Fred Vargas: Der Zorn der Einsiedlerin in WDR 5 Scala 30.10.2018

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Fred Vargas, Scala-Beitrag für den 30. Oktober 2018 über das am 29.10. bei Limes erschienene Buch: „Der Zorn der Einsiedlerin“

Fred Vargas at it’s best. Die französische Historikerin und Archäologin – gleichzeitig Erfolgsautorin mit den absurdesten Plots, hat mal wieder ein Meisterwerk geboren. Ihre Fans werden begeistert sein. Ich habe jedenfalls erleichtert aufgeatmet. Für mich schwächelte Vargas bei ihrem letzten Krimi „Das barmherzige Fallbeil“. Doch das ist vorbei. Vargas hat zu alter Form zurückgefunden. Seit gestern ist „Der Zorn der Einsiedlerin“ im deutschen Buchhandel – und schon steigt der Krimi rapide die Bestsellerlisten hoch. Leichtfüßig. So leichtfüßig, wie Kommissar Adamsberg, der Protagonist mit den absonderlichsten Gedankengängen, aus einem Nichts einen Fall macht. Diesmal wird aus einem Spinnenstich ein ganzes mörderisches Universum

Sprecher : Adamsberg saß auf einem Felsblock der Hafenmole und sah den Fischern von Grímsey zu, wie sie von ihrem täglichen Fang zurückkehrten, anlegten, die Netze hochzogen. Hier auf der kleinen isländischen Insel nannte man ihn „Berg“. Seewind, 11 Grad, Sonne leicht verhangen, es stank nach Fischabfällen. Er hatte vergessen, dass er noch vor einiger Zeit Kommissar der Brigade criminelle im 13. Arrondissement von Paris gewesen war, an der Spitze von siebenundzwanzig Beamten. Sein Telefon war in ein Häufchen Schafköttel gefallen, und das Tier hatte es ohne böse Absicht mit einem akkuraten Huftritt noch hineingedrückt. Was eine beispiellose Art war, sein Handy zu verlieren.

Autorin:  Die Idylle währt nur kurz. Paris ruft. Ein Fischer überbringt dem Kommissar ein Telegramm:

Sprecher : Frau mit dem Auto überrollt. Ein Ehemann, ein Geliebter. Nicht so einfach. Anwesenheit erwünscht. Weitere Informationen folgen.

Autorin: Also muss Adamsberg im neuesten Krimi von Fred Varqas: „Der Zorn der Einsiedlerin“ zurück, muss sein isländisches Fischerdorf verlassen. Er tut es so ungern, dass der Aufprall des Fahrwerks auf dem Rollfeld von Roissy-Charles-de-Gaule bei ihm augenblicklich eine Migräne auslöst. Paris, die große steinerne Stadt, ist ihm fremd geworden. Und dennoch: der Mord, dessentwegen ihn seine Equipe zurückgerufen hat aus dem isländischen Paradies, ist leicht gelöst. Zumindest für jemanden wie Adamsberg, der quer denkt und oft einfach in den Wolken schwebend hart auf den Boden zurückprallt – um dabei das Ganze zu entwirren und den aufgebrachten Leser zu beruhigen.

O-Ton Vargas (1/ 5-0:35 Fred C’est le but…) Sprecherin Vargas: Das ist doch das Ziel eines Krimis. Uns zu trösten. Das Zentrale eines Krimis ist die Beschäftigung mit der Gefahr und der Lösung. Ich bin immer davon ausgegangen, dass der Krimi die älteste Literaturform der Welt ist. Dass selbst die prähistorischen Menschen sich darüber unterhielten, dass eine Gefahr lauere und man überlegte, was nun zu tun sei. Indem man eine Lösung dadurch findet, dass man sich eine Geschichte erzählt, schöpft man Mut, um den morgigen Tag anzugehen. Denn der Mensch kann nicht überleben, ohne sich Geschichten zu erzählen.

 Autorin: Die französische Krimiautorin Fred Vargas ist scheu, lebt zurückgezogen in Paris, in der Nähe ihrer Zwillingsschwester. Soviel ist über sie bekannt. Und dass sie eigentlich Archäologin ist, Historikerin. Im Jahr 2007 gab sie mir eines ihrer letzten Interviews. Seitdem hörte man nichts mehr von ihr, während ihre Bücher weltweit Millionen von Lesern fanden. Und das, so erklärte sie damals: weil der Krimi für sie eine Romanform ist, die die Leser tröstet:

O-Ton Vargas (1/5-1:30 Fred) Und das ist auch der Grund, weshalb ich meine Romane glücklich enden lasse. Wobei es viel schwieriger ist sich ein glückliches, denn ein finsteres Ende auszudenken.

Autorin: Genauso ist „Der Zorn der Einsiedlerin“ gestrickt. Erst kommt die Gefahr, dann wird sie gebannt. Wenn auch nicht immer vonseiten der Polizei. So schleichen sich denn bei der Suche nach dem Mörder der von einem Auto mehrfach überfahrenen Frau zunächst auf samtenen Pfoten drei Tote ein, ältere Herren, wohnhaft in der Nähe der südfranzösischen Stadt Nîmes, die am Gift einer Einsiedlerin-Spinne gestorben sind. Was theoretisch unmöglich ist, wie ein Experte Adamsberg erklärt:

Sprecher : Um ihre drei Männer umzubringen, hätte es schon an die zweihundert Spinnen gebraucht. Oder sechzig bis siebzig Spinnen pro Mann.

Autorin: Adamsberg ist nicht der Mann, der vor einer Spinne zurückschreckt, und so forscht er nach: Wer waren die drei Todesopfer? Was hatten sie miteinander zu tun? Wie könnte man an das Gift von so vielen Einsiedlerspinnen kommen?

Über 500 Seiten lang gibt Adamsberg auf Geheiß seiner Autorin nicht auf. Beißt sich fest. Wie bei allen ihren Büchern ist es schwer, den Inhalt zu beschreiben. Zu absurd hört er sich an. Und auch Fred Vargas selbst weiß, dass es nicht der Rahmen der Geschichte ist, der ihre Fans fasziniert, sondern die Skurrilität der Gesamthandlung, das absurde Gebahren ihrer Protagonisten, das Unglaubliche des Ablaufs – all das, was sich zu guter Letzt dann doch als logisch herausstellt.

O-Ton-Vargas: 1 / 3-1:41 Fred UUh, vous savez, quand on raconte…Sprecherin Vargas: UUUH, wenn man die Geschichte erzählt, hört sie sich dermaßen bescheuert an. Die Geschichte ist schon wichtig, aber eigentlich geht es um die Art, wie man sie erzählt. Der Stil macht sie aus. Wenn ich sie ihnen also zusammenfassend erzählen würde bliebe nichts als eine etwas blödsinnige und banale Geschichte übrig.

 Autorin: Genauso ist es diesmal auch. Die Geschichte, tja, sie ist banal und dennoch geheimnisvoll. Was sie eigentlich ausmacht sind die Wortspiele und Fantasien, mit denen Fred Vargas sie vorantreibt. Ihre kruden Gedankensprünge, die kaum nachvollziehbaren Versatzstücke, die sich zu einem logischen Ganzen zusammenfügen. Und wo der Leser zweifelt, hadert Adamsbergs Equipe schon lange. Zu abwegig sind diesmal des Kommissars Ideen, zu wenig nachvollziehbar die Spur, der er folgt. Und Mord, nein den sieht niemand in dem Tod der drei alten, von Spinnen gestochenen Männer.

Adamsberg bleibt stur, stochert und bohrt – und stößt auf eine Gemeinsamkeit zwischen den Toten: Sie alle waren als Kinder in einem Waisenhaus und dort Mitglied einer Jugendbande.

Der Sohn des ehemaligen Waisenhausleiters erinnert sich an das Unwesen, dass diese Jungs damals trieben. Kurioserweise mithilfe von Einsiedlerspinnen.

Sprecher 1: Sie schlichen nachts nach draußen und hatten nur die Qual der Wahl, um ihre Viecher aufzutreiben: auf dem Dachboden, in den Wirtschaftsgebäuden, in der Scheune, im Holzstall, im Geräteschuppen. Im Sommer gab es immer ziemlich viele Spinnen. Wie man herausgefunden hat, lockten sie sie mit toten Insekten, die sie gesammelt hatten, vor allem Fliegen und Grillen, die sie an einer geeigneten Stelle auf dem Boden ausbreiteten. Wissen Sie, dass die Einsiedlerspinne verrückt ist nach Insektenkadavern.? Dann wählten sie ihre Opfer aus, und sobald es dunkel wurde, steckten sie dem Kind die Spinne ins Hemd oder in die Hose. Und was geschehen sollte, geschah. Sobald die Spinne sich in die Enge getrieben fühlt, beißt sie zu.

 Autorin: Hat all das, vor langer langer Zeit geschehen, was mit den toten Männern zu tun? Oder geht bei Adamsberg mal wieder die Fantasie durch? Seine Recherche schleicht vor sich hin und schleppt, wie in einem Fangnetz so nach und nach  Kinderschänder und Massenvergewaltiger hinter sich her.  Trotz aller Brutalität, der Adamsberg da auf der Spur ist, verliert die Sprache von Vargas nichts von ihrer Leichtigkeit, nicht von ihrem unterschwelligen Humor, ihrer liebevollen, nicht verletzenden Ironie. Ganz nach ihrem Motto:

 O-Ton Vargas: 1/5-1:53 Fred Si on veut etre reconforter   Sprecherin Vargas: Wenn man getröstet werden will, muss man zuvor weinen. Wenn man beruhigt werden will, muss man zuvor ängstlich gewesen sein. Das ist das Prinzip.

 Autorin: Genau nach diesem Prinzip ist auch „Der Zorn der Einsiedlerin“ gestrickt. Erst das Desaster, dann die Trösterei. Und plötzlich ist auch Adamsbergs Pariser Brigade wieder mit von der Partie. “Der Zorn der Einsiedlerin“ spart nicht an Abwegen und kaum nach vollziehbaren Rückschlüssen. Zieht hinein, in einen Sog von platzenden Gedankenperlen, deren Inhaltsleere Adamsberg und damit Fred Vargas mit Verve zu füllen verstehen.  E N D E