Wir müssen die Mauer des Schweigens durchbrechen, FR Panorama-Seiten, 24-2-2010

Wir müssen die Mauer des Schweigens durchbrechen

Polizisten, die sich unangemessen gewalttätig verhalten oder sogar Wehrlose verletzen, werden von Kollegen häufig gedeckt. Gründe dafür sind juristische Fallstricke oder ein falsch verstandener Korpsgeist. Ein Gespräch mit Udo Behrendes, der vor Jahren zwei Beamte angezeigt hat und heute Polizeidirektor in Köln ist.

Interview mit Udo Behrendes, Leitender Polizeidirektor in Köln

 

 

FR: Sie haben zwei Kollegen wegen Körperverletzung im Amt angezeigt – und haben dennoch Karriere innerhalb der Polizei gemacht. Wie war das möglich?

 

B: Die beiden Anzeigen liegen schon etwas zurück. Damals war ich in Bonn tätig. In beiden Fällen war ich der Vorgesetzte. Der eine Fall spielte sich bei einer teilweise gewalttätig verlaufenen Demonstration ab. Ich war damals Einsatzleiter. Schon auf dem Bonner Münsterplatz hatte ich mitbekommen, dass ein Kollege dort nach meiner Einschätzung überhart eingeschritten ist. Ich war aber mit anderen Dingen beschäftigt und konnte mich nicht auf diesen Beamten konzentrieren. Abends sah ich dann in den Tagesthemen Szenen von dieser Demonstration. Dabei erkannte ich den Beamten wieder. Sah, wie er in mehreren Fällen mit dem Schlagstock aus meiner Sicht unbegründet auf Demonstranten einschlug. Daraufhin habe ich Anzeige erstattet.

 

FR: Das war 1994. Kurz darauf haben sie erneut einen Kollegen angezeigt.

 

B: Ja, im zweiten Fall hatten andere Beamte erzählt, dass ein Kollege einem Einbrecher, der auf frischer Tat ertappt und festgenommen worden war, auf der Wache in der Zelle ins Gesicht geschlagen und ihn verletzt hatte. Später hat der Beamte das Geschehen so dargestellt, als habe sich dieser Mann die Verletzung selber zugezogen.

 

FR: Haben sie diese Anzeigen erstattet, in voller Überzeugung, das Richtige zu tun. Oder hat sie das Überwindung gekostet?

 

B. Der zweite Fall fiel mir relativ leicht. Die Kollegen, die mir den Fall schilderten, erwarteten regelrecht von mir, dass ich als Vorgesetzter die Verantwortung übernehme und diese Anzeige schreibe.  Der erste Fall dagegen war schwierig, denn ich war der Einsatzleiter. Demnach also auch für den polizeilichen Zwangseinsatz gegen die Demonstranten verantwortlich.

 

FR: In der Lokalpresse sorgten sie damals unter der Überschrift „Bonns mutigster Polizist“ für Schlagzeilen. Wie kam das bei ihren Kollegen an?

 

B.  Nicht gut, manch einer unterstellte mir, ich wolle mich auf ihre Kosten hervortun. Dabei habe ich der Presse hierüber nie ein Interview gegeben. Kollegen,  die sowohl diesen Beamten als auch mich kannten, haben mir allerdings signalisiert, dass sie das richtig fanden.

 

FR: Gab es nicht anschließend erst mal einen Karriereknick?

 

B:  Parallel zu meiner Anzeigenerstattung haben wir einen Dialogkreis zwischen Polizisten und eher polizeikritischen Leuten aus der Friedens- und Bürgerrechtsbewegung gegründet. Auf öffentlichen Themenabenden wurde kontrovers über damals heiße Eisen wie zum Beispiel „Rassismus in der Polizei?“ diskutiert. Diese Dialoge waren innerhalb der Polizei sehr umstritten. Das Ganze hat meine Karriere nicht beschleunigt, aber eben auch nicht verhindert. Dennoch bin ich sicherlich ein Beispiel dafür, dass man in der heutigen Polizei nicht einfach fallen gelassen wird, wenn man etwas tut, was nicht unbedingt dem Mainstream entspricht.

 

FR: Kollegen haben sich doch sicher von ihnen distanziert?

 

B: Bei späteren Einsatzbesprechungen wurde ich von Kollegen auswärtiger Behörden, die aus Anlass von Demonstrationen angereist waren,  schonmal gefragt: Müssen wir damit rechnen, dass sie uns nach dem Einsatz anzeigen? Also diese Vorbehalte habe ich zu spüren bekommen.  Wobei es in aller Regel eher subtiler war. Ich habe die Distanz eher atmosphärisch wahrgenommen. Es war nicht immer leicht.

 

FR: Ist die Grenze zwischen zulässiger Gewalt und Missbrauch des Gewaltmonopols, das die Polizei nunmal hat, denn nicht genau markiert?

 

B:  Ich bin seit 1972 Polizist und habe alle Facetten dieses Berufs kennengelernt, bin also selber in den 70er Jahren in Köln  auf einem Streifenwagen gefahren. Man ist vielen Situationen ausgesetzt, in denen man seine eigene Haut retten muss und auf die Hilfe des Kollegen angewiesen ist.  Polizisten, die auf der Straße arbeiten, haben keine Chance, Gewalt zu vermeiden, vor Gewalt wegzulaufen. Es wird zu Recht von Polizisten erwartet, dass sie in aggressiv zugespitzten Situationen einschreiten, dass sie dazwischen gehen, dass sie Randalierer trennen, dass sie den tobenden Ehemann zur Raison bringen. Und bei dieser Gewaltanwendung wird es zu Fehlern kommen, wie in allen Berufen, die unter Stress und hoher Eigengefährdung in einer dynamischen Situation arbeiten.

 

FR: Haben sie persönlich die Balance hier immer einhalten können oder sind auch Sie schonmal ausgerastet?

 

B: An einen Fall, den ich als 21-jähriger Streifenpolizist erlebt habe, kann ich mich besonders gut erinnern.  Während einer Verkehrskontrolle sollte ein etwa gleichaltriger Angetrunkener in das Alcotestgerät  pusten.  Der feixte dabei jedoch nur rum, versuchte mich ständig zu provozieren und vor seinen Beifahrern und vor Schaulustigen lächerlich zu machen.  Nachdem das einige Zeit hin und her ging und er den Alcotest nicht ordnungsgemäß durchführen wollte, kündigte ich ihm die Mitnahme zur Wache und eine Blutprobe dort an. In dem Moment rannte der weg und rief mir noch zu, wollen doch mal sehen, wer schneller ist. Es war Winter, ich hatte einen Parka an. Bin dann in voller Montur hinter dem her gerannt und habe ihn letztlich japsend  gekriegt. Ich war so gereizt und wütend, dass ich ihm sofort eine Ohrfeige verpasst habe. Dieser Ausraster hat mir anschließend sehr viel Kopfzerbrechen bereitet. Habe damals eine halbe Nacht mit meiner Frau zusammen gesessen und mich gefragt, was soll ich jetzt machen? Soll ich mich selber anzeigen? Ich hatte mich gerade für den Aufstieg zum Polizeikommissar beworben. Mir war klar, wenn du das machst, kannst du das alles vergessen. Es wird ein Strafverfahren und ein Disziplinarverfahren eingeleitet. Deine Karriere kannst du im Grunde als beendet betrachten. Ich habe dann letztlich gekniffen und habe mich nicht selber angezeigt. Der Geohrfeigte hat ebenfalls keine Anzeige gegen mich erstattet.

 

FR: Sie bekamen im Jahr 2002 vom Kölner Polizeipräsidenten den Auftrag, einen Polizeiskandal aufzuarbeiten. Was war damals passiert?

 

B:  Ein etwa 30jähriger Mann hatte in der Wohnung, in der er mit seiner Mutter lebte, randaliert. Die von Nachbarn gerufenen Polizisten wussten zu diesem Zeitpunkt nicht,  dass er psychisch krank war. Sie hörten nur den Lärm und haben sich dann völlig richtig entschlossen, die Tür dieser Wohnung einzutreten. Der Mann, der sich heftigst wehrte,  wurde überwältigt und gefesselt  zur Polizeiwache gebracht. Nun beginnt der eigentliche Skandal. Auf der Wache wurde er von insgesamt sechs Beamten geschlagen und getreten. Das Landgericht Köln  hat das später als gezielte „Abreibung“ klassifiziert. Das Tragische war, dass dieser Mann, der gesundheitlich vorgeschädigt war,  ins Koma fiel und nach einigen Tagen gestorben ist. Die sechs beteiligten Beamten wurden zu Bewährungsstrafen von mindestens einem Jahr verurteilt und aus dem Dienst entfernt.

 

FR: Die alles wurde damals nur deshalb öffentlich, weil zwei Kollegen Anzeige erstattet hatten.

 

B:Die Kronzeugen dieses Prozesses, eine Kollegin und ein Kollege,  hatten eine ungleich schwierigere Stellung, als ich damals bei meinen beiden Anzeigen. Sie hatten   als gleichrangige Kollegen dieses Geschehen auf der Wache vom Schreibraum aus verfolgt. Dabei hörten sie den Krach, sind  aufgesprungen, haben sich das angeschaut und dann geschrien:  hört auf damit. Und nun haben diese Beiden etwas getan,  was ich menschlich sehr gut nachvollziehen kann: Sie haben nämlich anschließend eine schlaflose Nacht verbracht, sich untereinander beraten. Am nächsten Tag erst haben sie  Anzeige erstattet. Aber genau diese Verzögerung von einigen Stunden  hat dazu geführt, dass sie zunächst  selber Beschuldigte in einem Strafverfahren wurden. Wegen unterlassener Hilfeleistung  – obwohl sie dazwischen gegangen sind – und wegen  Strafvereitelung im Amt. Von der Rechtslage her hätten sie sofort noch in der Nacht gegen ihre Kollegen Anzeige erstatten müssen. Das genau ist das Dilemma, in dem sich Polizisten befinden. Das erklärt auch, warum häufig diese berühmt berüchtigte Mauer des Schweigens bei der Polizei da ist. Entweder man handelt von der ersten Sekunde an absolut richtig oder man schweigt, um sich nicht selbst einer strafrechtlichen Verfolgung auszusetzen.

 

FR: War der Fall damit für sie erledigt?

 

B: Nein, wir sind  der Frage nachgegangen,  ob dieser Übergriff eine Art Betriebsunfall war oder eher auf ein strukturelles Problem hindeutete. Zwei Aspekte deuteten für mich eher  auf strukturelle Probleme hin. Zum einen hatten die Beamten vom Streifengwagen aus  über Funk den Kollegen auf der Wache durchgegeben:  Stellt schon mal das „Empfangskommando“ bereit. Außerdem hatte ein Beamter einem bei der Festnahme  leicht verletzten Kollegen später auf der Wache gesagt: Wir haben dich gerächt.  Der Begriff „Empfangskommando“ wurde sicherlich nicht  in dieser Nacht erfunden.  Als Reaktion auf diesen Funkspruch hatten die Beamten auf der Wache Handschuhe angezogen, sich so auf die Ankunft des Streifenwagens und des Festgenommenen vorbereitet. Die zweite Aussage, man habe den Kollegen gerächt, war für mich ebenfalls alarmierend.  Was ist das für eine Polizeikultur, in der die Polizisten als Rächer auftreten? Wir alle  mussten uns daher fragen, wo liegen strukturelle, kulturelle Hintergründe dafür, dass wir „Empfangskommandos“ bereitstellen und Beamte rächen.

 

FR: Amnesty International bewertet Ihre Aufarbeitung des Geschehens auf der Kölner Eigelsteinwache als geradezu vorbildlich. Aber geben sie mir mal die Antwort auf die Frage: Warum ist es zu diesem Gewaltübergriff überhaupt gekommen?

 

B: Es gibt nicht die Antwort. Wir haben in einem über einjährigen  Aufarbeitungsprozess  versucht mit allen Kolleginnen und Kollegen zu sprechen. Haben uns gefragt, wie können wir eine selbstkritische, konstruktive Reflexion in den Teams fördern? Wie können wir gemeinsam mit allen knapp 50 Führungskräften dieser hoch belasteten Polizeiinspektion eine  einheitliche Führungskultur entwickeln? Ganz wichtig in diesem Aufarbeitungsprozess war für mich dabei die Unterstützung durch zwei Psychologen und einen in Supervision erfahrenen Polizeipfarrer.

 

FR: Was kam dabei heraus?

 

B:  Kollegialität im richtigen Sinne muss gestärkt werden. Die Kollegen arbeiten in einer Gefahrengemeinschaft. Die Frage ist, wo kippt der zum Teil lebensnotwendige Teamgeist in einen negativen Korpsgeist um, wo entstehen Abschottungstendenzen hin zu einer verschworenen Gemeinschaft, die sich eigene Regeln setzt.  Wir haben versucht den Kollegen klar zu machen, dass ein Nestbeschmutzer derjenige ist, der den Schmutz ins Nest trägt und nicht derjenige, der auf den Schmutz hinweist.  Und gegen den Berufskodex verstößt nicht der Kollege, der Fehlverhalten anprangert, sondern derjenige,  der dieses Fehlverhalten begeht oder zu Fehlverhalten schweigt. Wir haben versucht eine Kultur des kollegialen Hinschauens zu etablieren, ein Frühwarnsystem für problematische Entwicklungen, ohne dabei  in ein System gegenseitiger Bespitzelung zu geraten.

 

FR: Welche Strukturen innerhalb der Polizei fördern den falsch verstandenen Korpsgeist, das gegenseitige Sichdecken?

 

B. Gerade Polizisten, die in einem Schichtsystem arbeiten, für die wird die Dienstgruppe häufig zu einer Art  Zweitfamilie. Dieser Schichtdienst bringt es mit sich, dass man oft auch seine Freizeit nur mit seinen Kollegen verlebt. Man muss eben am Samstagabend arbeiten, wenn alle anderen ausgehen oder auch am Sonntag, wenn andere auf dem Fußballplatz sind.  Und aus so einer privat und beruflich zusammengeschweißten Gruppe nun jemanden, der sich falsch verhält, auszuschließen, ist eine sehr hohe Anforderung. Aber genau dieser Ausschluss ist in der Regel die Folge bei einem ausschließlich an Straf- und Disziplinarrecht ausgerichtetem Umgang mit einem Fehlverhalten. Das rechtliche Zwangskorsett, das es so für keine andere Berufsgruppe gibt, fordert ausnahmslos eine sofortige Anzeigenerstattung auch bei kleineren Verfehlungen wie einer Beleidigung oder einer ausgerutschten Hand. Es gibt daher rechtlich keinen Raum für eine kollegiale Aufarbeitung.

 

FR: Was wäre denn ihrer Meinung nach eine Alternative hierzu?

 

B: Es sollte über eine Art Ombudsmann, eine neutrale Schiedsstelle nachgedacht werden. Dieser Schlichter  könnte dann zum Beispiel bei Beleidigungen oder einfachen Körperverletzungen dem Beamten die Möglichkeit geben, sich zu entschuldigen oder mit dem Opfer einen Schadensersatz zu vereinbaren. Hierdurch könnte innerhalb der Polizei eine ganz neue Fehlerkultur entstehen, das Thema Gewaltübergriffe könnte  innerhalb der Polizei enttabuisiert und in der Öffentlich entskandalisiert werden. Denn beide Tendenzen, die Tabuisierung dieses Themas in der Polizei und dessen Skandalisierung in der Gesellschaft, bedingen einander und behindern einen angemessenen Umgang mit Fehlverhalten, dass es in der Polizei – und ich möchte ausdrücklich betonen, wie in jeder anderen Berufsgruppe – immer geben wird.