Der Traum vom Sozialismus ist geplatzt, WDR5, Neugier genügt, 24.4.2009

Der Traum vom Sozialismus ist geplatzt

Kuba und sein Schriftsteller Leonardo Padura

 

Atmo Straßenlärm Havanna mit Straßenmusik, Atmo wird immer wieder unterlegt, muss bei der Produktion dann entschieden werden wo und wann.

 

O-Ton Bouqinist:

I am a guy who sell books. I am a guy, who knows about books.

 

Autorin:

Der Bouquinist an einem der klapprigen Holzstände unter den Arkaden auf Havannas Plaza de Armes will zwar eigentlich überhaupt nicht ins Mikrophon der neugierigen deutschen Journalistin sprechen.

 

O-Ton 1046,10

Non, no, no, don’t do this, please.

 

Autorin:

Doch dann lässt er sich  hinreißen und zählt auf, wen er alles kennt:

 

O-Ton

I know Günther Grass. I know Thomas Mann. I know Hoffmann. I know Novalis. I know Simplicissimus.

 

Autorin:

Und – ja – natürlich kennt er auch Leonardo Padura, einen der zumindest im Ausland inzwischen renommiertesten kubanischen Autoren.

 

O-Ton

I haven’t read the novels of Leonardo Padura.

 

Autorin:

Gelesen hat er keines seiner Bücher. Dennoch ist er wütend auf Padura, schimpft lautstark. Nicht ins Mikrophon, das ist ihm dann doch zu gefährlich. Gott weiß, in wessen Hände seine Worte geraten könnten. Aber sobald das Aufnahmegerät abgeschaltet ist,  kann er einen Fluch nicht zurückhalten;

 

Sprecher:

Dieser Leonardo Padura ist ein Mistkerl. Er hat alle Geheimnisse unseres Berufsstandes verraten, unsere Preise, unsere Verkaufswege. Und deshalb soll der  sich hier bloß nicht mehr blicken lassen,  es nur nicht wagen, auf der Terrasse des Restaurants Mina, gleich gegenüber vom Stand des verärgerten Bouqinisten, einen Kaffee zu trinken. Dann kann er was erleben!

 

Atmo Straßenlärm und Straßenmusik aus Havanna

 

Autorin:

Wie hat es der  Schriftsteller, geschafft, sich die Straßenbuchhändler von Havannas Palza de Armes zum Feind zu machen? In seinem neuesten Krimi „Der Nebel von gestern“ verweilen Paduras Protagonisten, der ehemalige Polizist Mario Conde und dessen Kumpel El Palomo,  auf der  Terrasse des Mina  bei einem Kaffee. Weil Palomo von dort aus so gut seinen Verkaufsstand überwachen kann.  Und weil ihm dieser Stand

 

Sprecher:

„sozusagen zur Beruhigung der Behörden“

 

Autorin:

als Deckmantel für seine eigentlichen, illegalen Geschäfte dient. Dreimal pro Woche zeigt Palomo dort seine legalen, für den schnellen Verkauf bestimmten Raritäten. An den übrigen Tagen betreibt er sein eigentlich weitaus gewinnbringenderes Geschäft bei sich zu Hause in der Calle Amargura, in die ihm auch Mario Conde Bücher liefert.

 

 

 

Sprecher:

Vor mehr als 13 Jahren hat El Conde seine Arbeit bei der Kripo aufgegeben und sich mit Leib und Seele dem launischen Geschäft des An – und Verkaufs alter Bücher verschrieben. Zu seinem Glück oder Unglück – das hätte er selbst nicht so genau zu sagen gewusst – fielen sein Austritt aus dem Polizeidienst und sein notgedrungener Eintritt in die Geschäftswelt mit der offiziellen Ankündigung der Krise auf der Insel zusammen. Wie durch einen bösen Fluch war der Mangel fast schlagartig zum Dauerzustand geworden. Jeder Gegenstand, jede Dienstleistung bekam einen nie gekannten Wert und verwandelte sich in der allgemeinen Unsicherheit in etwas völlig Neues – ob Streichholz oder Aspirin, ob ein Paar Schuhe oder eine Avocado. Die Not war so allumfassend, dass selbst die ehrwürdige Welt der Bücher nicht verschont blieb.

 

Autorin

Conde und Palomo schmuggeln wertvolle Buchraritäten ausser Landes, die dann bei Versteigerungen in Europa und Nordamerika beachtliche Preise erziehen. Bücher, die ihm die Leute aus Not verkaufen,  Familienschätze, die alle vorangegangenen Erdbeben überlebt hatten. Ein einträgliches Geschäft für Beide, eine Überlebenshilfe für die hungernden Verkäufer des Familienerbes.

 

O-Ton Padura overvoice:

Sprecher:

Es ist  ein Roman der Enttäuschung, eine reichlich traurige Sicht auf bestimmte Teile der kubanischen Gesellschaft. Ich wollte zeigen, was aus diesem Leben nach der Krise Anfang der 90er Jahre wurde, nachdem auch der Traum vom Sozialismus geplatzt ist.

 

Autorin:

Einem Sozialismus der, glaubt man Leonardo Paduras Krimis, bis Anfang der 90er Jahre regelrecht Spaß gemacht hat. Einer seiner ehemaligen Klassenkameraden  kann sich noch sehr gut an die gemeinsame Schulzeit erinnern:

 

O-Ton Perez

Ich heiße Jorge Luis Perez. Ich bin geb. vor 54 Jahren in eine kleine Stadt, 48 Kilometer weit von der Stadt Havanna. Ich habe die Grundschule im Dorf gemacht, und dann habe ich Abitur gemacht im Pre-Universitario René Aviria, wo Padura auch gelernt hat, Oberstufe. Wir waren drei Jahre zusammen in der Schule.   Ich erinnere mich sehr gut an diese drei Jahre, obwohl für mich eine große Anstrengung war. Ich musste jeden Tag zwei Stunden nach Havanna fahren vom Dorf und zwei Stunden zurück. Aber ich kann diese Zeit bezeichnen als eine der glücklichen Jahre in meinem Leben. Das war die Jahre in den 70er, wo natürlich noch sehr gute Jahre für Kuba, durch die Unterstützung durch die Sowjetunion und die sozialistischen Länder. Und natürlich haben wir ein gutes Leben gehabt.

 

Autorin:

Für Perez ebenso wie für den Schriftsteller Padura war dies eine besondere Zeit:

 

O-Ton Perez

Voller Hoffnung. Ja, wir haben geglaubt, wir können die Welt, wir können den Sozialismus aufbauen, mit unserer Hoffnung. Und natürlich war eine romantische Zeit, es war keine Enttäuschung. Es war wirklich die beste Zeit unseres Lebens.

Die Welt war in Ordnung für uns, und auf einmal diese Welt ist kaputt gegangen durch die ganzen Umbrüche, Zusammenbruch von den sozialistischen Ländern. Dann die Verhältnisse sind nicht so wie früher, und natürlich war eine gewisse Lebenskampf. Aber diese Zeit, wir waren privilegiert, wir haben die besten Jahre von Kuba erlebt.

 

Autorin:

Das alles ist lange vorbei. Ausführlich erzählt Leonardo Padura in seinem neuesten Krimi, wie armselig das Leben auf Kuba inzwischen geworden ist. Ex-Polizist Mario Conde  repräsentiert dabei den Kubaner von heute. Der Probleme hat, mit seinem kargen Einkommen und seiner Lebensmittelkarte über die Runde zu kommen. Der auch schon mal Not leidet.  Eine Not, die auch Touristen wie Bernd Scherer nicht verborgen bleibt. Obwohl er eigentlich angereist ist, um sich in einem nobeln Strandhotel an der karibischen Küste zu erholen.

 

O-Ton Scherer

Na ja, das kriegen wir schon mit. Und wenn man hierhin fährt, man informiert sich auch. Man weiß auch, wie die Situation der Leute ist und wir wissen, welchen Mangel es gibt, und dass es Lebensmittelkarten gibt. Und dass auch die Leute, die hier arbeiten sicherlich zu den Privilegierten gehören. Aber wir sehen auch, wenn wir hier nicht herfahren würden, würde es vielen noch viel schlechter gehen. Und deswegen tut es uns auch nicht weh, wenn wir mit dem in Deutschland verdienten Geld ein bisschen was für die Infrastruktur mit tun können. Denn außer dem Tourismus bleibt diesem Land ja nicht viel. Man muss ja auch sehen, dass es die US-amerikanische Politik noch gibt, die eben hier nichts reinlässt.

 

Autorin:

Leonardo Padura streift in seinem Krimi das Thema Drogen, die man in Havannas Armenviertel inzwischen leicht erwerben kann und die es offiziell gar nicht gibt. Ebenso wenig wie  Prostitution,  Gewalt und Korruption. Padura verschweigt nicht,  dass jeder in Kuba dazu verdienen muss, illegal und immer in Gefahr, erwischt zu werden. Auch der  Arbeiter, auch der Arzt. Psychiater Angel Cruz Gonzales, räumt dies auch ein und gibt zu, dass ihm seine Patienten zu jeder Konsultation eine Kleinigkeit mitbringen, ein Huhn, Rum, Kartoffeln, was sie so haben.

 

O-Ton Angel overvoice

Sprecher

Aber natürlich kann ich von diesen kranken Menschen nicht viel verlangen.

 

Áutorin:

Mutig und offensiv vertritt Padura seine kritische Haltung gegenüber der kubanischen Wirtschaftspolitik. Wohlwissend,  dass in Kuba Regimekritiker schon für weniger deutliche Worte ins Gefängnis gekommen sind. Vielleicht schützt den Schriftsteller ja seine internationale Anerkennung. Für den nun  auf deutsch erschienenen Krimi: „Der Nebel von gestern“ wurde er zum Beispiel 2005 mit dem Hammett-Preis für den besten spanischsprachigen Kriminalroman des Jahres ausgezeichnet.

 

O-Ton Padura overvoice

Sprecher:

Das hat überhaupt nichts mit Mut zu tun. Wenn ich ein Buch fertig habe, dann bin ich immer sehr ängstlich, denn man weiß ja nie, welche Reaktionen es hervorruft. Aber als Schriftsteller, Intellektueller, Bürger, der all diese Jahre hindurch in Kuba gelebt hat, habe ich die Verantwortung, so zu schreiben. Ich habe alle Entbehrungen und Beschränkungen in Kuba erlebt. Und das gibt mir irgendwie das Recht dazu, eine kritische Version von meinen Lebensbedingungen zu verbreiten. Denn nur wenn wir uns dieser Probleme bewusst sind, sind wir auch in der Lage, sie zu lösen.

 

Autorin:

An einem glutheißen kubanischen Septembernachmittag  steht Ex-Polizist Mario Conde in einer einst vornehmen Villa  vor einem unermesslichen Schatz:  vor alten Folianten,  Erstausgaben, alles, was das Herz begehrt. Deren Besitzer, eine alte Frau und ihr altersschwacher Bruder, sind derart ausgehungert, derart gierig danach, endlich wieder etwas Anständiges essen zu können,  dass sie ihm die Bibliothek zum Kauf anbieten. Der Bruder

 

Sprecher:

„hätte dringend eine Rasur und, wie seine Schwester, drei Mahlzeiten pro Tag mit ausreichenden Kalorienmengen nötig gehabt“,

 

Autorin:

Heißt es über die Beiden.

 

Sprecher:

„Sie wissen doch, wie die Dinge stehen, die Rente reicht hinten und vorne nicht“,

 

Autorin:

beklagt der alte Mann.  Ob das denn stimme, was Padura so schreibe? Auf diese Frage antwortet Jose Ramondo Gonzales, ein ehemaliger Physik-Professor, Schriftsteller und Mitglied im Kubanischen Schriftstellerverband:

 

O-Ton overvoice

Sprecher:

Für Padura ist der Kriminalroman lediglich ein Vehikel, das er benutzt, um die kubanische Wirklichkeit zu zeigen. Seine Bücher sind in Kuba nicht leicht zu kaufen. Aber sie sind nicht verboten.

Autorin:

20 Euro kostet „Der Nebel von gestern in Kuba,  beklagte Padura kürzlich in einem Interview. Für einen Kubaner, bei einem Einheitslohn von umgerechnet 25 Euro,  geradezu unerschwinglich.  Wer sich über das Land informieren will, erfährt aus „Der Nebel von gestern“ allerdings mehr über Kubas Alltag, als in jedem Reiseführer nachzulesen wäre.

 

Sprecher:

„Schluss mit den Lebensmittelheftchen! Jetzt wird gespeist, wie es Gott gefällt“,

 

Autorin:

ruft  Mario Conde seinen Freunden zu, nachdem er das Geschäft seines Lebens mit der Bibliothek des alten Mannes und seiner Schwester gemacht hat. Und dann wird geschlemmt,  Austern- und Krabbencocktail, Fleisch und Kartoffeln, Kichererbseneintopf mit Kasseler, Reis mit Huhn, eine Schinkenpizza und Nachtisch. Mit dem entsprechenden Kleingeld kann dies in Kuba jeder kaufen. Der Effekt der Schlemmerei ist, dass Conde am nächsten Tag zwar Magendrücken hat, dennoch aber wenigstens für eine Weile vergessen kann, dass

 

Sprecher:

„das Leben an uns vorbeigegangen ist“,

 

Autorin:

Man habe, so lamentieren seine Freunde,  die Kubaner gezwungen einen Weg einzuschlagen,

 

Sprecher:

„der voller Opfer, Verbote, Verweigerungen, Entbehrungen“

 

Autorin:

ist. Der  Buchhändler auf der Plaza de Armes bestätigt dies nickend, vergisst für einen Moment seinen Zorn auf den Schriftsteller und ergänzt Paduras literarische Betrachtungen mit den Worten: Das werde auch so bleiben,  solange jedenfalls, wie die Amerikaner ihr Embargo aufrecht halten. E N D E

 

Zeitungsfeature /Bank Extra

Kuba und Leonardo Paduras Krimi „Der Nebel von gestern“

 

 

 

Kuba, Frühjahr 2009. Äußerlich scheint alles beim Alten. Am Flughafen begrüßt als erstes ein verblasstes Plakat mit dem Text „Revolution o muerte„ die keineswegs auf die Alternative von Revolution oder Tod eingestellten Ankömmlinge. Konterfeis von Che Guevara, Fidel und Raoul Castro säumen die Straßen. In dem Staatsorgan „Grandma“ meldet sich der todkranke Fidel Castro zu Wort und erklärt, er überarbeite von seinem Krankenbett aus derzeit alle an sein Volk geführten Reden.

 

Der Buchhändler auf dem Plaza de Armes, mitten in Havannas Altstadt, will zwar seinen Namen nicht nennen. Aber einen Fluch kann er dann doch nicht zurückhalten:  “So ein Mist aber auch“, schimpft er in seinem kubanisch eingefärbten Spanisch und wechselt mit Leichtigkeit ins Englische über. „ Dieser Leonardo Padura ist ein Mistkerl. Er hat alle Geheimnisse unseres Berufsstandes verraten, unsere Preise, unsere Verkaufswege.“  Deshalb dürfe der sich hier bloß nicht mehr blicken lassen. Er solle es nur nicht wagen, auf der Terrasse des Restaurants Mina, gleich gegenüber vom Stand des verärgerten Bouqinisten, einen Kaffee zu trinken. Das werde ihm schlecht bekommen.

 

Tatsächlich lässt der kubanische Schriftsteller Leonardo Padura in seinem soeben auf deutsch erschienenen Krimi „Der Nebel von gestern“, einen seiner Protagonisten, den gewieften Buchaufkäufer El Palomo, im Mina Kaffeetrinken. Weil er von dort aus so gut seinen Verkaufsstand überwachen kann.  Denn dieser  Stand  dient ihm „sozusagen zur Beruhigung der Behörden“, als Deckmantel für seine eigentlichen, illegalen Geschäfte. Dreimal pro Woche zeigt Palomo am Plaza de Armes seine legalen, für den schnellen Verkauf bestimmten Raritäten, während er an den übrigen Tagen sein eigentliches, weitaus gewinnbringenderes Geschäft bei sich zu Hause in der Calle Amargura betreibt.

Ein Geschäft, das darin besteht,  wertvolle kubanische Folianten ausser Landes  zu schmuggeln, die dann bei Versteigerungen in Europa oder Nordamerika beachtliche Preise erzielen. Literarische Raritäten, die ihm Kubaner in ihrer  Not verkaufen. Leute, die fast täglich zu ihm nach Hause pilgern, verzweifelte Eigentümer von Bibliotheken, die seit Generationen in Familienbesitz alle vorangegangenen Erdbeben überlebt haben. Und nun dem Hunger geopfert werden. Ein einträgliches Geschäft für Palomo, eine Überlebensgarantie für die Verkäufer des Familienerbes.

 

Es sei „gewiss ein Roman der Enttäuschung, eine reichlich traurige Sicht auf bestimmte Teile der kubanischen Gesellschaft“, umreißt  Padura sein Buch. Darin wolle er zeigen, „was aus diesem Leben nach der Krise Anfang der 90er Jahre wurde, nachdem auch der Traum vom Sozialismus geplatzt ist.“ Kuba, so seine These, brauche dringend grundsätzlich wirtschaftliche Veränderungen, die kubanische Ökonomie habe in den 50 Jahren seit der Revolution „ihre völlige Unfähigkeit bewiesen“. Mutig und offensiv vertritt er seine Haltung in diversen Interviews. Wohlwissend, dass in Kuba Regimekritiker schon für weniger deutliche Worte ins Gefängnis gekommen sind. Vielleicht schützt den Schriftsteller ja seine internationale Anerkennung. Für den erst jetzt auf deutsch erschienenen Krimi: „Der Nebel von gestern“ wurde er zum Beispiel 2005 mit dem Hammett-Preis für den besten spanischsprachigen Kriminalroman des Jahres ausgezeichnet.

 

Nach drei Wirbelstürmen, die einen verheerenden in die Milliarden Euro gehenden Schaden auf der Insel anrichteten, nach harten Jahren infolge des Zusammenbruchs der allunterstützenden Sowjetunion und eines noch immer anhaltenden US-Embargos, schnüren die Kubaner schon seit langem in einer nicht endenwollenden sogenannten „Sonderperiode“ ihren Gürtel eng und enger. Und Padura beschreibt, ummantelt als Kriminalgeschichte, die Entbehrungen und das, was sie an Drogenhandel, Prostitution und Gewalt auf die Insel bringen.

 

Tatsächlich reichen die mittels der Libreta, der Lebensmittelkarte, ausgeteilten Portionen an  Reis, Milch, Bohnen, Zahnpaste, Seife, Tampons einfach nicht aus.  Beängstigende Szenen, wenn tatsächlich mal irgendwo Fleisch verteilt wird und sich die Leute fast zu Tode drängeln, kommen immer wieder vor. Hinzu kommt, dass die Kubaner ihre seit 1990 fast durchweg anhaltende Diät aus Reis und schwarzen Bohnen leid sind und deshalb verzweifelt zur Selbsthilfe gegriffen haben. „If you don’t get money out of records, you cannot live“, räumt der Bouqinist am Plaza de Armes ein. Wer also nichts dazuverdient, kann von seinem regulären monatlichen Einkommen in Höhe von umgerechnet 25 Euro einfach nicht leben.

 

„Mecaniceros“ heißen die Herren der Stunde, bei denen man die fehlenden Dinge des Lebens wie Schnürsenkel, T-Shirts, Creme, Aspirin, Seife oder Steckdosen in Auftrag geben kann, und die sie besorgen. Niemand weiß genau wie. Für gutes Geld, versteht sich, für CUCs, die von über zwei Millionen Touristen pro Jahr benutzte Währung. Auf die sind auch die Hausfrauen scharf, die ihre Wohnung regelmäßig für Gäste öffnen, sie bekochen und aus den „Paladares“ – wie diese Privatrestaurants heißen – inzwischen ein einträgliches Gewerbe gemacht haben. Oder auch die Zimmermädchen, die die Hotelhandtücher zu kunstvollen Formen falten, um den Gast nur ja an sein Trinkgeld zu erinnern.

 

Jeder, der irgendwie kann, hat einen Nebenjob. Illegal und von Sanktionen bedroht. Oder er setzt auf Verwandte im Ausland, die regelmäßig Devisen schicken. Denn mit Geld ist auch heute noch in Kuba fast alles möglich. Wer CUCs besitzt, die Pesos Convertibles, kommt überall rein. Selbst ins Coppelia, der angeblich besten Eisdiele der Welt. Dort kann er auf den Spuren des Films „Erdbeer und Schokolade“ so richtig schlemmen.  In Kuba derzeit eine Besonderheit.

 

Angel Cruz Gonzales del Valle, Psychiater in äußerst westlich gelegenen Holguin, versichert zwar verschmitzt lachend, dass er schon zurecht komme mit seinem Lohn. Um allerdings kurz darauf einzuräumen, dass ihm seine Patienten meist irgendein Geschenk mitbringen, mal ein paar Kartoffeln,  Eier,  ein Hühnchen. „Viel kann ich von diesen kranken Menschen nicht verlangen“, fügt er hinzu. Das Gesundheitssystem Kubas ist zwar herausragend und vorbildlich für Mittel- und Südamerika. So wird das aus Venezuela derzeit gen Kuba gelieferte Benzin  unter anderem mit dem Export gutausgebildeter Ärzte bezahlt. Doch es fehlt an Medikamenten.

 

„Seife, Seife, jabon, jabon, Kugelschreiber, Zahnpasta“. Worte, die der herumschlendernde Tourist häufig von vorbeigehenden Passanten zugeflüstert bekommt. Gebettelt wird diskret aber mit Nachdruck. Touristen sind die Hoffnung – die der alten Frau, die in Havanna mit einer überdimensional großen Zigarre im Mund  auf einem Fenstersims sitzt. Unweigerlich stoppen Herumschlendernde, zücken ihre Kameras und geben ein Trinkgeld. Auch die  an allen Straßenecken aufspielenden Musikbands leben vom Almosen der Touristen. Die Überlebensdevise lautet: Nur derjenige, der über CUCs verfügt, kann sich etwas leisten. Nur der, der dazuverdient, kann überleben. So wie die 68jährige  ehemalige Militärangehörige Meta Gutierrez. Sie  arbeitet regelmäßig in einem Sportclub, um ihre Rente aufzubessern. Ebenso wie die 66jährige Marta Legaro, einst Literaturprofessorin, die nun durch Spanischunterricht etwas dazu verdient.  Bezahlt in Pesos Nationale, der Währung der Armen auf Kuba.

 

Thomas Fischer aus Leipzig, der an der kubanischen Karibikküste zum wiederholten Male seinen Urlaub verbringt, fühlt sich bei all dem doch sehr an seine DDR-Vergangenheit erinnert. „Viel krasser noch.“ Er habe inzwischen mitbekommen, „dass viel Schwarzarbeit gemacht wird, viel aus den Betrieben rausgeholt wird, und getauscht wird, weil die Leute gar nichts haben. Sie müssen lange auf Kühlschränke und Fernseher warten. Bei uns war das auch so. Also die Leute sind wirklich ganz arm dran. Das hätte ich nicht für möglich gehalten.“

 

All dies hat Leonardo Padura in seinem neuesten Buch beschrieben, in dem aus dem ehemaligen Polizisten Mario Conde inzwischen ein Aufkäufer alter Bibliotheken und Bücher geworden ist. Als Paduras Protagonist Mario Conde Anfang der 90er Jahre seinen Dienst quittierte, stürzte Kuba zeitgleich in eine tiefe Krise. Hunderte von Privatbibliotheken verwandelten sich in stinkende aber auch rettende Geldscheine. So steht denn Mario Conde  eines Tages, an einem glutheißen kubanischen Septembernachmittag,  in einer einst vornehmen Villa im Stadtteil Vedado vor einem unermesslichen Schatz:  vor alten Folianten, Büchern, deren Wert in den USA in die zigtausende von Dollar gehen würden, Erstausgaben, alles, was das Herz begehrt.

 

Deren Besitzer, eine alte Frau und ihr altersschwacher Bruder, sind derart ausgehungert, derart gierig danach, sich endlich wieder etwas Anständiges zu Essen besorgen zu können, dass sie ihm die Bibliothek zum Kauf anbieten. Der Bruder „hätte dringend eine Rasur und, wie seine Schwester, drei Mahlzeiten pro Tag mit ausreichenden Kalorienmengen nötig gehabt“, beschreibt Padura seine beiden Helden. „Sie wissen doch, wie die Dinge stehen, die Rente reicht hinten und vorne nicht“, beklagt der alte Mann.

 

Ja, ja, das sei schon richtig, was dieser Padura so schreibe, meint der ehemalige Physikprofessor Jose Raman Gonzales, Mitglied des kubanischen Schriftstellerverbandes. Aber Padura dienten seine Kriminalromane mehr oder weniger doch nur als Vorwand, „um die Realität im heutigen Kuba“ zu zeigen, meint Gonzales. Leider könne ihn in Kuba kaum jemand lesen. Seine Krimis, die in Spanien verlegt werden, sind auf Castros Insel einfach zu teuer. Umgerechnet 20 Euro kosten sie hier, prangerte Padura selbst in einem seiner Interviews an. Für Besucher, die den Alltag der Kubaner kennenlernen wollen, sind sie  allerdings aufschlussreicher als jeder Reiseführer.

 

„Schluss mit den Lebensmittelheftchen! Jetzt wird gespeist, wie es Gott gefällt“, ruft Paduras Held, der ehemalige Polizist und jetzige Buchhändler Mario Conde seinen Freunden zu, nachdem er das Geschäft seines Lebens mit der Bibliothek des alten Mannes und seiner Schwester gemacht hat. Und dann wird geschlemmt, Gemüse und Fisch gegessen, Austern- und Krabbencocktail aufgetischt, Fleisch mit Sauce, Mandeleis zum Nachtisch. Heruntergespült mit chilenischem Wein und reichlich Rum. Sodass der untrainierte Magen von Mario Conde in der Nacht voll und ganz damit beschäftigt ist, „die erdrückenden Mengen an Lebensmitteln, die sein rücksichtsloser Besitzer in ihn hineinschaufelte, zunächst aufzunehmen und dann zu verdauen.“

 

Der Effekt ist, dass Conde wenigstens für eine Weile vergessen kann, dass „das Leben an uns vorbeigegangen ist“, wie Padura einen Freund Condes sagen lässt.  Man habe, so lamentieren die Freunde,  die Kubaner gezwungen einen Weg einzuschlagen, „der voller Opfer, Verbote, Verweigerungen, Entbehrungen“ ist. Der   Buchhändler auf der Plaza de Armes bestätigt dies nickend, vergisst für einen Moment seinen Zorn auf den Schriftsteller und ergänzt Paduras literarische Betrachtungen mit den Worten: Das werde auch so bleiben,  solange jedenfalls, wie die Amerikaner ihr Embargo aufrecht halten.