Haitianische Traumatherapeutinnen, WDR5, Neugier genügt, 12 Minuten, 18.3.2010

Haitianische Traumatherapeutinnen zur Fortbildung in Deutschland

O-Ton Myrtho 2/14:50 1.Sprecherin

Am 12. Januar um 10 vor fünf machte ich gerade Gymnastik. Da fing alles an. Und noch heute, sobald auch nur ein Tisch ein wenig wackelt, springe ich auf. Unsere Generation hatte in Haiti noch nie ein Erdbeben erlebt. So haben die Leute teilweise eigenartig reagiert. Einige glaubten zunächst an einen Gangsterüberfall, andere an eine Bombe. Es dauerte schon einige Sekunden, bis man sich klar darüber wurde, was da wirklich geschah.  Das Schrecklichste war, dass das Erdbeben  so lange andauerte: 35 Sekunden. Das ist sehr lang. 2/16:53 Wir hatten vorher schon einiges an Fürchterlichem in Haiti erlebt. Regierungsumstürze, Überschwemmungen, Wirbelstürme. Aber so etwas, nein, noch nie. Erdbeben kannten wir nicht.

Autorin:

Myrtho Chilosi ist Internistin und seit einigen Jahren auch Traumatherapeutin. Sie erlebt tagtäglich, wie notwendig es in Haiti seit dem Erdbeben vom 12. Januar ist, die unter Schock stehenden Menschen nicht nur medizinisch zu versorgen, sondern auch ihre Seele und ihr Gemüt wieder aufzubauen. Ein Bedarf, der stetig steigt. Je besser die äußerlichen Wunden versorgt werden, desto deutlicher wird, welcher Schaden die Psyche der Haitianer durch das Erdbeben erlitten hat.

O-Ton Roselyne 53:40 2. Sprecherin

Wir beschäftigen uns ja schon seit einigen Jahren mit Traumatherapie. Und gemeinsam mit der Ärzteorganisation Uramel haben wir in Port-au-Prince ein Psychotraumazentrum gegründet, mit dem Ziel, nicht nur traumatisierten Patienten zu helfen, sondern auch Kollegen und Kolleginnen in in dieser Therapieform auszubilden.

Autorin: Schon vor dem Erdbeben war Roselyne Benjamin als Traumatherapeutin in Haiti aktiv:

O-Ton Roselyne Benjamin 2/11.38 2.Sprecherin

Während und nach der Amtszeit von Präsident Aristide gab es viel Gewalt. Damals wurden zahlreiche Frauen durch Soldaten aus Aristides Privatarmee vergewaltigt. Zu der Zeit  habe ich mit „medecins du monde“ und auch anderen Organisationen zusammen gearbeitet, um diesen Frauen in Gruppentherapien zu helfen. Das war meine erste Erfahrung mit Traumatisierungen. Nach den Wirbelstürmen der letzten Jahre, die in Haiti viel zerstört haben, half ich ebenfalls traumatisierten Menschen. Dazu habe ich mich an der Universität von Montreal zur Traumatherapeutin ausbilden lassen.  2008 hatte ich dann das zunächst einschneidendste Erlebnis. Damals ist eine Schule in dem Port-au-Princer Stadtteil Petionville eingestürzt und hat 96 Kinder unter den Trümmern begraben. Viele Eltern standen danach regelrecht unter Schock. In Anschluss daran machten wir unsere ersten Erfahrungen mit Gruppentherapiearbeit. Gemeinsam mit Psychologen, Psychiatern, Ärzten. Wir haben ein Jahr lang trauernde Familien und überlebende Kinder betreut. Zu der Zeit hielt ich diese damalige Katastrophe für ganz schrecklich. Ich wusste ja noch nicht, was an viel Schrecklicherem noch möglich sein würde.

Autorin:Gleich nach dem Erdbeben, als noch keine internationale Hilfe angekommen war, ging es zunächst darum, die verletzten Menschen ärztlich zu versorgen. Die haitianischen Ärzte,  hatten oft selbst Familienangehörige oder Freunde verloren. Standen ebenfalls unter Schock.

O-Ton Myrtho 2/31:48  1.Sprecherin:

Anfangs, in den ersten 48 Stunden, mussten wir die Leute ärztlich versorgen. Den Verwundeten helfen. Danach erst begannen wir, uns um die psychische Befindlichkeit zu kümmern. Ich arbeitete in einer Klinik, in der vor allem Kinder lagen, die amputiert werden mussten. Das war sehr hart.  2/32:50 Da lagen die Kinder, die ihre Beine, ihre Arme, ihre Finger verloren hatten.  Das schwierigste war, mit deren Eltern zu arbeiten. Alles Menschen, die ihr Haus verloren hatten, denen andere Familienmitglieder umgekommen waren. Diese Leute hatten wirklich Hilfe nötig. Auch den Kindern musste geholfen werden. Dabei hatte ich den Eindruck, dass sie sich, solange sie in der Klinik waren, in Sicherheit fühlten. Das hört sich vielleicht komisch an, aber sie hatten ja keine Bleibe mehr.

O-Ton Roselyne 2/23:10  2.Sprecherin

Wir haben nicht sofort daran gedacht, Therapie anzubieten. Da wir schon in Traumatherapie ausgebildet waren wussten wir, dass es im Augenblick des absoluten Stresses  vor allem darum geht, die Menschen zu beschwichtigen. Erst ab dem 20. Januar habe ich dann ein Treffen mit Psychologen organisiert. Bei der Gelegenheit haben wir uns auf  eine gemeinsame  Vorgehensweise geeinigt. Auf zunächst ganz einfache Schritte.  2/24:14 Laut Protokoll war unsere  Hauptaufgabe, die Menschen zu beschwichtigen. Ihnen wieder ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Das war nicht einfach. Wenn man bedenkt, dass es nach dem großen Erdbeben noch zahlreiche teils heftige Nachbeben gab. Trotzdem mussten wir den Leuten erst einmal klar machen, was ein Erdbeben überhaupt ist.  2/25:31 Die Haitianer hatten so die Vorstellung, dass sich bei einem Erdbeben  große Erdspalten auftun, die die Leute verschlingen. Das hatten sie aus einem Film.

Autorin: Ute Sodemann arbeitet für die in Duisburg ansässige Hilfsorganisation Trauma-Aid, die ehrenamtlich psychologische Ausbildung in Dritte-Welt-Ländern anbietet.  Um in Haiti Fortbildungen für Traumatherapeuten zu organisieren, flog sie nach Haiti:

O-Ton Ute Sodemann 2/1:06

Wir sind dann zu Uramel gekommen und haben festgestellt, dass sie schon eine provisorische Klinik aufgebaut haben und ein provisorisches Büro. Wo ganz viele Leute auch schlafen oben, weil die keine Häuser haben. Vor Uramel selber lagern viele Menschen, die dort ihr Zelt oder ihr behelfsmäßige Struktur aufgebaut haben. Es wimmelt voller Leute in der Straße. Eine ziemlich steile Straße. Ich kann mir richtig vorstellen, wie der Regen die ganzen Zelte unterspült, wegspült zum Teil. Die Leute haben mich stark beeindruckt, weil sie sofort nach dem Erdbeben angefangen haben zu arbeiten. Und wirklich ohne Pause. Sind schon sehr gestresst und müde zum Teil.

Autorin:

In Haiti ging man traditionell, wenn es ein Problem gab, zum Priester oder nahm an einer Voodoo-Seance teil. Die Wenigsten hätten sich an einen Therapeuten um Hilfe gewandt. Das hat sich unter anderem durch die Aktivität von Traumaexperten wie Roselyne Benjamin und Myrtho Chilosi geändert.

O-Ton-Ute Sodermann 2/5:40

Roselyn und Myrtho haben  Zugang zu Krankenhäusern und Kliniken. Sie haben im Radio gesprochen, sie haben das Programm bekannt gemacht. Sie gehen mit Megaphonen raus auf die Plätze, wo die ganzen Leute antworten. Ich bin da selbst mitgelaufen. Und machen die drauf aufmerksam, wo sie hinkommen können, wenn die Leute Probleme haben. Also nicht nur Kopfschmerzen oder Durchfall, sondern auch mit anderen Problemen sich wenden können. Und das hat jetzt den Effekt, dass es allmählich bekannt wird, und dass man eben einfach dort anfragt.

Autorin:

Inzwischen steigt die Nachfrage immer mehr. Über 100 Psychologiestudenten wurden in einem Schnellverfahren geschult, traumatisierten Erdbebenopfern beizustehen. Sie gehen hin zu den Menschen, die noch immer unter Zelten auf öffentlichen Plätzen campen. Bieten Hilfe an, beruhigen, trösten. Leute kommen mit vordergründig körperlichen Symptomen wie Bluthochdruck, Atemerkrankungen, Entzündungen. Doch erfahrene Traumatherapeuten wissen, dass sich dahinter oft seelische Blessuren verbergen können. Längst nicht allen kann geholfen werden.

O-Ton Myrtho 2/36:13 1.Sprecherin:

Eine Traumatisierung beeinträchtigt die Konzentrationsfähigkeit des Betroffenen, sein Gedächtnis, seine Lernfähigkeit, seine Beziehung zu anderen Menschen. Alles das wird gestört.  2/44:36  Aber eine der häufigsten derzeit auftretenden Verhaltensauffälligkeiten besteht darin, dass niemand mehr in einem Büro arbeiten will. Weil Büros in Gebäuden liegen. Und davor hat man seit dem Erdbeben Angst. Befürchtet, die Häuser könnten einstürzen. Darin besteht eine ganz schwere Traumatisierung. Stellen sie sich mal vor, was das für die Wirtschaft des Landes bedeutet.

O-Ton Roselyne 2/45:27   2.Sprecherin:

Das Drama für diese Leute besteht ja darin, dass sie dennoch wieder zurück müssen in ihre Büros, in Häuser. Sie wollen es nicht, aber sie haben keine Wahl. Das alles löst Panik aus. Als es vor einigen Wochen ein Nachbeben gab, wollten sich Leute aus den Fenstern der Gebäude stürzen, in denen sie wieder arbeiteten. Sobald es einen Erdstoß gibt, drängen alle nach draußen. Viele Geschäftsleute und Firmenchefs haben dieses Problem erkannt. Sie haben daraufhin für ihre Angestellten Therapiestunden gebucht. Aber wir haben einfach keine Kapazitäten mehr frei.

O-Ton Myrtho 2/47:15 1. Sprecherin

Vor  dem Erdbeben träumte man in  Haiti von einem stabilen Haus mit dicken Zementwänden und einem Betondach. Jetzt wünschen sich die Menschen eher ein  Holzhaus mit einem leichten Dach. Vorher musste man reich sein, um sich in Haiti ein Haus finanzieren zu können. Plötzlich sind die leicht gebauten Holzhäuser der Bauern erstrebenswert.  2/57:57 Unser Hauptproblem ist allerdings derzeit  die Frage, wie bekommen wir so etwas wie eine soziale Stabilität wieder hin. Wie können wir alltägliche Verrichtungen wieder aufnehmen. Einfach Alltag wieder leben, in dem  die Kinder zum Beispiel  zur Schule gehen. Wo doch die meisten Schulen in Port-au-Prince eingestürzt sind. Wir werden sehr damit beschäftigt sein, die Leute zur Aufnahme ihres Alltagsleben  zu motivieren.

Autorin:

Haiti, ein Land, in dem sich seit dem Erdbeben vom 12. Januar vieles geändert hat, nicht nur das äußerlich Sichtbare:

O-Ton Myrtho 48:00 1. Sprecherin

Das ist vielleicht die Chance, die wir jetzt haben. So wie wir unsere Haltung Häusern gegenüber geändert haben, könnten wir auch andere Einstellungen verändern. Zum Beispiel die Art und Weise, wie bei uns in den Schulen unterrichtet wird. Altbacken, es wird zuviel auswendig gelernt. Oder die Einstellung, dass man unbedingt in der Hauptstadt Port-au-Prince leben musste. Inzwischen könnte ich mir auch vorstellen, aufs Land zu ziehen. Da ist es sicherer. So hat sich vieles geändert. Ich glaube, die Haitianer gehen seit dem  Erdbeben auch solidarischer miteinander um.

O-Ton Roselyne 49:49 2. Sprecherin

Ich habe kürzlich einen Mann getroffen der mir erzählte, er hätte seine Frau immer überbehütet. Sie arbeitete quasi gar nicht, er habe sich auch zu Hause um alles gekümmert.  Dann lag er  sechs Stunden unter den Trümmern. Und fragte sich, was wäre eigentlich passiert, wenn ich gestorben wäre? Er sagte mir, ich werde meiner Frau und auch meinen erwachsenen Kindern gegenüber meine Haltung ändern. Nächste Woche schon werde ich meinen Kindern alle meine Papiere zeigen und sie in meine Geschäfte einweihen.

O-Ton  Myrtho 2/33:40  1.Sprecherin

Wir werden zukünftig in Haiti sehr viele behinderte Menschen haben. Damit müssen wir umgehen lernen. 2/34:10 Hinzu kommen all die traumatisierten Menschen, denen man das erstmal nicht ansieht. Wenn man einen Behinderten sieht, weiß man gleich, dass da jemand ist, der Hilfe benötigt. Anders bei Traumatisierten, deren Reaktionen wir vielleicht erstmal nicht verstehen. Eine ganze Nation mit einem traumatisierten Volk, das wird ein großes Problem werden. 2/35:17  Also, ein traumatisierter Mensch braucht Zeit, um wieder klar zu kommen. Mit Hilfe wird es ihm leichter fallen. Wenn so jemand aber nicht geheilt wird, hat er viele heftige Rückfälle zu durchleben. Darunter wird seine Familie ebenso wie sein Beruf leiden. Das beeinträchtigt nicht nur ihn alleine, sondern die gesamte haitianische Gesellschaft.

Autorin:

So wichtig und gut die internationale Hilfe für Haiti ist – eins macht den beiden zur Fortbildung für einige Tage  nach Deutschland gereisten Traumatherpeutinnen  große Sorgen:

O-Ton Myrtho 2:33  1. Sprecherin

Eine der negativen Auswirkungen der internationalen Hilfe könnte sein, dass die Leute jegliche Verantwortung abgeben. Das bedeutet, die Menschen würden sich für nichts mehr verantwortlich fühlen. Sie würden immer irgendjemand anders für ihr Schicksal verantwortlich machen. Diktatoren, Schlägertruppen, Ausländer, Hilfsorganisationen, alle sind für das eigene Elend verantwortlich, nur man selbst nicht. Das lähmt. Wir müssen aufpassen, dass eine solche Haltung uns nicht zu Opfern macht. Opfer, die nicht mehr aktiv ihr Leben gestalten.