuft wurden. So auch Heinrich Hannover. Er selbst beschrieb die Vorgänge so:
„Kaum hatte ich den Streß einer politischen Strafverteidigung durchgestanden, manchmal sogar noch während der Hauptverhandlung, lag die Mitteilung der Generalstaatsanwaltschaft auf dem Tisch, dass ein standesrechtliches Ermittlungsverfahren beabsichtigt oder schon eingeleitet worden sei“.
Doch wer durch derlei Nickeligkeiten, durch derlei Drohgebärden einen Mann wie Heinrich Hannover mundtot machen wollte, ihn auf unpolitisches Terrain zu drängen gedachte, der hatte sich schwer getäuscht.
Dazu war er zu sehr gefestigt in seiner demokratischen Haltung, seiner Verpflichtung gegenüber, Unrecht und Unterdrückung zu bekämpfen. Nie wich er von seinem Credo ab, wonach auch der erbärmlichste Verbrecher einen guten Verteidiger verdient hat. Es musste ja nicht immer unbedingt ein Heinrich Hannover sein. Doch wer von ihm vor Gericht vertreten wurde, der konnte sich ganz auf seine Loyalität, seinen Einsatz verlassen. Heinrich Hannover hat sich stets bemüht, alle juristischen Wege bis zur Neige auszuschöpfen. Zum Leidwesen manch eines Richters, sicherlich zahlreicher Staatsanwälte.
Dabei musste er auch Niederschläge hinnehmen, mit ansehen, wie die Justiz sich verfing und verzettelte. Er hat erlebt, wie unliebsame Akten auf den Fluren der Gerichte einfach spurlos verschwanden. Er hat sich mit Staatsanwälten herumschlagen müssen, die noch ganz im strammen Antikommunismus des Dritten Reiches geschult worden waren und ihre Haltung nahtlos in die neue Republik mit hinüber gerettet hatten. Er hat sich nicht klein kriegen lassen, immer gegen den Strich weiter gebürstet. Sich eine Justiz erhofft, die unbeeinflusst und unvoreingenommen dem Angeklagten die Menschenwürde belässt. Um ihn dann aufgrund von Fakten, von Beweisen zu beurteilen und nicht aufgrund von Vorurteilen und Voreingenommenheiten.
Wer sonst außer Hannover hat dermaßen quer durch die Republik verteidigt? Wessen Rückblicke könnten die justitiellen Tiefpunkte in den Gerichtssälen Ende der 70er Jahre entschiedener belegen? Entsprechend sein Resumèe über ein halbes Jahrhundert Strafverteidigung:
„Mir reicht’s für heute!“
Ein Ausruf, mit dem auch seine Kindergeschichte über das Pferd Huppdiwupp aufhört. Nach diversen nervenaufreibenden und frustrierenden Großverfahren zog sich Hannover in sein Bauernhaus in Worpswede zurück. Doch statt zu dösen, statt sich als Rentner zur Ruhe zu setzen, nahm er wieder Platz, diesmal an seinem Schreibtisch, um sein Lebenswerk zu dokumentieren. In der Hoffnung, auch mit Büchern die Welt verändern zu können.
„Wer fast ein halbes Jahrhundert deutsche Strafjustiz und ihre Gefängnisse aus der Sicht eines Strafverteidigers erlebt hat, der muss irgendwann etwas anderes tun, um nicht an der Welt zu verzweifeln“.
Mit diesem Satz leitete Heinrich Hannover 1999 im zweiten Band seiner Erinnerungen seinen Abschied ein – der Abschied eines streitbaren Juristen und Rebells in schwarzer Robe, eines unbeugsamen Sozialisten, leidenschaftlichen Kinderbuchautors und detailgenauen Dokumentaristen, eines unwiderruflichen Pazifisten und Streiters für Gerechtigkeit und Recht.
Seine im Aufbau-Verlag erschienen Erinnerungen eines unbequemen Rechtsanwalts richten sich an eine juristisch interessierte, wenn nicht gar geschulte Leserschaft. An ein Publikum, das am Beispiel der Justiz die Veränderungen dieser Republik nachvollziehen möchte. Hannover hat diese Entwicklungen beschrieben, bis in die kleinsten Verästelungen hinein, belegt anhand von Schriftsätzen oder dem, was seine Kontrahenten ihm vorhielten. Womit sie ihn aufs Glatteis und seine Mandanten dadurch entweder ins Gefängnis führen oder sie um jeden Preis hiervor bewahren wollten. Je nachdem, um wen es ging: Einen Naziverbrecher oder einen Linksterroristen.
In einer Zeit, in der Rechtsanwälte durch Werbung auf ihre Fähigkeiten aufmerksam machen dürfen, in der hart um Mandate gerungen wird, wirkt Hannover wie die Vaterfigur eines gesamten Berufsstandes: Vorbildlich integer, seinem Mandanten zugewandt – auch wenn mal nicht gezahlt werden konnte, oder die Terminierung der Gerichte bei Großprozessen so ungünstig lag, dass der Verteidiger in arge pekunäre Engpässe geriet. Wie damals im Boock-Verfahren, dem aufreibendsten Prozess in Hannovers Laufbahn, in dessen Verlauf der Bremer Strafverteidiger 15 Monate lang fast jeden Tag in den Abendstunden auf Reisen war, mal nach Stammheim, mal nach Hause. Während dieser Zeit war die Übernahme anderer Mandate für ihn unmöglich.
Hinzu kam noch, dass dieser an seinen Nerven zerrende Prozess eine Seite deutscher Justizausübung zeigte, die er, wenn er sie nicht selbst erlebt hätte, nicht für möglich gehalten hätte. Womit er die Feindseligkeit und den bösartigen Ton im Gerichtssaal ebenso meinte, wie die rigorose Ablehnung fast aller seiner Anträge durch das Gericht. Ein Klima, das seiner Einschätzung nach darauf angelegt war, Menschen fertig zu machen. Etwas, das ihm gänzlich wesensfremd ist.
Wie sehr hat es ihn verletzt, als er erfuhr, woran möglicherweise eine juristische Sühne des Mordes an Ernst Thälmann scheiterte. Im Prozess gegen einen KZ-Aufseher, der eben dieses Mordes beschuldigt wurde, stand Heinrich Hannover ausnahmsweise als Nebenklagevertreter auf der Anklägerseite. Eine Rolle, die zwar – so erinnert er sich – hoffnungsvoll begann, aber mit dem üblichen Freispruch endete. Dazwischen lagen Jahre des Kampfes und ein von Hannover durch Klageerzwingungsverfahren herbeigeführter Prozess. Der Angeklagte KZ-Aufseher Wolfgang Otto hatte immer wieder nachsichtige Juristen gefunden. Und war, wen wundert es, letztlich freigesprochen worden. In einem Verfahren, dass Hannover noch am Tag der Urteilsverkündung 1988 als
„Terroristenprozess besonderer Art“, wertete, „bei dem der Angeklagte weder Fesseln noch spürbare Gewissenslasten mit sich herumtrug, das Gericht ein Höchstmaß an Rücksichtnahme und Gründlichkeit zeigte und die Staatsanwaltschaft sich frei von jedem Verfolgungseifer präsentierte.“
Doch die juristische Aufarbeitung des Mordes an Ernst Thälmann hatte ein Nachspiel. Ein möglicher Zeuge des Geschehens damals im KZ-Buchenwald, ein Kollege des angeklagten KZ-Aufsehers, wurde zwar in beiden Prozessen gegen Otto von den Richtern geradezu verzweifelt gesucht. Er hätte möglicherweise aufhellen, erklären können, war vielleicht sogar in die Tat verwickelt. Auch an die DDR war die Bitte gegangen, diesen Mann aufzuspüren. Doch dort gab man sich scheinheilig, behauptete, nichts von der Existenz des Gesuchten zu wissen. Eine faustdicke Lüge.
Denn der lebte längst, von DDR-Behörden mit einer neuen Identität versehen, in Melle bei Osnabrück. Als Gastwirt. In seinem Lokal „Heimathof“ ging Bonner Prominenz ein und aus, Herbert Wehner ließ sich ebenso wie Kai-Uwe von Hassel fürs Gästebuch ablichten. Und es wurde nie geklärt, ob die DDR ihn deckte, weil er dort als Stasispion fungierte.
Heinrich Hannover hatte in den beiden Prozessen gegen den mutmaßlichen Thälmann-Mörder stets lobend erwähnt, wie bereitwillig die DDR-Behörden Amtshilfe bei der Aufklärung des Mordes an ihrem Nationalhelden geleistet hatten. Fassungslos musste er nach dem Fall der Mauer und der Öffnung der Stasiarchive erfahren, dass die DDR stattdessen alles getan hatte, um eine Aufklärung zu verhindern. Er nannte dies später „eine der vielen Enttäuschungen, die man als Sozialist mit der DDR erlebt hat.“
Dies alles auszuhalten half ihm sein zweites Standbein, seine zweite Karriere. Heinrich Hannover war nicht nur Strafverteidiger mit Leib und Seele, sondern er war und ist immer noch ein beliebter und gefragter Kinderbuchautor. Seinen sechs Kindern erzählte er mit nie endender Geduld und Begeisterung kleine Geschichten. Die veränderten sie durch Nachfragen, Bemerkungen, spontane Phantasien. Heinrich Hannover schrieb all dies auf. Die Bedeutung, die diese Erzählungen für ihn hatten und noch heute haben, beschreibt er so:
„Das Erfinden und Erzählen von Kindergeschichten war für mich eine Erholung von den Strapazen und Anfeindungen, denen ich als Anwalt in politischen Strafsachen ausgesetzt war.“
Seine Leidenschaft fürs Erzählen knüpft er an die Hoffnung, dass dies etwas bewirkt, „dass aus Kindern, deren Eltern die Mühe des Geschichtenerzählens nicht gescheut haben, einmal gute Sozialisten werden.“ Eine Hoffnung, die er noch immer hegt – diesmal bezogen auf seine Enkel.
Sein erfolgreichstes Kinderbuch war sicherlich das „Pferd Huppdiwupp“, 1968 erstmals erschienen. 1972 wurde es als einer der ersten Titel des Rowohlt-Verlages in der Rotfuchs-Reihe übernommen. Etwa 280.000 Exemplare wurden inzwischen verkauft. Es dürfte mit eines der erfolgreichsten und langlebigsten Kinderbücher der letzten Jahrzehnte sein.
Die Geschichte von einem Pferd, das unbedingt ganz hoch hinaus springen will, hat ganze Kindergenerationen begeistert. Einem Pferd, dem das Häuschen der Großmutter als Hindernis gerade recht ist. Mit einem Huppdiwupp-Anlauf setzt es an, hebt ab. Doch das übermütige Pferd bricht ein, landet auf Großmutters Kaffeetisch und „platsch!“ mit einem Huf mitten in der Schlagsahne. Spätestens an dieser Stelle halten die Kinder den Atem an, denn jetzt wird Geschimpft, jetzt folgt Strafe!
Doch weit gefehlt.
Nicht bei Heinrich Hannover. Stattdessen lädt die Großmutter das Pferd erstmal zu Kaffe und Kuchen ein, setzt sich dann auf seinen Rücken, ermuntert es gar – nunmehr gestärkt – einen neuen Sprung über ihr Häuschen zu wagen.
Welches Kinderherz wäre hiervon nicht begeistert?
Dann war da noch der Hase Puschelschwanz. Auch in dieser Kindererzählung gelingt es Heinrich Hannover mit subtiler Erzählkunst aus einer Totschlagsgeschichte eine Frühstücksidylle zu machen. Denn anders, als eigentlich geplant, wird der Hase Puschelschwanz nicht etwa erschossen, nur damit der Förster sich aus seinem Schwanz einen neuen Rasierpinsel machen kann. Nein. Der Hase kommt von nun an jeden Morgen ins Forsthaus, seift den Förster mit seinem Schwanz ein, und genießt anschließend mit dem Försterehepaar gemütlich ein Frühstück.
Ein Schmunzler, so recht geeignet, kuschelig unter der Bettdecke dem vorlesenden Elternteil zu lauschen. Ebenso wie der Geschichte über die Räubers, einer Familie, bei der die Kinder sich so richtig daneben benehmen dürfen, sich nicht waschen, kämmen, keine Zähne putzen müssen.
In Worpswede, wo Heinrich Hannover seit Jahren schon seinen Lebensabend verbringt, hat er weiter für Kinder gedichtet.
O-bibbele-babbele-bobbele-baden,
Am Fenster hängt ein dünner Faden.
Und an dem Faden –tibbele-tasche –
Hängt eine ziemlich große Flasche.
O-tibbele-tabbele-tobbele-tisch,
Und in der Flasche schwimmt ein Fisch.
Der sieht durch’s Glas ‚ne kleine Fliege.
Und denkt: „Na wart’, wenn ich dich kriege!“
Doch leider konnte er nicht raus,
Da lachte ihn die Fliege aus.
Hier, in Worpswede erfüllt er sich nun ein Stück seines kindlichen Förstertraumes. Ab und zu macht er einen Abstecher ins städtische Leben, taucht wieder auf, wie kürzlich erst mit seinem Jugendfreund am Kölner Humboldt-Gymnasium. Wo er den aufmerksam lauschenden Jugendlichen schilderte, dass ein Lehrer, ein NSDAP-Kreispropagandaleiter, ihnen damals so Aufsatzthemen aufgab wie „Der Führer spricht“ oder „Kein Mensch gedeihet ohne Vaterland“.
Dieser Lehrer schilderte den Kindern damals, Kommunisten und Sozialdemokraten würden wegen ihrer Gefährlichkeit ins KZ gebracht, müssten dort zur Strafe Steine auf Schubkarren laden und sie von einer Ecke zur anderen transportieren. „Wir haben wahrscheinlich darüber gelacht“, beschrieb Heinrich Hannover den Kölner Jugendlichen seine damalige Reaktion und fügte hinzu: „Ich schäme mich dafür“.
Für all das, wofür er in seinem Leben als Anwalt stand, womit sein Name verbunden wird, was ihn zum Vorbild vieler junger Juristen macht, braucht sich Heinrich Hannover nun wahrlich nicht zu schämen. Daß er heute für sein Lebenswerk den Hans-Litten-Preis bekommt, als ältestes Mitglied der VDJ, der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen e.V., ist nur folgerichtig. Hannover hat die VDJ einmal als die einzige politische Organisation bezeichnet, in der er mit Menschen zusammenarbeiten kann, denen er politisch am nächsten steht. Er sähe in der VDJ die größte Chance, seine eigenen Überzeugungen in Gesprächen mit anderen zu diskutieren, aber auch aus Widersprüchen zu lernen.
Diese Preisverleihung freut mich zutiefst – und aus voller Überzeugung habe ich diese Laudatio auf einen Mann gehalten, dessen Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit, dessen Humor, Anteilnahme, Bescheidenheit und gedankliche Beweglichkeit mich in den Jahrzehnten, in denen ich ihn schon kenne, stets zutiefst berührte. Nicht zu vergessen, sein Schwung und seine Wendigkeit auf der Tanzfläche. Ich möchte meine Laudatio, der Sie bis hierher mit soviel Aufmerksamkeit gefolgt sind, mit einem Schlaflied Heinrich Hannovers an seine Kinder und Enkel beenden:
Schlaf ein, mein Kind, schlaf ein!
Ein Schiff fährt auf dem Rhein.
Es fällt viel Brot vom Tische,
Da freuen sich die Fische.
Schlaf ein, mein Kind, schlaf ein!
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.