Chinesische Traumatherapeutinnen, Frankfurter Rundschau 20.6.08

szmtag
Die Zeit drängt, sagt Weili Wu und kämpft gegen die aufsteigenden Tränen an. Nun sei sie schon über zehn Tage unterwegs. „Das ist sehr, sehr lang.“ Zu Hause in Chengdu, der Millionenstadt mitten im chinesischen Erdbebengebiet von Sichuan, werde sie gebraucht. Dort rackern sich ihre Studenten ab, um den Erdbebenopfern zu helfen. Deswegen fühle sie sich schuldig, sagt Weili Wu und kann die Tränen kaum noch zurückhalten. Woraufhin Yuchuan Yang mitfühlend die Hand auf Wus Arm legt und Fan Li ihr ein Papiertaschentuch reicht.

Die drei Psychotherapeutinnen sind zur Fortbildung in ein Tagungshotel nach Hilden gekommen, einem Ort in der Nähe von Düsseldorf. Davor waren sie auf einem Kongreß über Traumatherapie in London. Bis zu ihrer Abreise nach Europa waren sie mit zuständig für die traumatherapeutische Versorgung der Erdbebenopfer in Sichuan.

Eine der drei, Weili Wu, lebt so gut wie mitten im Zentrum des Erdbebens. Als am 12. Mai der Boden zitterte, begann sie sofort Hilfe zu organisieren. Zuallererst schrieb sie einen Brief. Darin bereitete sie ihre als Helfer eingesetzten Studenten auf die Reaktionen vor, die Überlebende des Erdbebens zeigen würden: Übelkeit, Bauch- und Kopfschmerzen, Unruhe, Apathie, Überängstlichkeit. „Wir erklärten, dass dies nach einer solchen Katastrophe eine ganz normale Reaktion ist. Damit machten wir als Erstes aus diesem außergewöhnlichen Verhalten etwas Normales“, sagt Wu.

1500 Kilometer vom Epizentrum des Bebens entfernt, mitten in Peking, erfuhr die Psychotherapeutin Yuchuan Yang von der Katastrophe. Fünf Tage später landete sie mit 20 Kollegen in Mianyang, der Stadt, in der mehr als 19 000 Menschen verschüttet wurden. Zunächst trainierte sie etwa 80 örtliche Helfer in den Grundzügen der Traumatherapie. Doch die brauchten bald selbst Hilfe. Denn viele hatten sich zu Fuß, mit dem Fahrrad oder dem Moped bis nach Beichuan durchgeschlagen, hatten dort mit bloßen Händen Menschen aus dem Schutt ausgegraben. „Diese Helfer waren schrecklich traumatisiert.“

Ebenso die Krankenschwestern des örtlichen Krankenhauses. Als das Beben losging, befanden sich nicht wenige von ihnen im 11. Stock mitten in Operationen. Sie mussten ausharren, konnten nicht einfach Patienten auf dem OP-Tisch liegen lassen. „Manch eine junge Krankenschwester trug schwere ältere Patienten auf dem Rücken die elf Stockwerke runter, um sie draußen, außerhalb des Gebäudes, in Sicherheit zu bringen“, erzählt Yang.

„Gleich nach der Katastrophe hat unsere Regierung etwa 20 000 der Überlebenden im Stadion von Mianyang untergebracht.“ Viele Helfer stürzten sich geradezu auf diese Menschen. Nicht alle waren so geschult, wie Yang, Wu und Li. Vor drei Jahren haben die drei erstmals über „TraumaAid“, einer kleinen deutschen Non-Profit-Organisation, Fortbildung in Traumatherapie erhalten. Deren Mitbegründerin, die deutsche Fachärztin für Psychotherapie und Psychoanalyse, Helga Matheß, bot damals traumatherapeutische Ausbildung für Kollegen in Ländern an, die sich das sonst nicht leisten könnten. So auch in China.

Manche der Laienhelfer im Stadion von Mianyang versuchten die Überlebenden zu zwingen, das Erlebte wieder und wieder zu erzählen. „Wir fanden das ziemlich schlimm. Man musste doch den Menschen erst mal helfen, ihre eigenen Kräfte wiederzufinden“, empört sich Yang. Als geradezu beispielhaft erwähnt sie das Verhalten einer von ihr geschulten jungen Helferin, der die vielen Kinder aufgefallen waren, die sich seit dem Erdbeben nicht gewaschen hatten. Sie organisierte Wasser, ließ die Kinder planschen. „Sie hat die Opfer fühlen lassen, dass sie nicht nur Opfer sind, sondern menschliche Wesen“, lobt Yang.

Noch geht es im Erdbebengebiet von Sichuan ums schiere Überleben. Doch auch das muss erst wieder gelernt werden. Wu macht dies am Beispiel einer alten Frau deutlich, die ihre ganze Familie unter dem Schutt verlor. „Sie aß nicht mehr, schlief nicht mehr und sprach mit niemandem.“ Einige Helfer redeten ihr gut zu, meinten, das Leben ginge doch weiter. Aber damit konnte die Frau nichts anfangen. „Dann kam eine unserer jungen Traumahelferinnen, setzte sich zu der alten Dame, streichelte sanft ihren Arm und sagte zu ihr: Großmutter, könntest Du nicht ein klein wenig Wasser trinken? Das berührte die alte Dame und sie begann nach und nach wieder zu trinken, zu essen, zu schlafen und zu sprechen.“

Ein kleiner, zehnjähriger Junge ist Wu besonders in Erinnerung. Er wurde bei dem Erdbeben schwer verletzt. Seine Klassenkameraden waren umgekommen. Tagsüber im Krankenhaus sprach er nichts, bewegte sich kaum. Seine Eltern waren ratlos. Nachts hatte er schreckliche Alpträume, schrie ganz laut. „Das weckte natürlich die anderen Patienten auf.“ Wu bat ihn, ihr zu erzählen, ob es in den Wochen seit dem Erdbeben, nicht auch irgendetwas Positives gegeben hätte. Zögernd berichtete er, dass eine Klassenkameradin überlebt habe, auch in diesem Krankenhaus untergebracht sei und kürzlich auf dem Rücken ihres Vaters an sein Bett getragen wurde. „Also verabredeten wir, dass sein Vater ihn ebenfalls auf dem Rücken ans Bett des Mädchens tragen sollte. Und plötzlich strahlte er, wirkte erstmals wieder froh.“

Traumatherapie – auch in Deutschland noch eine junge Wissenschaft. In China ist der Umgang mit Menschen, die nach Katastrophen oder schweren Schicksalsschlägen den Weg in die Normalität nicht mehr alleine finden, noch so gut wie unbekannt. „Wenn man sich einmal vorstellt, dass so ein großes Land wie China nur über 34 nach westlichen Maßstäben ausgebildete Traumatherapeuten verfügt – das reicht einfach nicht“, meint Yang und fügt hinzu: „Wir brauchen viel mehr Experten, das hat das Erdbeben gezeigt.“

Trauma Aid e.V.
http://www.trauma-aid.org