Neue Krimis auf Scala, es geht um zerstörte Kinderleben – jeweils auf andere Weise

 Ein Dorf verschwindet unter den Wassermassen eines Stausees – und überspült die verschwundenen Kinder der Ortschaft. Ein Campingplatz entpuppt sich als Ort des Horrors und der sexuellen Gewalt – und wird zu spät entdeckt.

Olivier Norek: „Das versunkene Dorf“, Blessing, 14,3.22, 383 Seiten, Übersetzt aus dem Französischen Alexander Hölscher,18 Euro

Mir war das schon immer unheimlich. Wann immer ich am Ufer des Lac de Sainte Croix stand, schlug meine Fantasie Wellen. Der Stausee in der Haute-Provence war 1973 mit dem Wasser des Verdon geflutet worden und hatte das einstige Dorf Les Salles sur Verdon komplett unter sich begraben. Was alles verbarg sich da bloß unten auf dem Wassergrund?

Der französische Autor Olivier Norek hat in einem Krimi, der in seiner Heimat mit einem der höchsten Literaturpreise, dem Prix Maison de la Presse, ausgezeichnet wurde, sich genau dieses Themas angenommen – und meine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Seine elegisch erzählte Geschichte beginnt mit einem Schuss, der Kommissarin Noémie Chastain bei der Festnahme eines Drogenbosses mitten im Gesicht traf. Seitdem ist sie entstellt, kaum jemand wagt sie noch direkt anzuschauen. Und die Pariser Kollegen haben nichts Besseres zu tun, als sie in die Provinz abzuschieben. Genauer gesagt in das im Süden Frankreichs entlegene Örtchen Avalone. Hier geschieht eigentlich nie etwas. Und ihre Aufgabe ist es Belege dafür zu finden, dass die dortige Polizeistation eingespart werden kann.

Doch es kommt ganz anders. Denn Avalone, sie ahnen es schon, ist ein etwa 25 Jahren künstlich geschaffener Ort, am Ufer eines Stausees gelegen, der ihr altes Dorf damals überschwemmte. Und unter dem Wasser so manches Geheimnis begrub. Eines davon wird allerdings eines Tages. Es ist die verweste Leiche eines Kindes. Aufgestiegen aus den Gemäuern des versunkenen, alten Avalone.

Einspieler:  Alte Gebäude leben. Ob überflutet oder nicht, sie reden nachts, knirschen, reiben und ziehen sich zusammen oder wieder auseinander. Unter Wasser spürt man die Geräusche eher, als dass man sie hört. Die akustischen Wellen sterben kurz nach ihrem Entstehen, werden zu klanglosen, erstickten Vibrationen. Sollten die alten Steinmauern eine Botschaft haben?

Das Gerede beginnt. Plötzlich stellt sich heraus, dass damals, als alle ihre Häuser räumen mussten und in ihre neuen Unterkünfte zogen, drei Kinder verschwanden. Sie seien entführt worden, hieß es. Und der Täter wurde auch gleich benannt. Er verschwand ebenso wie die Kinder am gleichen Tag.

Die an die Wasseroberfläche aufgestiegene Kinderleiche, so ergibt ein DNA-Abgleich, ist eines der Kinder. Aber wo, in aller Herrgottsnamen, sind die beiden anderen. Denn entführt wurden sie ja offenbar nicht. Noémie Chastain bleibt also in Avalone und widmet sich der Vergangenheit des Dorfes, die die Fluten so nach und nach preisgeben.

Eine schaurige aber auch berührende Geschichte, über eine Frau, die sich ins Leben zurückkämpft, während die Toten, die sie birgt, so nach und nach ihre Geheimnisse preisgeben.

 

 

 

Jan Costin Wagner: „Am roten Strand“, Galiani Berlin, 10-3-22, 22 Euro, 300 Seiten

Im nordrheinwestfälischen Lügde lebte ein Mann auf dem Campingplatz Eichwald. 2018 flog auf, dass er mit weiteren Kumpanen dort in seiner Holzhütte und seinem Wohnwagen über Jahre Kinder sexuell missbraucht hatte. Und genau dieses Szenario hat Jan Costin Wagner in seinem neuen Krimi an den roten Strand in der Nähe von Wiesbaden verlegt. Dort hat soeben der Ermittler Ben Neven einen Mann erschossen, der einen kleinen Jungen entführt und missbraucht hatte. Das Opfer konnte befreit werden, der Schütze wird im Kommissariat als Held gefeiert.

Doch die Sache ist damit nicht beendet. Denn ein erster Toter aus einem Pädophilen-Netz im Internet führt sie auf die Spur weiterer Täter. Biederer Familienväter, die sich an den eigenen Enkelinnen vergehen und die gerade mal 5jährigen Mädchen Kumpels zum Missbrauch ausleihen. Ein fürchterliches, ein ekeliges Thema, mit dem sich die Kommissare Ben Neven und Christian Sandner befassen müssen. Stunden, Tage, Wochenlang müssen Videos ausgewertet werden, die die Täter über ihre Vergehen drehten. Offenbar ihrer Sache sicher und gewiss, dass niemand ihnen auf die Spur kommen wird.

Doch da scheint jemand sie genau zu kennen, ihre Gewohnheiten ausspioniert zu haben, und dann, jeweils auf unterschiedliche Art, sich an ihnen zu rächen, sie zu töten. Ben Neven und Christian Sandner haben nun die zwiespältige Aufgabe, genau jene zu schützen, die sie eigentlich als Täter verfolgen und vor Gericht bringen müssen. Wie nah sie selbst am Geschehen sind, wird deutlich. Und dass es zwar einen Helden im Kommissariat gibt, der aber ein schweres, düsteres Geheimnis geradezu verzweifelt zu verbergen versucht. Vor sich selbst, seiner Familie, seinen Kollegen. Denn wenn es gelüftet würde, wäre es um ihn, um sein Leben, seine Karriere geschehen.

Mit knappen Episoden, kurzgeschnittenen Sequenzen, straff erzählten Geschehnissen mit wechselnden Protagonisten schafft Wagner eine Atmosphäre der Düsternis und des Unfassbaren. So unfassbar, wie die seinerzeitigen Missbrauchsfälle von Lügde, von denen die beiden Haupttäter soeben zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden. 12 + 13 J anschließend Sicherungsverwahrung.