Liebe in Zeiten des Hasses, WDR 3, Leselust, 8.11.2021

WDR 3 Lesestoff
„Liebe in Zeiten des Hasses“ von Florian Illies

Weltgeschichte erzählt am Beispiel von Liebesspielen, sexuellen Freiheiten und erotischen Ausschweifungen? Florian Illies, bekannt durch seinen Bestseller „1913“, macht genau das in seinem neuen Werk „Liebe in Zeiten des Hasses – Chronik eines Gefühls 1929 – 1939“. Eine Rezension von Ingrid Müller-Münch

 

Buchangaben:
Florian Illies: Liebe in Zeiten des Hasses – Chronik eines Gefühls 1929-1939
S. Fischer, 432 Seiten, 24 Euro

 

Anmoderation:

Weltgeschichte erzählt am Beispiel von Liebesspielen, sexuellen Freiheiten und erotischen Ausschweifungen? Der Journalist, Kunsthändler und Bestsellerautor Florian Illies macht genau das in seinem neuen Werk „Liebe in Zeiten des Hasses – Chronik eines Gefühls 1929 – 1939“. Illies ist eine schillernde Figur in der deutschen Literatenszene. Erstmals bekannt wurde er 2011 durch die Darstellung der „Generation Golf“. Später dann durch sein Buch „1913. Bilder vor der Apokalypse“. Für seine jetzt erschienene literarisch verarbeitete Dokumentation „Liebe in Zeiten des Hasses“ hat er akribisch zwei Jahre lang recherchiert. Es hat sich gelohnt meint Ingrid Müller-Münch in ihrer Rezension.

Beitrag:

Autorin: Bertold Brecht heiratet Helene Weigel – und holt unmittelbar nach dem Jawort eine seiner Geliebten vom Berliner Bahnhof ab. Jean-Paul Sartre fiebert seinem ersten Rendezvous mit Simone de Beauvoir entgegen – während sie ihn in einer Pariser Teestube einfach sitzen lässt. Henry Miller leidet darunter, dass seine Frau June ihre Geliebte Mara Andrews in die gemeinsame New Yorker Wohnung eingeladen hat – und er, der Ehemann, seine Kissen zusammenpacken und aufs Sofa ziehen muss.

Es ist die Zeit der Weltwirtschaftskrise, der Verzweiflung aber auch der Exzesse. Vor allem ist es die Zeit sexueller Freizügigkeit.

Sprecher:  Erich Mühsam vergisst oft, dass er verheiratet ist. Nicht, dass er seine Zensl nicht liebt, nein, das nicht. Er liebt sie schon. Also: vor allem ihren Charakter.

Autorin: Es geht wild zu, damals Ende der 1920er Jahre. Schon schwankt der Boden der Weimarer Republik. Vielleicht lebt deshalb die Bohème in den Metropolen Paris, New York, Wien oder Berlin so, als gäbe es kein Morgen mehr.

Sprecher: Niemand hoffte 1929 noch auf die Zukunft. Und niemand will an die Vergangenheit erinnert werden. Darum sind alle so hemmungslos der Gegenwart verfallen. 

Autorin: Florian Illies hat patchworkartig diese Zeit in seinem gerade erschienenen Werk „Liebe in Zeiten des Hasses“ zum Leben erweckt. Ungeniert und voller Insiderwissen schleicht er sich vor allem an das damalige Berliner Intellektuellen-Milieu heran, hangelt sich von Episode zu Episode, lässt uns abtauchen in Szenen der Liebe, der sexuellen Hörigkeit, der Exzesse und des Verstoßenwerdens. Und erweckt dadurch eine Epoche zum Leben, die gerade auch anderweitig Furore macht: In Kinofilmen wie „Fabian“ oder „Die Schachnovelle“, in TV-Serien wie „Babylon Berlin“.   

Sprecher: Die Berliner Jahre um 1930 sind, so der legendäre Tennisspieler Gottfried von Cramm, die schönsten seines Lebens. Während Sigmund Freud sich in diesen Tagen aus Wien mit den Worten meldet: Die Sexualität gehört zu den gefährlichsten Betätigungen des Individuums.“

Autorin: Die Frauen in der großstädtischen Künstlerszene Ende der 1920er Jahre sagen sich los von Kinderkriegen, Hausfrauenlangeweile und Ehegattinnen-Alltag. Sie wählen ihre Sexualpartner aus, betrügen, tauschen und verlassen sie. Dabei tragen sie Bubikopf. Verdienen eigenes Geld. Scheren sich nicht um Konventionen. So wie eine damals bekannte Tänzerin und Schriftstellerin, die laut Florian Illies diese Zeit aufs trefflichste verkörperte.

Sprecher: Ruth Landshoff rast durch die zwanziger Jahre wie in einem Rausch, mit wechselnden Bekanntschaften, wechselnden Automobilen, wechselnden Schoßhunden. Erika Mann verliebt sich in Therese Giehse. Während Gustav Gründgens zur Eröffnung einer Herrenbar mit seinem neuen Freund Carl Forcht, dem ehemaligen Geliebten von Klaus Mann, im Smoking erscheint, Forcht im Abendkleid.

Autorin: Mit dieser schrankenlos ausgelebten Toleranz ist ab 1933 Schluss. Das Romanische Café in Berlin hört schlagartig auf zu vibrieren, und niemand wagt es mehr, in endlosen Debatten die Welt zu zerstören, zu retten und neu zusammenzusetzen. Vorbei ist es mit offen gleichgeschlechtlicher Schmuserei. Der Umbruch ist radikal. Niemals zuvor wurde der Umschwung von den „roaring twenties“ hin zu den staubtrockenen, gefährlich verklemmten Nazis derart eindringlich anhand von Zeugnissen so vieler selbst Betroffener dargestellt.

Wie bei einem Puzzle ergibt sich erst nach und nach in dieser sprachlich berührenden Dokumentation das Bild des dramatischen Niedergangs einer Epoche am Beispiel von Liebe in Zeiten der uneingeschränkten Toleranz, mündend in Hass, Flucht, Armut und Verzweiflung. Ein ungewohnter Blick, aus dessen Winkeln heraus Illies Weltgeschichte dokumentiert und der Frage nachgeht; Was wird eigentlich aus der Liebe in derartigen Zeiten?

Ein ganz besonderes Werk, Ergebnis einer hemmungslosen Recherche. Gleichermaßen verstörend und faszinierend.

 

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