WDR5, Scala, KrimiService, März 2018 Finn und Parks

Brad Parks A.J.Finn Window

Diesmal hatte ich tief, abgundtief in die Psychokiste gegriffen. Ich hatte zwei US-amerikanische Krimis mitgebracht, die an Spannung nichts zu wünschen übrig liessen – ohne dass einem gleich die Kugeln nur so um die Ohren fliegen. Dafür gab es Nervenkitzel vom Feinsten.

Brad Parks: „Nicht ein Wort“, Thriller, Fischer-Verlag, Erscheinungstermin 22.2.2018. 14,99 Euro, Übersetzt aus dem Amerikanischen von Irene Eisenhut, 490 Seiten
Hier wird nicht lange gefackelt, hier geht es gleich rein ins Epizentrum des Tornados, der dann 490 Seiten lang tobt. Und wie! Richter Sampson, seine Frau Allison und die 6-jährigen Zwillinge Emma und Sammy führen ein unspektakuläres aber glückliches Familienleben. Bis zu dem Mittwochnachmittag um 15:28, als Richter Sampson von seiner Frau eine SMS bekam:
Einspieler: „HALLO, hab leider vergessen, dir zu sagen, dass die Kinder heute Nachmittag einen Arzttermin haben. Hole sie gleich ab“.
Diese SMS war ein Fake. Denn Allison hat die Kinder nicht abgeholt, geschweige denn diese Botschaft geschickt. Sam und Emma wurden entführt. Und damit beginnt ein Alptraum, der einfach kein Ende nimmt. Und all die schönen Dinge im Leben dieser bis dahin unscheinbaren Familie beendet: die gemeinsamen Schwimmnachmittage, die rituellen Schmuse-Seancen der Kinder, all die Kleinigkeiten, die den Alltag ausmachten. Stattdessen verlangen die Entführer von Richter Sampson, er solle sich genau an ihre Anweisungen halten und keine Polizei einschalten. Sie wollen kein Geld, sie verlangen, dass er seine Urteile nach ihren Anweisungen spricht. Sampson hat keine Ahnung, worum es den Entführern geht. Während er und Allison vor Sorge und Verzweiflung kaum klar denken können, muss er die Fassade aufrechterhalten. Vor aller Welt so tun, als wäre auch das absurdeste Urteil, dass er gerade gefällt hat, durchaus vertretbar. Damit bringt er sich um Ansehen ja beinahe auch um seinen Job. Bis dann die Anweisung in einem Verfahren kommt, bei dem es um Millionen und Abermillionen geht. Und er endlich versteht, was man von ihm will.
Wird er sich darauf einlassen, wird er, um das Leben seiner Kinder zu retten, ein ungerechtes, nicht zu vertretendes Urteil sprechen, das ihn um Kopf und Kragen bringen wird? Wie weit wird er gehen, um seine Kinder zu schützen?
Ein Krimi, der all das enthält, was zu einem grandiosen Coup gehört. Pfeffrige Handlungsstränge, das brutale Zerbröseln von einst normalem Leben. Die genaue Beschreibung von zwei Menschen, die von jetzt auf gleich außerhalb jeglicher Legalität stehen und zu allem bereit sind. Dazu das Schweigen, über alles, was gerade geschieht und nur ja nicht nach außen dringen darf. Für den Leser kaum auszuhalten.
Der Autor lebt wie seine Protagonisten in Virginia. War lange Journalist bei der Washington Post. Für vorherige Krimis hat er alle drei großen Krimipreise der USA eingeheimst.

 

 

A.J.Finn: „The woman in the window“, blanvalet, 12.3.2018, Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch Christoph Göhler, 541 Seiten, 15 Euro
US-Debut der Meisterklasse. So überdurchschnittlich in der Sprache, der Entfaltung eines grandiosen Plots, der langsamen Enthüllung dessen was geschah. Hitchcocks „Fenster zum Hof“ neu erzählt. In der Rolle des von James Stewart gespielten Fotoreporters Jefferies, Anna Fox. Eine kaputte, tablettenabhängige Alkoholikerin, die in einer großen Villa lebt, ihre Nachbarn mittels eines Kamerateleskops beobachtet und agoraphob ist. Das heißt, sie kann ihr Haus nicht verlassen. Bekommt allein bei dem Gedanken daran Platzangst. Sei über einem Jahr geht das schon so. Seitdem irgendetwas Schreckliches passiert ist, was dazu führte, dass ihr Mann Ed und ihre Tochter Livvie irgendwo anders leben, dabei aber fast täglich mit ihr telefonieren. An sich schon eine Ausgangssituation, die bei dem Leser Neugierde weckt. Diese Neugierde steigert sich allerdings, je länger die Geschichte erzählt wird. Denn Anna Fox bekommt eines Tages Besuch von ihrer Nachbarin Jane, Mutter von Eethan, einem pubertierenden Sohn. Die beiden Frauen verbringen einen netten Abend. Doch dann geschieht das Unglaubliche: Anna Fox sieht durch ihr Kamerateleskop wie ihre neue Freundin kurz darauf in dem Haus gegenüber plötzlich blutend mit einem Messer im Bauch zusammenbricht. Fox alarmiert die Polizei. Doch die wimmelt ihre Schilderungen ab. Denn bei Janes Familie scheint alles in Ordnung. Niemand nimmt Anna Fox so richtig ernst, vollgedröhnt mit Tabletten und Alkohol wie sie ihren Tag verbringt. Ihr Psychiater meint, manche der verordneten Medikamente könnten Halluzinationen hervorrufen. Sie habe sich das alles nur eingebildet. Vor allem, wo Eethans Eltern beide, sein Vater Allistar und seine Mutter Jane, im Beisein der Kripobeamten versichern, nichts sei geschehen. Hier stehe sie doch, die angeblich mausetote Jane. Dabei weiß Anna Fox genau, diese Jane, die sich da als Eethans Mutter ausgibt ist nicht die Jane, deren Ermordung sie miterlebte. Und die sie besuchte und so nett mit ihr plauderte und Schach spielte. Bis zuletzt bleibt offen, ob Fox sich all das nur einbildete oder ob es wirklich geschah. Die Lösung ist in jeder Hinsicht ein genialer Streich, das ganze Buch ragt aus dem herkömmlichen Krimiangebot heraus. Wird derzeit in 38 Sprachen übersetzt. Verfilmt. Und vom Verlag durch eine riesige Marketingcampagne gepusht. Zurecht ein Bestseller.