Interview mit Beate und Serge Klarsfeld, Frankfurter Rundschau, 1.10.09

Beate und Serge Klarsfeld im Interview

„Das hätte böse enden können“

Als Nazi-Jäger wurden Beate und Serge Klarsfeld berühmt und riskierten mehr als einmal ihr Leben. Am Freitag, 2.10., würdigt Arte ihren Einsatz mit einem Fernsehfilm. Ein Gespräch über Autobomben, Verantwortung für die eigenen Kinder und denkwürdige Prozesse.

 

Frau Klarsfeld, Herr Klarsfeld, Sie haben ein gefährliches Leben geführt.
Beate Klarsfeld: Manches war gefährlich, auf jeden Fall.

Am 2. Oktober zeigt Arte einen Spielfilm über Sie beide mit dem Titel „Hetzjagd“, mit Franka Potente als Beate Klarsfeld.

Serge Klarsfeld: Ja, er handelt davon, wie wir Anfang der 70er Jahre den Naziverbrecher Klaus Barbie in Südamerika aufgespürt haben.

Es stockt einem der Atem angesichts mancher Szenen im Film.

Beate Klarsfeld: Der Film übertreibt nicht, er zeigt die Wahrheit. Barbie war immerhin der ehemalige Gestapo-Chef von Lyon, und wegen seiner guten Verbindungen lebte er in Bolivien geschützt. Es war in der Tat extrem riskant, ihn entführen zu wollen, was ja unser Plan gewesen war. Wir wollten ihn nach Frankreich bringen, damit ihm dort der Prozess gemacht werden würde. Der Entführungsplan scheiterte zwar, aber Barbie wurde zehn Jahre später festgenommen und an Frankreich ausgeliefert.

Die bolivianische Junta hatte Sie ins Gefängnis gesteckt.

Beate Klarsfeld: Das hätte böse enden können. Der Polizeichef, der mich damals in Bolivien festgenommen hatte, war berüchtigt dafür, seinen Opfern die Hände abzuhacken.

Serge Klarsfeld: Wobei man uns nicht einfach so schaden oder uns verschwinden lassen konnte. Es gab damals Journalisten, die unsere Arbeit aufmerksam verfolgten. Wir waren durch Öffentlichkeit geschützt.

Im Rückblick klingt das abgeklärt. Sie hatten aber immerhin zwei kleine Kinder. Da überdenkt man doch die Risiken doppelt und dreifach.

Beate Klarsfeld: Natürlich, wir waren ja nicht naiv. Wenn man versucht, NS-Verbrecher aufzuspüren, die sich im Ausland verstecken: Alois Brunner in Syrien, Klaus Barbie in Bolivien, Mengele in Paraguay, macht man sich Feinde. Und wenn man die verfolgt, wehren die sich.

Wie haben die sich gegen Sie gewehrt?

Beate Klarsfeld: Unser Auto ist in die Luft gesprengt worden; einmal wurde uns eine Bombe ins Haus geschickt, die zum Glück nicht explodiert ist; die Kinder sind bedroht worden. Wir brauchten Polizeischutz hier in Frankreich. Gut, das ist eine Unannehmlichkeit, die man auch eingehen muss. Und wir hatten Glück, keine Frage. Aber wenn man über Risiken nachdenkt, muss man sogar sagen, dass allein die Kiesinger-Affäre schlecht hätte ausgehen können.

Sie haben Bundeskanzler Kurt Kiesinger während des CDU-Parteitags 1968 öffentlich geohrfeigt.

Beate Klarsfeld: Und habe mich damit in Lebensgefahr begeben. In der ersten Reihe saßen die Bodyguards. Hätte ich nicht hinter Kiesinger gestanden, hätte ich erschossen werden können.

Diese Tat gilt als großer symbolischer Akt. War es nicht auch ein Signal: Seht her, wir kommen an euch ran?

Serge Klarsfeld: Auch, aber wir haben nie in Erwägung gezogen, selbst Gewalt anzuwenden.

Sie, Serge, haben dem Nazi-Verbrecher Kurt Lischka sogar eine nicht geladene Pistole an den Kopf gehalten, um die deutsche Bevölkerung darauf aufmerksam zu machen, dass mitten unter ihr Naziverbrecher lebten. Lischka führte in Köln ein Leben wie ein unbescholtener Bürger.

Serge Klarsfeld: Aber die Sache mit der Pistole war nicht wirklich gewalttätig. Wenn ich ihn hätte töten wollen, hätte ich dies auch getan. Aber jemanden umbringen ist eine aus der Hoffnungslosigkeit geborene Tat. Wir haben aber nie die Hoffnung aufgegeben, dass es uns gelingen würde, die deutsche Gesellschaft und die deutsche Justiz aufzurütteln. Und es ist uns gelungen. Aufgrund des Drucks, den wir ausgeübt haben, wurden Nazi-Verbrecher wie Lischka vor Gericht gestellt und verurteilt.

Sie haben bei Ihrer Arbeit oftmals feststellen müssen, wie einfach es war, jemanden aufzuspüren – obwohl Staatsanwälte immer behauptet hatten, man könnte diese Leute nicht finden.

Beate Klarsfeld: Und dabei hatten sich viele Nazi-Verbrecher nicht mal neue Namen zugelegt. Die meisten von denen standen ganz ungeniert im Telefonbuch. So haben wir Lischka gefunden, im Kölner Telefonbuch.

Welche Spur führte Sie nach Köln?

Beate Klarsfeld: Lischka, der einer der Hauptverantwortlichen für die Deportation der Juden aus Frankreich war, war 1939 Gestapo-Chef in Köln gewesen. Wir gingen also davon aus, dass er nach dem Krieg in eine deutsche Stadt zurückgekehrt sein würde, in der er noch Vertraute hatte. Ich habe dann die internationale Auskunft angerufen und gefragt, ob in Köln ein Kurt Lischka gemeldet sei. Die Frau von der Auskunft rief kurze Zeit später zurück und sagte: „Es gibt einen Kurt Lischka in Köln, in der Bergisch Gladbacher Straße.“ So einfach war das häufig.

Serge Klarsfeld: Und dann muss man sich mal vorstellen, dass wir uns zwei Jahrzehnte lang damit herumgeschlagen haben, auf die deutsche Justiz einzuwirken, damit sie diese Verbrecher vor Gericht stellte. Auch in Frankreich waren wir es, die die Prozesse gegen Verantwortliche für die Deportation der Juden vorantrieben. Ob das nun gegen Klaus Barbie, Maurice Papon oder andere war.

Sprechen wir noch mal über die Kiesinger-Affäre. Ihre Ohrfeige ist wohl die berühmteste in der Weltgeschichte.

Beate Klarsfeld: Ja, ja, die Ohrfeige. Sie fragten eben nach der Symbolkraft. Es war eine symbolische Tat, stellvertretend für eine junge Generation von Kindern der Nazis. Die Botschaft dieser Ohrfeige war: Stopp, keine Nazi-Verbrecher, keine Schreibtischtäter in offiziellen Funktionen! Für mich war der negative Höhepunkt erreicht, als man in Deutschland einen ehemaligen Nazi-Propagandisten wie Kurt Kiesinger ins Amt des Bundeskanzlers gewählt hatte.Warum haben Sie und nicht Serge Kiesinger geohrfeigt?

Beate Klarsfeld: Es hatte eine viel größere Wirkung, dass sich eine Deutsche gegen einen Bundeskanzler auflehnte, der für die Nazis tätig gewesen war. Es gab damals nur wenige Zeitungen, die über die Vergangenheit Kiesingers berichteten: hier in Frankreich nur den Figaro, dann noch einige Zeitungen in Israel. In Deutschland war das Thema tabu. Deshalb sagte Serge: „Das kannst du als Deutsche nicht so stehen lassen. Du hast eine moralische Verpflichtung.“

Serge Klarsfeld: Du musstest das tun, ja.

Woher nahmen Sie den Mut für solche Aktionen?

Beate Klarsfeld: Es war kein Mut, würde ich sagen. Als ich in den 60er Jahren als Au-Pair nach Paris gekommen war, war das nicht gerade einfach für mich als Deutsche. Es gab viele Vorbehalte. Und schon gar nicht war es einfach für Serge und mich. Meine Schwiegermutter war mir gegenüber sehr wohlwollend. Aber es gab Freunde von Serge, die sagten: „Eine Deutsche? Mit der gehst du aus? Und auch noch mit einer Nicht-Jüdin.“ Also habe ich angefangen, mich zu engagieren, und protestierte mit Artikeln und einmal auch mit Zwischenrufen von der Publikumstribüne im Bundestag aus gegen Kiesinger. In der Zeitschrift Combat nannte ich Kiesinger in mehreren Artikeln einen Nazi und schrieb, dass ein Nazipropagandist untragbar ist für die BRD. Zu der Zeit, also von 1963 bis 1967, arbeitete ich im Deutsch-Französischen Jugendwerk als Sekretärin. Nach den Artikeln wurde ich fristlos entlassen, wie eine Diebin.

Wie hat denn Ihre Familie darauf reagiert, als Sie plötzlich auf den Titelseiten der Presse standen?

Beate Klarsfeld: Mein Vater war schon tot, er starb früh. Meine Mutter war überhaupt nicht politisch interessiert. Und, gut, die Ohrfeige und die ganze Kampagne war für sie unangenehm. Natürlich war ihr wichtig, was die Nachbarn über mich sprachen. Und von denen kam nur noch Negatives. Aber meine Mutter hat sich dann beruhigt. Ich würde sogar sagen, sie hat sich auf unsere Seite gestellt, nachdem unsere Kinder geboren waren. Sie kam nach Paris, lernte meine Schwiegermutter kennen, die fließend deutsch sprach. Und dann sah sie auch die Auszeichnungen, die wir für unser Engagement erhalten hatten, Auszeichnungen von vielen Ländern. Da war sie dann noch ein bisschen beruhigter.

Serge, woher rührt Ihr Engagement?

Serge Klarsfeld: Mein Vater ist von Deutschen verschleppt worden. Als im August 1942 die große Razzia gegen die ausländischen Juden in der freien Zone des besetzten Frankreichs stattfand, waren wir als aus Rumänien stammende Juden in Nizza zunächst noch geschützt. Die italienischen Besatzer waren freundlich mit den Juden umgegangen. Doch als dann die Deutschen kamen, wurde es wirklich böse. Die meisten der anderen Kinder von deportierten Juden haben französische Uniformierte gesehen, die ihre Eltern abholten. Sie sind in Frankreich von Franzosen zutiefst verletzt worden. Ich hingegen hatte ausschließlich mit Deutschen zu tun. Deshalb konnte ich auch problemlos weiter in Frankreich leben.

Was meinen Sie, wenn Sie sagen: Ich hatte mit Deutschen zu tun?

Serge Klarsfeld: Die Deutschen haben Nizza am 8. September 1943 besetzt, haben die Italiener einfach rausgeschmissen und begannen gleich mit großen Razzien. In Nizza gab es damals mindestens 25 000 Juden. Die Deutschen umstellten ganze Häuserblocks und durchsuchten Wohnung für Wohnung. Tagsüber gab es Straßensperren, Männer mussten sich entkleiden, man kontrollierte, ob sie wie ein Jude beschnitten waren. Da wir nicht aus Nizza rauskamen, weil alle Züge kontrolliert wurden, hat mein Vater in einem Schrank eine Art doppelte Rückwand eingezogen, in dem meine Schwester und ich uns verstecken sollten, wenn die Nazis kämen. Am Tag vor Schulanfang, am 30. September 1943, ich war sieben Jahre alt, erleuchteten plötzlich Scheinwerfer unsere Zimmerdecken. Man hörte Schreie. Wir krochen in das Schrankversteck, gemeinsam mit meiner Mutter. Mein Vater blieb draußen, um die Tür aufzumachen, damit die Deutschen sie nicht eintraten. Die Deutschen durchsuchten alles. Einer öffnete die Schranktür, schob die Kleider zur Seite, berührte aber die Rückwand nicht. Die ganze Nacht über hörten wir Schreie und Weinen. Meinen Vater nahmen sie mit. Ich habe ihn nie mehr wieder gesehen.

Haben Sie jemals über Rache nachgedacht?

Serge Klarsfeld: Natürlich haben wir manchmal vor der Frage gestanden: Töten wir die Verbrecher, oder übergeben wir sie der Justiz? Wir haben uns gegen Gewalt entschieden. Das war grundsätzlich richtig. Nehmen Sie den Kölner Lischka-Prozess: Der hat Deutsche und Franzosen einander wieder näher gebracht. Das war ein sehr positiver Effekt.

Kurt Lischka hat zehn Jahre Haft bekommen, manche Prozessbeobachter sagten: nur zehn Jahre Haft. Nach sechs Jahren wurde er entlassen. Gab es Urteile, von denen Sie sagen: Die Strafe war viel zu gering, vielleicht sogar skandalös gering?

Serge Klarsfeld: Nach deutschem Recht war Lischka nur als Mittäter angeklagt und nicht als Täter eines Massenmordes. Für uns aber war bedeutend, dass ein Mann in seinem Alter, der sehr geschützt war, doch noch verurteilt wurde und eine Gefängnisstrafe antreten musste.Beate, Sie wurden im Februar 70. Auch Sie, Serge, sind schon lange im Rentenalter. Sind Sie mit Ihrem Lebenswerk zufrieden oder bleibt Unerledigtes zurück?

Beate Klarsfeld: Ich bin zufrieden. 1960 ging ich aus Berlin fort, ohne irgendwas zu haben, weder Abitur noch sonst was Besonderes. Man kommt nach Paris, wird Au-pair-Mädchen und trifft einen jungen Mann, dessen Vater deportiert wurde. Und dann haben wir zusammen all das aufgebaut. Ich hätte doch nie gedacht, dass ich eines Tages mal von zwei französischen Präsidenten mit dem Orden der Ehrenlegion dekoriert werde, dass mich Israel für den Friedensnobelpreis vorschlägt, dass ich in Amerika geehrt werde. Ich, eine Deutsche.

Sie lachen beide oft und scheinen das Leben sehr zu genießen. Waren Sie in all den Jahren und angesichts all Ihrer Erfahrungen immer so?

Beate Klarsfeld: Oh, ich bin fröhlich. Wir haben zwei Kinder, die wir sehr gut groß gezogen haben. Wir sind ständig umgeben von Hunden und Katzen. Und wir beide können jetzt, da wir alt sind, sagen: Wir haben was geschafft. Serge auf seine Art, ich auf meine.

Serge Klarsfeld: Ich bin sehr zufrieden. Seit meiner Kindheit interessiere ich mich für Geschichte. Und nun habe ich in der Geschichtsschreibung eine Rolle gespielt. Die Geschichte der Endlösung der Judenfrage in Frankreich musste ebenso neu geschrieben werden wie die Darstellung der damaligen Verantwortlichkeiten in Politik und Justiz. Ich war dabei Akteur und Historiker.

Kommt es auch heute noch vor, dass Sie angefeindet oder attackiert werden?

Beate Klarsfeld: Die Reaktionen sind eher positiv, Küsschen hier, Küsschen da: „Was du getan hast, wunderbar!“

Serge Klarsfeld: Jeden zweiten Tag kommt jemand auf der Straße auf mich zu, drückt mir die Hand und bedankt sich bei mir. Das sind Leute aus dem Volk. Aber auch die jeweiligen Präsidenten der französischen Republik würdigten unsere Arbeit. Wir sind einfach ein Teil ihrer Geschichte, mehr kann man vom Leben nicht verlangen.

Beate Klarsfeld: In Deutschland ist es nicht ganz so. Da überwiegt immer noch das Negative, selbst die Ohrfeige haben mir viele nicht verziehen. Ein mir Unbekannter hat mich zweimal für das Bundesverdienstkreuz vorgeschlagen, was beide Male abgelehnt wurde. Im Mai hat mich Gregor Gysi anlässlich einer Ehrung für Serge und mich im Deutschen Bundestag für das Bundesverdienstkreuz vorgeschlagen. Die Anfrage an das Auswärtige Amt wurde auch von Lafontaine unterzeichnet. Vielleicht kommt ja nun nach den Wahlen eine Antwort.

Mit welcher Begründung wurden die vorherigen Vorschläge abglehnt?

Beate Klarsfeld: Es ist noch nicht der richtige Augenblick, Frau Klarsfeld.

Interview: Ingrid Müller-Münch

 

Text unter Foto von Beate und Serge Klarsfeld haben durch spektakuläre Aktionen und gründliche Recherchen dafür gesorgt, dass bedeutende Nazi-Verbrecher wie Kurt Lischka, Klaus Barbie oder Maurice Papon vor Gericht gestellt wurden.

Deren Opfern haben sie ein Gesicht gegeben. Serge Klarsfeld hat die Listen aller aus Frankreich in die Konzentrationslager deportierten Juden zusammengestellt und ihre Namen veröffentlicht. Er hat zudem von den aus Frankreich verschleppten jüdischen Kindern – so weit dies möglich war – Fotos aufgespürt und publiziert.