Vergangenheit, die nie vergeht. Frankfurter Rundschau 29.1.2010

Vergangenheit, die nie vergeht

Naziopfer als Nebenkläger und Zeugen in NS-Prozessen,

von Ingrid Müller-Münch,

erschienen Frankfurter Rundschau 29.1.2010

Vor 66 Jahren wurde sein Vater von dem SS-Mann Heinrich Boere erschossen.

„Das hier“, sagt Tuin de Groot und blättert in einer alten Fotokiste, „das hier sind meine Eltern, als sie jung waren. Und hier auch, das ist ihr Heiratsfoto.“ Tuin de Groot ist ein stattlicher, gutsituiert lebender Rentner. Doch in dem kleinen, nordholländischen Ort, in dem er und seine Frau am liebsten ihren Garten bestellen, findet er in letzter Zeit so recht keine Ruhe mehr. Anlass ist der in Aachen seit einigen Wochen geführte Prozess gegen den ehemalige SS-Mann Heinrich Boere. Der inzwischen 88 Jahre alte Boere hat drei Männer ermordet, darunter Tuin de Groots Vater. Dass dieser Mann nun doch noch vor Gericht sitzt, freut De Groot, „Endlich ist es soweit“, sagt er, auch wenn er dadurch erneut mit einer Vergangenheit konfrontiert wird, die ihn aufwühlt und ihm zu schaffen macht.

3. September 1944. Ein Tag, den der heute 77jährige Tuin de Groot nicht vergessen kann. Damals war er gerade mal elf Jahre alt, das älteste von fünf Kindern. Sein Vater hatte in einem kleinen holländischen Dorf  ein Fahrradgeschäft. An diesem Tag, einem Sonntagmorgen, war er allein zu Hause. „Da wurde geklingelt. Mein Vater war noch oben im Bett. Und er kam in seinem Pyjama nach unten, fragte, was denn los sei“. Vor der Tür standen  zwei in Zivil gekleidete Männer. Sie gaben sich als Polizisten aus, verlangten den Ausweis. „Mein Vater ging nach oben und holte seine Portefeuille, und darin war sein Ausweis.  Und dann sagten die, er ist in der Tat Teunis de Groot, der Mann, den wir suchen. Und dann  haben sie ihn totgeschossen.“

Tuin de Groot, der damals 11jährige Sohn, hat dieses Ereignis nie vergessen können. Es hat sein ganzes Leben geprägt, seine Familie damals auseinandergerissen, die Kinder kamen in Pflege, die Mutter war in ihrer Verzweiflung nicht in der Lage, sie zu versorgen. Derjenige, der seinen Vater mit einer Pistole tötete, die er schussbereit und durchgeladen in der Manteltasche bei sich trug, ist Heinrich Boere.  Wie derlei Morde, die einer wahren Exekution glichen, vor sich gingen, hat Boere vor knapp zehn Jahren dem holländischen Filmemacher Rob van Olm am Beispiel des von ihm getöteten Apothekers Fritz Bicknese beschrieben. „ Ich klingelte. Da war ein Apotheker in seinem Geschäft. Ich fragte, sind sie Herr Bicknese? Dann peng, peng, peng…“  Er tat dies, so behauptet er, im guten Glauben. Als Mitglied der Germanischen SS in den Niederlanden seien dies Kriegshandlungen gewesen,  er habe einem Befehl gefolgt. „Dat is nicht viel Unterschied ob an der Front oder so“, rechtfertigte sich Boere gegenüber Rob van Olm.

Der Film, den van Olm über Heinrich Boere drehte, half  Tuin de Groot, nicht erst im Gerichtssaal völlig unvorbereitet auf den Mörder seines Vaters zu treffen, sondern sich ihm langsam anzunähern. Immer wieder und wieder schob er die Videocassette ein, sah sich Boere an. Als er dann in Aachen dem wegen dreifachen Mordes Angeklagten zum ersten Mal gegenübertrat, da kannte er den ehemaligen SS-Mann längst. Wurde nicht mehr überrascht und um so weniger überwältigt.  „Als ich ihn zum ersten Mal im Filmmaterial sah, dachte ich, es ist ein schmutziger Schuft. Und das denke ich noch immer.“

Tuin de Groot hatte Zeit, sich auf die Konfrontation mit dem Mörder seines Vaters vorzubereiten. Andere Naziopfer, die in NS-Prozessen gegen ihre ehemaligen Peiniger als Zeugen oder als Nebenkläger auftreten, erleben bei deren Anblick einen Schock, brechen zusammen, müssen sie doch das sorgsam im Gedächtnis Gebändigte noch einmal freilassen. Müssen Fragen des Gerichts nach Uhrzeit des Geschehens, nach der Bekleidung des Angeklagten, nach Einzelheiten aus der dunkelsten Phase ihres Lebens beantworten.  Viele dieser Zeugen – das hörte der einstige Ankläger im Düsseldorfer  Majdanek-Prozess Dieter Ambach immer wieder –  fühlen sich jedoch nach ihren Aussagen entspannter, können wieder ruhiger schlafen. „Nachdem sie all das Fürchterliche, was sie miterleben mussten, endlich mal einer interessierten Öffentlichkeit zu Gehör bringen konnten.“ Vergessen, da ist sich Ambach sicher, konnten sie all dies sowieso nie.

Am 9. Mai 1978 verließ Hela Rosenbaum mit ihrem Mann für eine Woche Israel und reiste nach Düsseldorf. Die erste Nacht im Hotel wurde zum Alptraum: ihrer Angst, dass schwere Stiefelschritte über den Hotelflur dröhnen, barsche Rufe und Klopfen sie aus dem Bett schrecken könnten, hielt die einfache Hoteltür nicht stand. Erst als sie sich mit Bettzeug und Kopfkissen ins Badezimmer verkrochen und in die Wanne gelegt hatte, fühlte sie ihre Schreckensvisionen durch zwei verriegelte Türen ausgesperrt.

Ähnliches  wie Hela Rosenbaum bei ihrer Anreise zum Düsseldorfer Majdanek-Prozess vor über 30 Jahren erleben auch heute noch Überlebende von NS-Morden, wenn sie denn nach Deutschland kommen. Das macht derzeit das in München laufende Verfahren gegen den mutmaßlichen ukrainischen KZ-Wächter John Demjanjuk deutlich, in dem rund 40 Überlebende des Konzentrationslagers Sobibor als Nebenkläger auftreten.  Als gleich zu Prozessbeginn ein 70jähriger vom Schicksal seiner Familie berichtete, die in Sobibor und Auschwitz vergast worden war,  brach er weinend zusammen. Und konnte kaum den Abschiedsbrief seiner Mutter verlesen, den die aus einem verplombten Eisenbahnwaggon auf ihrer Deportation von Holland nach Sobibor aus dem Fenster geworden hatte.

Es mag schwer, ja fast wie eine unzumutbare Quälerei anmuten, diese Menschen zu  den dunkelsten Zeiten ihres Lebens zu befragen. Doch ohne sie kämen ihre einstigen Peiniger gänzlich ungeschoren davon. Durch ihre Aussagen halfen sie, die Mörder im Düsseldorfer Majdanek-Prozess zu überführen,  trugen dazu bei, dass  die Angeklagten im Kölner Lischka-Verfahren ihre Strafe bekamen oder dass der sogenannte „Wilhelm Tell“ von Auschwitz, Gottfried Weise,  von einem Wuppertaler Schwurgericht verurteilt werden konnte. Der Preis, den sie dafür zahlen ist bis heute hoch: Schreckliche Erinnerungen werden erneut geweckt. Das hat Dieter Ambach oft in den fast sechs Jahren erlebt, in denen er Ankläger im Düsseldorfer Majdanek-Prozess war, dem ersten großen Verfahren, in dem auch KZ- Aufseherinnen angeklagt waren.

„Wir haben etwas über 350 Zeugen vernommen, die kamen aus Russland, Polen, Israel, USA, dann auch noch bis runter nach Südafrika und natürlich aus Deutschland.“  Einige dieser Zeugen hatten sich zunächst geweigert, nach Deutschland zu kommen. „Verständlicherweise“, sagt Dieter Ambach. „Weil sie dann umgeben waren von der Sprache, die für sie damals Todesgefahr bedeutet hatte. Um diese Zeugen dennoch zu vernehmen,  sind wir ungefähr 70 mal in verschiedene Länder gereist.“

Ilona S. hat sich erst nach langem Zögern von Budapest auf den Weg nach Wuppertal gemacht. Dort  war sie 1987 Hauptbelastungszeugin im Prozess gegen den sogenannten „WilhelmTell“ von Auschwitz, gegen Gottfried Weise. Sie selbst war mit den ersten aus Ungarn 1944 abgegangenen Transporten nach Auschwitz gekommen, hat ihre Großeltern und ihren Vater in die Gaskammern gehen sehen. Über den damaligen Angeklagten sagte sie einmal: „Was er gemacht hat, das bleibt in meiner Erinnerung für immer. Ich habe nachts geweint, nachdem der Krieg schon zu Ende war, lange danach.“

Als sie am 25. Juni 1987, dem 28. Verhandlungstag vor dem Wuppertaler Schwurgericht vernommen wurde, sagte sie sofort: „Ja, dort sitzt er. Immer lächelt er. Auch dort lächelte er.“ Ihre Aussage wurde von Tränen unterbrochen. Ihre Haltung war angespannt.  Und nur unter äußerster Konzentration gelang es ihr dem Gericht zu schildern,  wie ein kleiner Junge in Auschwitz den Angeklagten anbettelte, Weise ihn beschimpfte, ihm drohte, „ich werde dich erledigen“. Um dem Kind dann Dosen auf Kopf und Schultern zu stellen. Daraufhin fing der Junge an zu weinen, zu flehen. „Er jammerte und schrie, das war nicht zu ertragen. Nachher hat er dem Kind noch gesagt, es solle die Hände falten, es solle applaudieren und tanzen.“

Als vor dem Kölner Oberlandesgericht im Herbst 1979 der Prozess gegen die Hauptverantwortlichen für die Deportation von etwa 70.000 Juden aus Frankreich begann, als Lischka, Hagen und Heinrichsohn endlich vor Gericht saßen, das wartete die Kammer am 17. Verhandlungstag vergebens auf Erna Schnarch, die an diesem Tag aussagen sollte. „Ich kann gut verstehen, dass sie nicht vor einem deutschen Gericht erscheinen will“, meinte irgendwann der Vorsitzende Richter. Odette Daltroff-Baticle hingegen war gekommen. Die damals 68jährige hatte sich als junge Frau im  im französischen Auffanglager Drancy, von dem aus die Züge gen Osten in die Konzentrationslager abfuhren, um die Ankommenden gekümmert. „Da kamen Kinder ohne Eltern aus Pithiviers,“ schilderte sie dem Gericht. „In schrecklichem Zustand. Wolken von ganz kleinen Insekten um sich herum. Sie hatten Schnürchen um den Hals mit dem Namen drauf. Hatten Krätze. Ein Bild, dass ich nicht vergessen kann. Alle Kinder litten an Ruhr. Es gab nur eine Kohlsuppe oder Saft von Sauerkraut. Man fühlte sich wie geleert, hatte keine Zeit, sie zu trösten. Es gab keine Toiletten. Große Eimer waren aufgestellt, die tropften von einer Treppe zur anderen. Es ist unvergesslich. Es ist schrecklich. Ich denke daran jeden Tag.“

Nicht alle Zeugen können angesichts der direkten Konfrontation mit ihren ehemaligen Peinigern die Fassung bewahren. Dem inzwischen pensionierten, einstigen Majdanek-Ankläger Dieter Ambach ist im Prozessverlauf immer wieder aufgefallen, welch große Belastung es für Zeugen war, „wenn sie nach einiger Zeit der Vernehmung gebeten wurden, durch die Reihen zu gehen, in denen die Angeklagten mit ihren Verteidigern saßen. Um zu versuchen, den einen oder die andere zu identifizieren. Da waren sie dann plötzlich den Gesichtern, die für sie Todesgefahr bedeutet hatte, bis auf ungefähr einen Meter entfernt.“ Nur einmal, da geschah im Düsseldorfer Gerichtssaal etwas überraschendes. Mitangeklagt war eine Aufseherin, die schon damals im Lager den Spitznamen auf polnisch Perelka, also Perlchen hatte. „Die sich verhältnismäßig human den Leuten  gegenüber verhalten haben soll“, erinnert sich Ambach.  Eine Zeugin hat dieser Perelka,  als sie vor ihr stand, „die Hand gegeben und gesagt, dass sie sich freue, sie wieder zu sehen, sie sei die einzig Menschliche im Lager Majdanek gewesen.“

Ambach erinnert sich noch gut an einen Vorfall, der weltweit damals für Schlagzeilen sorgte. Ein Sohn hatte seine in den USA lebende Mutter nach Düsseldorf begleitet. Dort mit angehört, was sie in Majdanek erlebt hatte. „Und wie immer war insbesondere eine Angeklagte, die im Lager den Spitznamen trug, Blutige Brigida, Gegenstand der Aussage“, erzählt Ambach. „Diese Angeklagte war damals vorübergehend auf freiem Fuße. Und als der Sohn mit seiner Mutter und den anderen Zeugen durch die Altstadt in Düsseldorf gingen, sahen sie, wie  die Blutige Brigida munter einkaufen geht und sich mit anderen Leuten unterhält. Das hat den Sohn dermaßen aufgebracht, dass er zu ihr hinging und sie ohrfeigte.“

Tuin de Groot ist der Tag, an dem sein Vater von Heinrich Boere erschossen wurde, bis heute präsent.  In den Aachener Prozess reiste er nur einmal, zum Eröffnungstag. Das reichte ihm. Angehörige der beiden Opfer, wegen deren Ermordung sich Boere ebenfalls in Aachen verantworten muss, ließen sich von Anbeginn durch Anwälte vertreten. Ihr aller Leben wurde durch Boeres Tat geprägt. Und noch immer verbindet Tuin de Groot den Tod seines Vaters mit einem bestimmten Geruch, der ihm in die Nase stieg, als er nach dessen Ermordung erstmals wieder den Hausflur betrat. „Es war der Geruch des Blutes. Die Luft war ganz ekelig.“  Derlei quälende Bilder, derlei Gerüche haben Tuin de Groot sein Leben lang begleitet. Ebenso wie die Kugel, die später im Korridor seines Elternhauses gefunden wurde, oder die Brieftasche seines Vaters, von Boeres Schuss durchlöchert. Beides trägt er mit sich herum. Was schwerer wiegt, mag er nicht zu sagen: Kugel und Brieftasche oder aber die sein Leben prägenden schrecklichen Erinnerungen.