Stadtführung auf den Spuren der Berber

WDR5, OASE, 5.8.2011, Redaktion: Dr. Ingrid König

Die Großstadt – aus dem Blickwinkel eines Obdachlosen

Eine Stadtführung durch Köln der ganz anderen Art. Diesmal geht es zwar auch um Sehenswürdigkeiten, weder der Dom noch das Römisch-Germanische Museum werden ausgelassen, doch sie alle werden unter einem besonderen Aspekt betrachtet: Einmal aus der Sicht des Stadthistorikers und Publizisten Martin Stankowski, einmal aus der seines Reisebegleiters,  des ehemaligen Obdachlosen Reiner Nolden.

O-Ton Martin Stankowski Also wir stehen hier an einer Plastik.  Das ist der griechische Gott Dionysos. Der sich hier wie auf einer Raketenabschussrampe aus der Erde herausschraubt und dann in einer sehr verzückten, verquirlten Körperform das Füllhorn des Weins in der Hand hält. Das ist ja der Gott des Rausches, des Vergnügens, des Überflusses….( langsam ausblenden und nächsten O-Ton schon überblenden)

 

O-Ton Reiner Nolden Berber Wiederum hat dieser Platz auch ne Kehrseite. Und zwar Mitte der 90iger Jahre war hier unten ein großer Lagerplatz. Wo die Junkies und Punker ihre Platte machten. Hier war eine riesengroße Gruppe, ich schätze mal 20, 25 Leute waren es wenigstens gewesen. Die das hier als ihren Plattenplatz benutzt haben. Und die Stadt ist dann her gegangen und haben diesen Platz komplett ausgespritzt. Ich will mal sagen, unter Wasser gesetzt. Und haben damit diese Platte für diesen Personenkreis vernichtet.

Autorin: Schon sind wir mittendrin, in den beiden parallel nebeneinander existierenden  Welten:  Die des 67 Jahre alten Bürgers Martin Stankowski und die des zehn Jahre jüngeren ehemaligen Berbers Reiner Nolden.

 

O-Ton Reiner Nolden Ja, wir machen jetzt einen kleinen Rundgang durch die Stadt. Wo Martin Stankowski ihnen das Historische und Bürgerliche zeigt, an gewissen Stellen. Und ich zeige ihnen die Stelle, wie ich sie als Nichtsesshafter erlebt habe. Das ist praktisch ein zweiter Stadtplan.

Autorin: Früher, da war auch Reiner Nolden Berber, also Obdachloser. Gehörte zu den Menschen, die im Auftrag der Stadtverwaltung mit der Feuerwehrspritze aus der Innenstadt verjagt wurden. Die herumschlendernde Shopper bei einem Einkaufsbummel geflissentlich übersehen. Oder die – wenn – dann überhaupt nur naserümpfend zur Kenntnis genommen werden.

O-Ton Reiner Nolden Ich war anderthalb Jahre auf Platte. Platte sagt man dazu, wenn man draußen schläft. Die Platte ist der Schlafplatz des Obdachlosen.  Damals hab ich mich geschämt, wie nur was. Immer. Das ist jetzt gute zwölf Jahre her. Das Kapitel ist für mich abgeschlossen. Ich werd das nie vergessen, dass ich das durchgemacht habe.

Atmo Musik

 

Autorin: Drei Dutzend interessierte Bürger sind dem Aufruf von „Stattreisen“ und der Obdachlosenzeitung „Draußenseiter“ gefolgt. Sie wollen durch einen geführten Stadtspaziergang  mehr über den Alltag von Obdachlosen  erfahren Und welche Rolle dabei die historischen Gebäude spielen. Zum Beispiel der Kölner Dom.

O-Ton-Martin Stankowski Der Roncalliplatz hat eine lange bewegte Geschichte. Wie der Dom ja auch. Im 12. Jhd. errichtet, nachdem die Kölner die Knochen der Hl. 3 Könige in Mailand geklaut hatten. Und die ja eine der Hauptattraktionen sozusagen des abendländischen Politik und Verständnisses war. Und ungeheure Massen an Pilgern in die Stadt gebracht hat. Der Haupteingang  war hier auf der Südseite. Alle berichten, 8fach tief gestaffelt saßen die Bettler hier vor dem Domhaupteingang, genau hier, wo wir hier drauf schauen, auf den Roncalliplatz und hatten Bettelplätze, die sie sogar vererben konnten. Die wurden zum Heiratsgut der Töchter geschlagen, heißt es in einer historischen Quelle. Und erst in den letzten Jahren gibt es hier keine Bettler mehr am Dom.  2:38 Und das find ich eigentlich einen Skandal, weil es also auch nicht nur ein Armutszeugnis für eine Gesellschaft ist, die nicht mehr aushält, dass gebettelt wird, jedenfalls so wie´s hier Jahrhunderte lang üblich war, sondern auch ein völlig unhistorisches Verhalten.

O-Ton Reiner Nolden Ja. Betteln. Ne ganz schwierige Sache. Die bei mir erst mal sehr viel Überwindung gekostet hat. Weil, als ich hier gestrandet bin, ich war ja total aus dem sozialen Netz raus und wollte ja, auch weiterleben. Also war ich auch gezwungen zu betteln. Und Flaschen zu sammeln. Nur ich habe mich nie getraut. Wenn man hier durch die Stadt geht sieht man sehr viele Leute die betteln, die sitzen da und haben en Schild vor sich oder nur en Becher oder so. Die machen Sitzung, sagen die dazu. Das ist deren Bettelart. Die Sache hab ich mich nie getraut, weil ich mich dafür geschämt habe wie nur was. Ich hab mich auch nie getraut hier durch die Innenstadt zu gehen. Ich bin die Seitenstraßen gegangen und habe im Vorbeigehen die Leute angesprochen, habe gefragt, ob se nicht ne Kleinigkeit für einen Obdachlosen hätten. Weil, ich wollte nicht auffallen.

 

Autorin: Reiner Nolden ist wegen familiärer Probleme, mehr will er hierüber nicht sagen, von zu Hause abgehauen, hat von einem Tag zum anderen sein altes Leben hingeschmissen.

O-Ton Reiner Nolden Also. Ich kam ja total unbedarft hier hin. Von nix ne Ahnung. Und hab nur sehr schnell mitgekriegt, Bahnhof ist ein heißes Pflaster. Und da ich sowieso verunsichert war, ängstlich, mich geschämt habe, war der Bahnhof für mich tabu. Ich war also keiner, der sich um den Bahnhof rum umgehalten hat. Weil ich das vom Erzählen gehört habe.

Martin Stankowski: Was haste denn konkret gehört?

Nolden Vertreibung. Viele Kontrollen. Aggressivität.

Martin Stankowski Aggressivität von wem?

Reiner Nolden Untereinander. Unter den Leuten, die sich hier aufhielten. Und um dem aus dem Weg zu gehen war für mich generell Bahnhof tabu.

Autorin: Reiner Nolden hatte trotzalledem Glück. Er hat schnell kapiert, dass es ein heiliges Gebot aller Obdachlosen gibt.

O-Ton Reiner Nolden Nie die Platte verraten.

Martin S:  Wo war denn, heute kannste es ja erzählen.

Nolden: In Nippes hatte ich meine Platte gehabt.

Martin S: Mal genauer.

Nolden:  Äussere Kanalstrasse.  Und da in der Schrebergartenanlage drin. Ich hatte mich anfangs sehr viel in dem Park auf ner Bank aufgehalten. Bin so mal mit nem älteren Herrn ins Gespräch gekommen. Und dann sägt der, weißte wat Jung, da hinten dat Häuschen, dat is von mir. Aber dat wird irgendwann im Herbst wird dat abgerissen. Wenn de willst, kannste  da rein gehen. Ja. Da hab ich meine Platte gehabt. Bis dass ich eines Abends zurück kam und es war noch kein Herbst, aber der Bagger war schon da und das Häuschen war platt.

Martin S :Und deine Sachen weg.

Reiner : Meine Sachen weg. Alles ?? Nur noch was ich anhatte, sonst nichts mehr. Da war die Platte platt.

Atmo Musik

 

O-Ton Martin Stankowski Natürlich sollen solche Exkursionen durch die Stadt sie auch weiterbilden. Und deswegen machen wir jetzt Station am Römisch-Germanischen Museum.Auf der einen Seite die Bauhütte des Doms, eine ununterbrochene Bautätigkeit seit über 800 Jahren. Und hier diese Sakropharge. Ein Sakropharg ist ja eigentlich ein steinerner Sarg.

O-Ton Reiner Nolden Die Kehrseite dieses Platzes ist, so schön überdacht, hier hat also ne ganz grosse Gruppe von Obdachlosen gelagert. Ich hab´s selber nie gesehen, ob es stimmt, die Sarkophage waren damals noch offen gewesen. Da waren diese Deckel noch nicht drauf. Angeblich haben die Leute sich auch schon mal zum schlafen da rein gelegt. Es waren garantiert 40, auch 50 Leute, die hier gelagert haben. Die man aber denn auch im Rahmen der Vertreibungspolitik,  gesäubert hat. Das Museum soll ja was darstellen. Und Obdachlose stellen halt nichts dar. Und die waren halt hier störend. Also mussten sie weg.

Autorin: Doch nicht jeder Bürger der Stadt ist nur damit beschäftigt, die Obdachlosen los zu werden. In den Bahnbögen, quasi unter der Hohenzollernbrücke liegt Gulliver, eine Anlaufstation für Obdachlose. In der sie duschen können, ihre Kleider waschen dürfen, Kaffee und auch Essen bekommen. An die für sie Post geschickt werden kann. Wo sie zur Toilette gehen können. Hier bekommen sie Shampoo, Handtücher, bei Bedarf einen sauberen Bademantel geliehen. Damit sie ihre Wäsche waschen können. Denn Kleidung zum Wechseln, die haben die wenigsten. Aber auch unorganisiert  und ohne großes Aufsehen zu machen, gibt es Plätze, an denen Berber, wie Reiner Nolden mal einer war, geholfen wird. Versteckt im Schatten des Domes, an eher weniger frequentierten  Orten

O-Ton Martin Stankowski Freitags abends, da steht hier ein VW-Bus, und da sind ein Ehepaar und schneiden Obdachlosen die Haare.

O-Ton Reiner Nolden So ab 3 Uhr versammeln sich hier etwa über den Daumen 40-50 Personen garantiert, da gibt´s also ne warme Suppe. Und eventuell dann noch mal nen Apfel oder ne Birne oder ne Banane dabei.

 

Autorin: Früher, bevor Reiner Nolden auf der Straße landete, nahm er Berber ebenfalls nicht wahr. Sie waren für ihn ein Nichts und ein Niemand. Inzwischen geht er mit einem anderen Blick durch die Stadt:

O-Ton Reiner Nolden Ich seh die Menschen ganz anders. Mir fällt eher was auf. Bilde ich mir auf jeden Fall ein. Teilweise achte ich schonmal dadrauf, was ham die Leute bei sich, wenn se durch die Stadt gehen. Wenn einer schon mit einer größeren Reisetasche rumläuft, hat eventuell auch noch einen dicken Mantel mit einer Kapuze an , und es ist nicht allzu kalt, dann sag ich mir hat, ein normaler Touri hat das nicht.

 

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Autorin: Der kleine Ausflug in eine andere Welt geht zu Ende. Zurück bleibt Reiner Nolden, der längst wieder sesshaft geworden ist. Und ein nachdenkliches Publikum, das eine andere Stadtgeschichte als die sonst übliche erzählt bekam

O-Ton Martin Stankowski Also ich darf mich bedanken, dass sie uns so lange zugehört haben.

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