Von der Karibik hin zu einer deutschen Großstadt – überall wird heftig mit Gut und Böse jongliert.

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Ein deutscher Kommissar entpuppt sich als schwach. Ein Kollege auf den Antillen legt das Gesetz freizügig aus. Welten liegen zwischen den beiden Krimis, die Ingrid Müller-Münch heute im Gepäck hat. Doch in beiden wird heftig mit Gut und Böse jongliert.

Wo genau beginnt ein Mensch, der offiziell zu den Guten gehört, ins Böse hin abzugleiten. Beide Autoren, so unterschiedlich sie auch sein mögen, ranken ihre Krimis um diese Frage. Die fiktive Insel Camaho ähnelt stark der karibischen Insel Grenada, auf der Autor Jacob Ross geboren ist. In seinem Krimi „Shadow Man“ versuchen seine Protagonisten Digger Digson und Miss Stanislaus in der zweiten Folge dieser Reihe die Waage zu halten zwischen dem, was Böse ist, und dem, was ein guter Mensch tut, um genau dieses Böse zu jagen.Während der deutsche Erfolgsautor Jan Costin Wagner in seinem gerade erschienenen Krimi “Einer von den Guten“ Kommissar Ben Neven in der dritten Folge auftreten lässt. Wobei er zum ersten Mal ein Doppelleben seiner Hauptfigur outet, das Ben Neven definitiv für die Rolle des Guten disqualifiziert.

 Jan Costin Wagner: „Einer von den Guten“, Galiani-Verlag Berlin, 17.8.2023,             23 Euro, 3. Folge der Ben Neven Reihe

 

Der Leitende Kriminalkommissar Ben Neven ist definitiv einer von den ganz Guten. Er jagt das Böse, spürt Verbrecher auf, entlarvt Mörder, verhaftet Kriminelle. Doch dann ihm geschieht etwas, das eigentlich nicht geschehen darf: Er wird zu einer Sonderkommission berufen, die gerade dabei ist, ein großangelegtes Pädophilen-Netz auszuheben. Die Schlagzeilen sind eindeutig, ein Dreckspack, wer sich an Kindern vergeht. Und auch seine Frau ist fassungslos:

 

Zitat: Svea legt eine Hand auf seinen Arm, schmiegt sich an ihn. „Stell dir das doch mal vor.“ „Was?“ „Dass so jemand in deinem Haus lebt. Einige von denen sind verheiratet, oder?“ „Ja“, sagt er. Sein Magen krampft sich zusammen. „Das sind Monster“, sagt sie. „Ihr müsst die alle finden“.

 

Kommissar Ben Neven hört sich das alles an, tut so, als würde er sich mit Eifer an der Jagd nach den Männern beteiligen, die zuhause Frau und Kind haben, ein unauffälliges Leben führen, dabei jedoch auf geheimen Internetkanälen oder bei clandestinen Treffen Kinder missbrauchen.

 

Dabei ist Neven, der ja nach außen hin definitiv zu den Guten gehört, innerlich zerrissen. Auch er führt ein Doppelleben, offiziell ist er liebevoller Familienvater, erfolgreicher Kommissar. Doch einmal wöchentlich überfällt es ihn. Das Gefühl, unbedingt dieses Verbotene tun zu müssen. Da setzt er sich in sein Auto, fährt weit weg von zu Hause und trifft sich mit Adrian, einem 13-jährigen Stricher.

 

Zitat: Der Junge ist da, wartet auf der Schwelle zur Siedlung, neben dem grauen Basketballfeld, vor den Hochhäusern. Er trägt das blaue T-Shirt, das er meistens trägt. Die graue Jogginghose. Bens Blick streift die Uhr. Die unausgesprochene Vereinbarung gilt. Immer derselbe Tag, zur selben Zeit.

 

Keiner weiß hiervon, Niemandem kann er sich anvertrauen. Dabei platzt ihm geradezu das Fell, hält er sein Doppelleben kaum noch aus, weiß nicht wohin mit sich und seinem Drang. Er geht auf Messers Schneide, ertrinkt in Schuldgefühlen und Vertuschungsausreden. Weiß um die Konsequenzen, die eine Entdeckung seines Doppellebens haben würde.

 

Zitat: Am Morgen ist Ben wieder Ermittler. Wieder im Dienst nach seinem freien Tag. “Wenn du magst, kannst du dich reinlesen und dann mit Maren reingehen.“ Ben sitzt allein in dem großen Raum, an dem Konferenztisch, allein mit der Akte von Pfarrer Bernd Dreher. Er liest. Die Akte enthält Bilder der Jungen, die Dreher, den Angaben dieser Jungen zufolge, missbraucht hat. Die meisten waren Messdiener in seiner Gemeinde. Dann sitzt Ben ihm gegenüber. Dem Pfarrer. Ben kneift die Augen zusammen, versucht, sich zu konzentrieren.

 

Lange hält er die zwei Welten, in denen er sich bewegt, nicht mehr aus. Ihn zerreißt es innerlich. Er kann nicht mehr. Muss sich endlich einmal jemandem anvertrauen.  Hofft auf Gnade, Verzeihen, Verständnis. Stattdessen kommt es zum Supergau.

Für den Leser gehört Ben schon längst nicht mehr zu den Guten. Jan Costin Wagner lässt das Desaster mit niedrigem Gang anrollen, gibt irgendwann ordentlich Gas und schlittert, den zu den Guten zählenden Ben Neven im Schlepptau, geradewegs ins Bodenlose. Schaurig das Ganze. Trostlos. Unabänderlich. Hervorragend, hinterlistig und gemein – ein absolutes Krimi-Muss.

 

 

 Jacob Ross: „Shadow Man“, Suhrkamp, 17. Juli 2023, 16,95 Euro, Übersetzt aus dem karibischen Englisch von Karin Diemerling, 460 Seiten

 

Zitat: Fünf Tage, nachdem ich einen Polizisten wegen Trunkenheit am Steuer und noch viel Schlimmerem verhaftet hatte, erschoss Miss Stanislaus, meine Partnerin beim San Andrews CID, einen Mann namens Juba Hurst – den Mann, der sie als Kind vergewaltigt hatte. Der Ärger, den ich mir mit der Festnahme des Kollegen eingehandelt hatte, war nichts im Vergleich zu dem, was sie erwartete. Und auf keinen Fall würde ich sie die Folgen allein ausbaden lassen. So bin ich nunmal, Michael Digger Digson. Ich bin so gepolt.

Genauso ist er, dieser junge Forensiker Digger Digson. Aufrecht, manchmal zaudernd, aber immer mit der Nase die Spuren erschnüffelnd. An seiner Seite Miss Stanislaus, Ermittlerin bei der Polizei von Camaho, einer fiktiven Insel der kleinen Antillen, von dem auf Grenada geboren Autor Jacob Ross zwischen Venezuela und Martinique angesiedelt. Sechs Wochen Zeit gibt der hiesige Justizminister den Beiden, um zu klären, ob Miss Stanislaus ihren ehemaligen Vergewaltiger in Notwehr erschoss oder kaltblütig ermordete.

 

Zitat: Miss Stanislaus‘ forsche Schritte erklangen hinter mir, ich roch ihr Limette- Lavendel-Muskatnuss-Parfüm, als sie neben mich trat. Ihr meergrünes Kleid wurde perfekt durch passende Schuhe und eine Handtasche ergänzt, ihre Haare waren zu einem glänzenden Knoten aufgesteckt. Sie hatte eine Hand in dem Täschchen, aus dem sie ebenso flink ein Taschentuch wie ihren geliebten Ruger-Revolver hervorziehen konnte, den sie Miss Betsy nannte.

 

Digger und Miss Stanislaus mischen Camaho ordentlich auf in den sechs Wochen, die ihnen für ihre Recherchen bleiben. Und in deren Gefolge es weitere Tote gibt.  Ebenso wie Ereignisse, die die Insel zum Beben bringen. Ihre Vorgehensweise ist nicht unbedingt political correct, aber ausgesprochen wirksam. Beide arbeiten unkonventionell, bäumen sich auf gegen ein korruptes System, spielen mit Lügen, Verschweigen, gleiten weitab von Recht und Ordnung bis hin zu einem schlüssigen Finale. Und entdecken Labore, in denen ein verflucht gefährliches Zeug hergestellt wird. Gift, Kokain, was auch immer. Stoff, für die geplante neue Kokain-Route, die über Camoha hinweg führen soll.

 

Zitat: Vor fünf Wochen ist ein schwarzer Katamaran spätnachts in Beau Séjour gelandet und hat eine Ladung Kokainbase gelöscht, die aus Venezuela stammte. Zweck war es, das Zeug auf Camaho zu verfeinern und dann woanders zu verschiffen.

 

Genau das wollen Digger Digson und Miss Stanislaus verhindern. Autor Jacob Ross hat das Flair seiner Heimat eingefangen. In Sprache, in Gestik, in Gewohnheiten und Traditionen. Gewürzt mit Sternäpfeln, Meertrauben, weißfleischigen Guaven. Spicy und köstlich, dabei gleichermaßen düster und angepflaumt. Voller Humor angesichts von zwei Ermittlern, die sich gegenseitig abstoßen, ergänzen, aufs Höflichste maltraitieren, dabei ohne einander nicht können. Beide traumatisiert. Überlebende sozusagen. Deshalb ist Vorsicht geboten. Eine Geschichte, so saftig wie ein überreifer Granatapfel, dabei so komisch wie Unbeholfenheit sein kann. Ein wundervoll bunt flatterndes Setting, eine auf ungewohnte Weise amüsante Story vor einem brutalen, frauenfeindlichen, menschenunwürdigen Umfeld.

E N D E