Zwei Frauen, eine aus Island, die andere Italienerin, ähneln sich sehr in ihrer inneren Zerrissenheit.
Am 21.11.2023 habe ich folgende zwei Krimis auf WDR5, Scala, vorgestellt: Gianrico Carofiglio: „Groll“, Folio-Verlag, 12. 9. 2023, 25 Euro, Übersetzt aus dem Italienischen von Verena von Koskull
+ Satu Rämo: „Hildur – Die Spur im Fjord“ Heyne, 16 Euro, Übersetzung aus dem Finnischen von Gabriele Schrey-Vasara, 360 Seiten, 11.Oktober 2023
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Egal ob in Mailand oder in den isländischen Fjorden – das Leben von zwei Frauen ähnelt sich. Auch wenn die Umstände und die Vergangenheiten der beiden Protagonistinnen gänzlich unterschiedlich sind. Ihre innere Zerrissenheit wirkt in dem neuen Krimi des Italieners Gianrico Carofiglio „Groll“ ebenso prägend wie in dem Krimidebut der in Island lebenden Finnin Satu Rämä „Hildur – Die Spur im Fjord“. Hildur findet seit 25 Jahren keine Ruhe, während Carofiglios Staatsanwältin Spada erst vor Kurzem aus der Bahn geworfen wurde. Beide Frauen kämpfen, behaupten sich, geraten immer wieder aus der Spur.
Autorin: Penelope Spada, einst Staatsanwältin und vor langer Zeit erfolgreiche Sportlerin, lebt zurückgezogen. Ihren Beruf musste sie aufgeben, ein tragisches Ereignis hat ihre Karriere beendet. Alkohol und Zigaretten sind ihre derzeitigen Begleiter.
Gianrico Carofiglio, der ehemalige Anti-Mafia-Staatsanwalt aus dem italienischen Bari, begibt sich in seinem neuesten Krimi „Groll“ auf ein Terrain außerhalb des Gerichtssaales. Seine Protagonistin ist genau auf diesem Spielfeld gescheitert. Inzwischen ist sie ganz unten in einer zwielichtigen Mailänder Kaschemme angekommen.
Sprecherin: Wenn ich meine Mandanten (sie so zu nennen fällt mir noch immer schwer) in Diegos Bar treffe, komme ich etwas früher, um noch ein bisschen mit ihm zu plaudern, wenn er nicht zu beschäftigt ist. Diegos hinterer Gastraum ist praktisch mein Büro. Dorthin verirrt sich so gut wie nie jemand, selbst die Stammkunden wissen kaum, dass es ihn gibt.
Autorin: Ihr altes Leben vermissen – das bringt Penelope Spada nicht weiter. Und von irgendwas muss der Mensch ja leben. Obwohl sie gar keine Anwalts- und auch keine Detektivlizenz mehr hat, lauscht sie in eben diesem Hinterzimmer eines Tages einer eher unscheinbaren jungen Frau, die behauptet, ihr stinkreicher Vater sei ermordet worden. Obwohl alles, aber auch alles dagegenspricht. Ein Arzt hat den Tod ihres Vaters als Herzinfarkt diagnostiziert. Die um 30 Jahre jüngere Ehefrau, die allen Grund gehabt hätte, ihren Mann zu töten, befand sich in einem Wellnesshotel. Und auch sonst findet sich weit und breit niemand, der ein Motiv hätte.
Ach so, vielleicht noch die Ex-Frau, die in dem Testament, dass der Tote vor seinem Ableben verfasst hatte, so gar nicht mehr bedacht wurde.
Penelope Spada hat fast ein schlechtes Gewissen, als die Tochter des Toten sie bittet zu überprüfen, ob ihr Vater nicht doch ermordet wurde. Aussichtslos ist dieses Unterfangen, honoriert wird es gut. Also was soll’s, ein bisschen rumrecherchieren kann ja nicht schaden. Doch als endlich der Name des Toten fällt, horcht Penelope Spada auf.
Sprecherin: Sollte ich sofort klarstellen, dass ich mich in meiner Zeit als Staatsanwältin gewissermaßen mit ihrem Vater befasst hatte? Was war korrekter? Oder sollte ich sie darüber erst informieren, nachdem ich mir ihre Beweggründe, mich aufzusuchen, angehört hatte? Sollte ich sie einfach unterbrechen und sagen, ich könnte (oder wollte?) diesen Fall nicht übernehmen, ganz gleich, was dieser Fall war?
Autorin: Buchstäblich bis zur letzten Seite, wirklich erst ganz am Schluss wird enthüllt, ob der Tod des superreichen alten Vaters ein normales oder ein durch fremde Hand herbeigeführtes Ableben war. Bis dahin bestimmen Spadas Hin- und Hergerissensein, ihr ungewöhnliches neues Leben, das Terrain. Denn Carofiglio ist ein Meister darin, nicht gleich auf den Punkt zu kommen, erst ein wenig in die Details zu gehen. Den Bogen zu spannen, ohne den Pfeil abzuschießen. Gut, all dies wird nach und nach erledigt und zwar aufs Feinste. Denn im Kleinen, im Sinnieren – darin ist der Autor ein Meister seiner Klasse. Und wer immer sich in seine Hände begibt kann darauf vertrauen, dass es sich lohnt.
Unterbrechungston
Autorin: Vom sonnigen Mailand aus geht es nun an die raue Atlantikküste Islands. Dort zu den Westfjorden, eine einsame Gegend, die zwar ein Fünftel der Gesamtfläche Islands ausmacht, wo aber nur zwei Prozent der Bevölkerung lebt. Ein dort spielendes Krimidebut hat es in die isländischen Charts geschafft, geschrieben von einer jungen Finnin – bislang Sachbuchautorin und Bloggerin – die nach Island gezogen ist. Satu Rämö hat in ihrem Krimi „Hildur – Die Spur im Fjord“ eine Frau erschaffen, die ihren größten Schmerz einfach nicht los wird. Weder durch Surfen im eiskalten Wasser der kleinen Gemeinde Islands, in der sie die Polizeichefin ist. Noch bei ihren ausgedehnten Joggingtouren, ihren Rückzügen vom Lebensalltag.
Sprecherin: Jeder Mensch musste von Zeit zu Zeit das Fundament berühren, das sein Leben aufrecht hielt. Für die Kriminalbeamtin Hildur war dieses Fundament das Surfen. Das Meer war unbeständig, und niemand konnte seine Bewegungen lückenlos vorhersehen. Das Wasser barg immer etwas Dunkles, Kaltes, ein Risiko, das sich nicht kalkulieren ließ und vor dem man sich deswegen in Acht nehmen musste. Das Spiel mit dieser Gefahr faszinierte Hildur, es war ihre Art zu leben.
Autorin: Als vor 25 Jahren ihre beiden kleinen Schwestern spurlos verschwanden, zerbrach etwas in ihr. Bis heute weiß sie nicht, was aus ihnen geworden ist, damals, als sie nach der Schule ihren Bus verpassten und sich zu Fuß auf den Weg durch einen Tunnel begaben. Dort verliert sich auf ewig ihre Spur. Und bis heute sucht Hildur, sucht und sucht und sucht.
Sprecherin: Hildur erinnert sich, dass im Fall ihrer Schwestern ein Suchhund eingesetzt worden war. Er hatte Witterung aufgenommen. Hildurs Mutter hatte am Küchentisch mit den förmlich wirkenden Polizisten darüber gesprochen. Hildur hatte sich im Nebenzimmer versteckt und das Gespräch der Erwachsenen durch den Türspalt mitgehört. Der Hund war zielstrebig aus dem Dorfzentrum zum Eingang des Tunnels gelaufen, der durch den Berg führte. Im Tunnel war er jedoch verwirrt gewesen, denn die Geruchsspuren hatten schlagartig geendet.
Autorin: Inzwischen leitet Hildur die polizeiliche Abteilung für vermisste Kinder und Jugendliche in den isländischen Westfjorden. Eines Tages sieht sie sich mit einer Folge von Todesfällen konfrontiert, die allesamt eines gemeinsam haben: Zunächst deutet alles auf Selbstmord hin. Doch dann entdecken die Spurensicherer in den Mündern der unterschiedlich ums Leben gekommenen Toten blonde Haare.
Hildur ist der Auftakt einer dreiteiligen Serie um diese Ermittlerin. Einer zerbrochenen Frau, die immer dann, wenn sie in ihrem Neoprenanzug auf den Wellen reitet, zu sich findet. Aber eben nur dann. Den Rest der Zeit spielt sie mit ihrem Leben, das seit dem Verschwinden der Schwestern für sie keinen Sinn mehr macht.
Ein überzeugendes Debut mit einer gespaltenen, getriebenen Protagonistin, die mit angehaltenem Atem die Leser virtuell auf den Wellen reiten lässt.