Wie brutal dürfen Krimis sein? WDR3, Gutenbergs Welt, 9.4.2022

Das ging definitiv zu weit. Ich erinnere mich noch genau an meine Reaktion, als „Der Vogelmann“, der erste Krimi der britischen Autorin Mo Hayder, 1999 auf Deutsch erschien. Ein dicker Schinken, groß angekündigt vom Verlag. Mit Ekel und Abscheu quälte ich mich damals durch die im Detail beschriebenen Folterszenen, die mich abschreckten und dazu führten, dass ich das Buch nie ganz zu Ende gelesen habe.

Damals stand ich nicht alleine da mit meiner Fassungslosigkeit darüber, dass so etwas Bestandteil eines Krimis war. Kollegen reagierten ebenso empört auf die brutalen Morddetails, in denen der Todeskampf der serienweise umgebrachten Prostituierten minuziös beschrieben wurde. Für den „Spiegel“ zum Beispiel läutete die Story durch ihre ausufernde Wiedergabe von Folter, Verstümmelung und Leichenschändung eine neue Dimension in der angelsächsischen Literatur ein.

Auch für mich begann mit diesem Buch ein neues Zeitalter. Mit Mo Hayders Schwelgen in brutalen Details wurde für mich eine Grenze überschritten. Dabei war sie nur der Höhepunkt einer sich schon länger anbahnenden schrankenlosen Darstellung von Gewalt, die das Töten manchmal geradezu genussvoll ausfeilte. Doch nie zuvor wurde derart selbstverständlich eine Grenze überschritten: Die des Erträglichen, des Auszuhaltenden, des Notwendigen für den Verlauf der Geschichte.

Schon vor Mo Hayder wurden Krimi-Opfer abgeschlachtet, ertränkt, vergewaltigt und getötet, missbraucht oder brutal hingerichtet. Nach ihr, so, als hätte sie eine Schleuse geöffnet, brutalisierten sich Autoren aller Provinienz mit der Zeit geradezu um die Wette: da wurde das Opfer mit der Partydroge Rohypnol gefügig gemacht, entführt und – der Leser als Zuschauer hautnah dabei – zu Tode gequält, in Jauche ertränkt, gehäutet, kopfüber an einem Baum erhängt. Oder wie der deutsche Autor Jan Seghers in seinem 2017 erschienenen Krimi “Menschenfischer“:

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Der Mörder hatte dem Jungen die Kehle durchgeschnitten, ein Stück Fleisch aus dem Oberschenkel entnommen und ihm die Hoden abgetrennt. Vor seinem Tod war das Kind geschlagen und gewürgt worden – vermutlich bis zur Bewusstlosigkeit .

 

 

Die detaillierte Darstellung eines grausamen Mordes erfüllt dann ihren Zweck, wenn sie für den Verlauf des Plots unabdingbar ist, ein bestimmtes Milieu charakterisiert, die Szenerie anders nicht nachvollziehbar wird. Doch wenn sich bei der Beschreibung eines Mordes völlig ohne jeglichen Zusammenhang im Blute gesuhlt wird, will der Autor schockieren, lediglich um des Schockierens willen. Dann wird das Ganze zu einem absurden, sadistischen Theater.

Wer einen Krimi zu Hand nimmt, erwartet nichts anders als Mord und das Abtauchen in eine Welt des Bösen. Das steckt im Genre drin. Aber auch hier gibt es Abstufungen: Der schlichte Detektivroman mit seiner Suche nach dem Mörder, der eher einer Schnitzeljagd gleicht. Oder aber – das andere Extrem – die Hardcorevariante, bei der es häufig um psychisch kranke Serientäter; um mafiöse Strukturen; um Flüchtlingsschleuser geht; um Menschen, traumatisiert, die sich an denjenigen rächen, von denen sie einst geschändet wurden.

Die Qualität eines Krimis hängt nicht davon ab, wie einfallsreich, brutal oder sensationsheischend jemand getötet wird. Manchmal reicht eine Andeutung, um die Fantasie der Leser und Leserinnen anzukurbeln. So wie es Jan Costin Wagner in seinem neuesten Krimi „Am roten Strand“ tut. Als sich ein Kommissar dafür rechtfertigen muss, dass er auf der Suche nach dem Entführer eines kleinen Jungen einen Mann erschoss, der einen Koffer in der Hand hielt und tatsächlich der gesuchte Täter war.

 

„Ich wusste sofort, dass in dem Koffer der Junge ist. Dass es um Sekunden gehen könnte“ Und das stimmt auch, denkt Ben. Es ist die reine Wahrheit. „Ich bin raus aus dem Auto und einfach gelaufen. Dann habe ich gesehen, dass neben dem Mann und dem Koffer eine Grube ausgehoben worden war.“

 

Mehr braucht es nicht, um klar zu machen, worum es geht. Ein Beispiel das  zeigt, wie wenig es bedarf, um Fantasie anzukurbeln. Genau deshalb sind für meinen Geschmack Krimis interessant, bei denen die Motivation hinter der Tat im Vordergrund steht. Bei denen der Mord nur ein Mosaikstein unter vielen ist, um den sich zwar alles dreht, der aber interessantes Beiwerk zu bieten hat. So beim mysteriösen Verschwinden eines Menschen; der vor Jahrzehnten verübten Tat, die wieder hochkocht und für Aufruhr sorgt; dem Ermittler – selbst abgrundtief beschädigt – der sich durch ein Dickicht an Fallstricken wühlt; dem politisch motivierten Fenstersturz, hinter dem eine feindliche Macht steckt. .

Dieses Genre befasst sich mit dem Schleifen des wohl stärksten Tabus in unserer Gesellschaft: dem Umbringen eines Menschen. Und eine der Faszinationen bei der Lektüre eines Krimis dürfte sein, dass er etwas bietet, was es tatsächlich im wahren Leben nicht gibt: eine in sich abgeschlossene Welt, die einen Anfang und ein Ende hat. Im günstigsten Fall eine abgerundete Geschichte, mit einer entweder beruhigenden oder verstörenden Lösung. Aber immerhin einer Lösung, die die Sache zum Abschluss bringt.

Jedenfalls ein Kontrastpunkt zum wahren Leben, wo es immer weiter gehen kann mit Gewalt, Horror und Mord.

 

E N D E