Das möglichst intensive Leben des Lion Feuchtwanger, wdr5, Scala, 30.11.2018

Einer der bekanntesten Schriftsteller des 20. Jahrhundert, Lion Feuchtwanger, hielt nichts vom Tagebuchschreiben. Und tat es dennoch. Seine Notizen aus 34 Jahren sind jetzt  im Aufbau-Verlag unter dem Titel: „Ein möglichst intensives Leben“ erschienen. Ich habe mich an die Lektüre der intimen, nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Aufzeichnungen gemacht – und fühlte sich zeitweilig  unbehaglich, war aber auch fasziniert.

 

Sprecher: Den Sylvesterabend auf dem Maskenball der „Philharmonie“ verbracht. Trotzdem an Stimmung und an begehrenswerten Frauen kein Mangel war, hab‘ ich mich gelangweilt.

 

Autorin: Mit dieser Notiz beginnt der 21-jährige Student Lion Feuchtwanger am 1. Januar 1906 sein Tagebuch. Den letzten überlieferten Eintrag macht er 34 Jahre später in Sanary-sur-mer. Da ist er längst ein weltberühmter, aber von den Nazis verfemter Schriftsteller, aus Deutschland geflohen. Der nun befürchtet, in Südfrankreich inhaftiert zu werden:

 

Sprecher:  Sanary 20. Mai 1940: In aller Früh bei herrlichem Wetter die Nachricht erhalten, dass ich wieder nach Les Milles muss. Vorbereitungen. ….

 

Autorin: Zwischen beiden Einträgen liegt ein halbes Leben – und was für ein Leben! Es ist genauso geworden, wie es sich Lion Feuchtwanger als junger Mann in einer Tagebuchnotiz gewünscht hat: Möglichst intensiv! Aus dem unsteten Studenten von einst wurde einer der meistgelesenen Schriftsteller seiner Zeit, seine Romane, darunter „Jud Süß“ oder „Die Geschwister Oppermann“, in zahlreiche Sprachen übersetzt.

Nichts hat er ausgelassen, dieser Tausendsassa, dieser Lebemann, der den Frauen und dem Spiel bis zur Selbstzerstörung verfallen war. Seine jetzt im Aufbau-Verlag zum ersten Mal herausgegebenen Tagebücher zeugen von einem Menschen, der alles mitnahm, was sich ihm bot. Aber auch wirklich alles.

 

 

 

 

Sprecher:

Berlin 19. März 1906: Nachmittags mit Ria zusammen gewesen. Sie war lieb. Ich küsste sie: aber sie roch aus dem Mund.

  1. Mai: Nachmittags bei jener Dirne in der Kreuzstraße gewesen. Ihr Geliebter war bei ihr. Die Polizei suchte ihn. Er floh durch das Fenster. Sehr interessant.

 

Autorin: So schreibt niemand für die Öffentlichkeit. So ohne jeglichen Vorbehalt. Schrankenlos. Sich selbst entblößend. „Ein Tagebuch? Nein“, sagte der 47-jährige Feuchtwanger 1931 dem „Berliner Tageblatt“, nein daran schreibe er nicht. Es war gelogen. Denn schon damals notierte Feuchtwanger seit Jahren die alltäglichen Kleinigkeiten, die abwegigsten Gedanken, Boshaftigkeiten über seine Freunde, seine sexuellen Exzesse, seine Geldnöte, seine Spielsucht. Das Ergebnis sind keine ausformulierten, für die Nachwelt niedergeschriebenen literarischen Ergüsse, sondern lückenhafte Randnotizen. Per Zufall gefunden im kalifornischen Nachlass seiner letzten Sekretärin.

Nur etwa 50 Prozent seiner Notizen wurden in den 640 Seiten dicken Band aufgenommen. Äußerungen, die sich ständig wiederholten, der Lesbarkeit halber gestrichen. Von rund 750 erwähnten „gevögelt“ z.B. blieben 100 übrig. Von rund 650 „gehurt“, nur 40 – heißt es im Editorial.

 

Sprecher:  4.August 1909.  Mein ganzes Hab und Gut, all meine Bücher usw. verspielt. Nun aber den festen Entschluss gefasst, keine Karte mehr zu berühren.

  1. August 1910: Meine Vorsätze natürlich nicht gehalten.

 

 

 

 

Autorin: Seine Spielsucht hat ihn bis ins Exil verfolgt. Ein Exil, das mit einer Reise durch Amerika beginnt, über die er am 11. Januar 1933 seinem Tagebuch anvertraut:

 

Sprecher: Lunch mit Chaplin…. Chaplin ist hingerissen von meinen Ideen über einen Hitlerfilm. Abends lange Autofahrt nach Pasadena zu Einstein. Ganz nett. Einstein redet ziemlich wenig und selbstgefällig. Er ist furchtbar saturiert.

 

Autorin: Während Feuchtwanger in den USA weilt, besetzen SA Truppen sein Haus in Berlin, konfiszieren sein Auto, sein Vermögen, seine Manuskripte und seine Schreibmaschine. Feuchtwanger flüchtet zunächst in die Schweiz.

 

Sprecher: Lugano 7. April 1933: Ungeheure Flut von Dreck und Beschimpfungen in der volksdeutschen Presse.

 

Autorin: Von da aus machen sich seine Frau Marta und er auf in Richtung Marseille, mieten eine Villa in Sanary-sur-mer. Dort trifft er all seine Berliner Kumpels wieder, die großen Schriftsteller jener Zeit. Brecht und Zweig. Die Manns. Schickele, Huxley, Kisch. Man lebt gut, amüsiert sich auf Cocktailpartys und Picknicks. Bis sich die Deutschen auch Frankreich nähern.

 

Sprecher: 17. März 1938: Im Ort Panik wegen bevorstehendem Krieg. Zweifel, ob und wann man nach Amerika soll. … Der Kater Linglang krank.

 

Autorin: Die Lage spitzt sich zu. Dennoch genießt Feuchtwanger noch immer das Baden im Meer. Seine diversen Liebschaften. Streitet sich mit seinen Frauen. Einer seiner letzten Einträge in sein Tagebuch lautet:

 

Sprecher: 16.September 1939: Furchtbar schlecht geschlafen. Auf Polizei gerufen, zusammen mit anderen Deutschen, die noch hier sind. Ich muss morgen ins Konzentrationslager. Inschrift in dem Polizeilokal: Bienvenue tous.

 

Autorin: Ob damit seine Tagebücher enden oder ob er nach seiner Emigration in die USA bis zu seinem Tod 1957 an ihnen weiterschrieb, ist ungeklärt. Die jetzt veröffentlichen Notizen jedenfalls erlauben einen ungefilterten Blick auf das Innenleben eines weltberühmten Schriftstellers, der sich noch niemals zuvor so ehrlich und so selbstzerstörerisch gezeigt hat.

Ob es ihm recht gewesen wäre, dass nun sein Intimstes der Öffentlichkeit preisgegeben wird? Wenn nicht, dann hätte er sie vernichten müssen, diese Dokumente eines intensiv gelebten Lebens.

 

ENDE